Leeres Theater

Leeres T
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Heiner Müller: Träume, Witze, Atemzüge / Regie Dimiter Gotscheff
Trailer Leeres Theater

„Wenn die Diskotheken verlassen und die Akademien verödet sind, wird das Schweigen des Theaters wieder gehört werden, das der Grund seiner Sprache ist.“ - Heiner Müller in einem Brief an den Regisseur Dimiter Gotscheff, anlässlich der  bulgarischen Erstaufführung von „Philoktet“ in Sofia 1983.

 

Kein Drama

Theodor Mommsen war es unmöglich den vierten Band seiner „Römischen Geschichte“ über die Kaiserzeit zu schreiben. In diesem rätselhaften Versagen des großen Historikers spiegelte Heiner Müller nach dem Fall der Mauer seine eigene Schreibblockade: die Unmöglichkeit nach dem vermeintlichen Ende des Systemkonflikts zwischen Ost und West noch Stücke zu schreiben.
Nach seiner eigenen Einschätzung war das Verschwinden dramatischer und erst recht tragischer Konflikte aus der Geschichte, die Nivellierung ihrer vormals unauflöslich erscheinenden Widersprüche der Grund für diese Blockade – und für seine Krankheit. „Tragödien Schreiben: heilige Ein­falt“. Die großen unauflösbaren Widersprüche, die das Drama generieren, werden unsichtbar, der Sieg des Marktes über die Ideen und Werte, die er in seinen Dienst nimmt, setzt eine Fortschrittslogik in Gang, die nur eine Richtung kennt: Erfolg, der sich in Geld messen lässt. Müller: „Mittlerweile ist Geld der einzige Wert, auf den hin Orientierung realistisch oder sogar möglich ist. Der Ideenhimmel ist verbraucht. Es gibt nur noch Märkte, und dadurch entsteht eine ungeheure Leere.“ Und er fügte hinzu: „Die Frage ist, ob der Mensch das aushält.“ – Als Müller das schrieb, gab es noch keine Finanzkrise, die nun auch die Orientierung am Geld unrealistisch und vielleicht sogar unmöglich erscheinen lässt und die, wer weiß?, die Tragödienmaschine vielleicht wieder in Gang setzen könnte. – An die Stelle des Gegensatzes eines immer gefährdeten Kapitalismus und eines an Dirigismus und Bürokratie leidenden „real existierenden Sozialismus“ trat der alternativlos scheinende Monolith des globalisierten Kapitals. Dadurch schien auch Müllers Werk obsolet zu werden. Ein letztes Stück, das Heiner Müller sich dann doch noch abringen konnte: „Germania 3. Gespenster am toten Mann“, endet mit einem Zitat des Kosmonauten Juri Gagarin: „Dunkel ist der Weltraum, Genossen, sehr dunkel“. Auch der Planet Erde befindet sich im Weltraum. Wolfram Lotz, einer der wenigen neuen Dramatiker, die definitiv nicht hinter Müllers Einsichten zurückgefallen sind, hat diese „auf blinde Aktion und Kapitalbewegung“ reduzierte Erde und ihre Bewohner als „Weltraumschrott“ bezeichnet. „Wir sind Weltraumschrott.“ Der Satz trifft die zusammenhangslose Existenz von uns heutigen Marktteilnehmern vielleicht ganz gut. Atomisierte Individuen rasen durch einen leeren Raum voller Schrott, sie vertreiben sich die tote Zeit mit Witzen, träumen haltlos und sind ansonsten auf ihre unmittelbaren Lebensfunktionen zurück geworfen, letztlich auf das Atmen. „Was tun sie da? Ich atme! Es ist ja zunehmend eine Leistung zu atmen, das kann man durchaus ausstellen. Da ist einer, der atmet, mitten in der Stadt, das ist schon fast ein Kunstwerk.“

 

Weltraumschrott

Disparate Assoziationsreihen und Bruchstücke treten an die Stelle des kohärenten Dramas, wenn das Leben draußen nur noch von Markt und Geld bestimmt wird. Auch die Texte aus dem Spätwerk Heiner Müllers und Referenztexte aus einigen früheren Arbeiten, die Dimiter Gotscheff und das Ensemble seiner Inszenierung am Thalia Theater in den letzten Monaten unter dem Titel „Leeres Theater“ zusammengestellt haben, spiegeln diesen Prozess der Fragmentierung. Sie wenden sich gegen die „Lebenslüge des Zusammenhangs“ und schweißen doch gleichzeitig zusammen. Die Erfahrung, dass es gut tut, sich wieder mit Heiner Müller auseinander zu setzen, ist für einige der Beteiligten überraschend. Es geht zwar um nichts oder um das Nichts, wie bei Beckett, es geht tatsächlich um so etwas wie das Verschwinden im unendlichen Raum, aber Müller sucht auch nach einem Halt, nach einer Perspektive, die nicht dem Verschwinden ausgeliefert ist, und der Anker, den er findet, ist erstaunlicherweise genau dieses Verschwinden selbst: der Tod, das Sterben – und die Angst davor. Das verschwindet nicht.  „Das Wesentliche am Theater ist die Verwandlung. Das Sterben. Und die Angst vor dieser letzten Verwandlung ist allgemein, auf die kann man sich verlassen, auf die kann man bauen. Und das ist auch die Angst des Schauspielers und die Angst des Zuschauers. Und das Spezifische am Theater ist eben nicht die Präsenz des lebenden Schauspielers oder des lebenden Zuschauers, sondern die Präsenz des potentiell Sterbenden.“  Die fundamentale Verwandlung, die alle Lebenden noch vor sich haben, die Verwandlung „in unbedrohbaren Staub“, ist zu einem fast exklusiven Thema der Kunst geworden. Denn Marktwirtschaft funktioniert nur, wenn sie diese Verwandlung verdrängt. Müller: „Die Hauptfunktion der bürgerlichen Gesellschaft: die Verdrängung des Todes.“ Die Kunst und speziell das Theater scheinen dagegen vom Tod zu leben von seiner überwältigenden Problematik. Und darin besteht vielleicht ihre utopische Kraft. Das Thema der Marktwirtschaft ist der Erfolg, das Thema des Theaters ist der Misserfolg, den die Marktwirtschaft verdrängen muss. Der Tod ist der Misserfolg schlechthin, allerdings ein Misserfolg, den man zwar verdrängen, aber nicht verhindern kann. Dass sie auch den größten Misserfolg nicht zu verdrängen braucht, macht die Kunst überlegen – und eines Tages vielleicht auch wieder den Kommunismus, zumindest dann, wenn man bereit ist, die beiden von Heiner Müller zitierten „schönen Bemerkungen“ von Ilja Ehrenburg und Ernst Bloch zu verstehen, die die Tragödie mit dem Kommunismus nicht beenden, sondern beginnen lassen wollten: „Wenn der Kommunismus gesiegt hat und alle ökonomischen Probleme gelöst sind, beginnt die Tragödie des Menschen. Die Tragödie seiner Sterblichkeit.“ Und: „Der Kommunismus hat für den Einzelnen keine Hoffnung. Aber das ganze System der Marktwirtschaft beruht darauf, dem Einzelnen zu suggerieren, dass gerade er eine Hoffnung hat.“ Wenn es dem Theater gelänge, das Schweigen wieder hörbar zu machen, „das der Grund seiner Sprache ist“, und das „Dunkel, das uns blendet“ auf der Bühne sichtbar zu machen, bräuchten wir uns augenblicklich nicht mehr wie Weltraumschrott zu fühlen.  - Carl Hegemann



Premiere 24. Februar 2013, Thalia Gauß

PRESSESTIMMEN

„Anspruchsvolles Gedankentheater – Wunderbau gauklerische Momente“ - Hamburger Abendblatt

 

„Statt die Individualität der einzelnen Darsteller und ihrer Textpassagen einem "Regiewillen" zu opfern, gibt Gotscheff dieser Andersartigkeit nicht bloß Raum, sondern arbeitet sie heraus. Dafür achtet er darauf, dass alle Monologe nahezu gleich lang sind, sodass die herkömmliche Unterscheidung von Haupt- und Nebendarsteller ihren Sinn verliert. Auf diese Weise holt die Inszenierung über das Spiel ein, was sie als "Inhalt" verweigert. Dafür hat sie gute Gründe, denn alles andere hieße, exakt die Machtstruktur zu reproduzieren, die Müller als Quelle von Gewalt thematisiert. Im Gegenzug verschafft sie sich die Möglichkeit, unter widrigen historischen Bedingungen zu arbeiten, kreativ zu sein.“ - nachtkritik.de

 

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