Lauda
tio
Guten Abend! Hallo Nadin!
Vielleicht fängt es so an. Du sitzt in einem kleinen Dorf, zu Hause nach der Schule, und schaust auf MTV Videoclips. Bum Tschaka Bum. Videoclips ballern, sagst du. Britney Spears und Depeche Mode, Backstreet Boys und Coldplay. Was du da siehst, ist ein zukünftiges Versprechen. Ein Lebensgefühl, das du noch nicht kennst. Ein Versprechen für eine verschwenderische, anarchische, auf jeden Fall andere Lebensform. Du bist in der Provinz. Das Dorf ist klein. Ein Leben wie in Bullerbü. Als ihr – deine Familie – zugezogen seid, gab es ein kurzes Upgrade für die Zukunft. 100 Einwohner. Seitdem Tendenz fallend. Mit dem Schulbus geht es über die Dörfer. Tag für Tag eine kleine Harzreise.
Ab und zu geht es in die Stadt, in die Metropole nach Osterode, da, wo du einst als Kind Nena in der Stadthalle gesehen hast und nach drei Liedern wusstest, das ist es nicht. Irgendwie, irgendwo, irgendwann muss es noch was anderes geben. Aber damals wusstest du das noch nicht. Deine Familie hatte ein altes Haus gekauft. Es gab immer was zu tun.
„Gestaltung, Umgestaltung / Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung“, wie es bei Goethe heißt.
Du mochtest die Fahrten in den Baumarkt. Die Materialien.
Die Folien, Steine und Schläuche in den Regalen bereiteten dir Vergnügen. Überhaupt Handwerkliches. Eher abstrakt als konkret.
Auf die Frage, was du mal werden willst, wusstest du keine Antwort. Ein Freund deiner Familie hatte ein Atelier, ein Maler. Du hast ihm gerne zugeschaut, selber was probiert. Er hat wenig geredet, warum auch. Er hat ja gemalt. Dann hast du auch gemalt. Gerne mit Kohle und Acrylfarbe. Pastose Sachen. Abstraktes Rumschmieren, wie du sagst.
Dann kam das Abitur, alle waren so auf dem Trip, entweder Lehrer, Zahnarzt oder irgendwie BWL. Betriebswirtschaftslehre! Nein danke!
Du bist nach Trier gefahren und hast an der europäischen Kunstakademie einem kostenpflichtigen Kurs gebucht. Das Glück zu Malen in verschiedenen Akten und Aktionen. Auch anderes war im Angebot. Das war großartig. Die Atmosphäre. Alle sind Künstler. Alltag und Avantgarde. Toller Kontext und Kontrast.
Zurück zu Hause hast du einen Job gesucht und eine Erfahrung gemacht. Prägend! In einer Firma, die billigen Schmuck anbietet, hast du einzelne Ohrringe zu Paaren in eine Schaumstoffpalette einsortiert. Tausende. Das Highlight des Tages war um 11 Uhr ein Cappuccino aus dem Getränkeautomaten. In einer Zeit, in der alle darüber sprachen, welches Bachelorstudium das richtige wäre und ob sie danach noch einen Master machen würden, hast du dich für einen Diplomstudiengang entschieden: Innenarchitektur in Wiesbaden. Gemischtes Angebot. Am Anfang hast du aufgeschrieben, was du alles machen möchtest, und das ging von Grafik und Illustrationen bis zu Bühnenbild und Architektur. Offenes Studium.
Auf die Frage von den alten Freuden aus Bullerbü, die Lehramt, Zahnmedizin oder BWL studierten: „Sag mal, was machst du da eigentlich?“, war deine Antwort eine Fotografie, die du gezeigt hast. Eine fotografische Inszenierung von Dir.
Darauf zu sehen, eine Frau in einem Kostüm. Eine rote Strumpfhose. Neu zusammengenäht. Der ganze Körper der Frau in einer roten Strumpfhose. Sie steht in einem Betontreppenhaus. Eine Frau in einer roten Strumpfhosenhaut. An einzelnen Körperpunkten ist die Strumpfhosenhaut mit den Betonwänden im Treppenhaus verbunden. Monströs. Verstörend.
Für die Freunde von einst, die sich für einen anderen Lebensweg entschieden haben, scheint es so, als wärst du losgezogen, um sie das Fürchten zu lehren. Was soll das? Unverständnis. Unüberbrückbar!
Semesterferien. Du bist alleine nach Norwegen geflogen. Oslo. Hast nur einen Hinflug gebucht, um die Stadt zu erkunden. Kunst und Kultur touristisch erwandern, ohne genauen Stadtplan. Mit dem Reiseführer des Zufalls. Ein Tipp: Egal, wo du isst oder trinkst, bestelle Nr. 12.
Oder gehe ins Theater. Dich interessiert: In welcher Architektur findet die Aufführung statt? Welche Wege führen in das Gebäude, wie ist die Umgebung gestaltet, wie das Foyer und der Zuschauersaal? Jeder Raum und Kontext, in den du dich begibst, ist schon sinnstiftend. Der Vorhang ist nicht klassischer roter Samt, sondern eine silberne Folie.
Dann geht das Stück los. „Contemporary Dance“. Romeo und Julia. Das war toll, aber entscheidender war das Gesamtding, sagst du.
Es gehört für dich dazu, darüber nachzudenken, wie der Vorhang aussieht und das Stück zu sehen. Es ist aber nicht so, dass du anderthalb Stunden über den Vorhang nachdenkst, die silberne Folie, während das Stück läuft. Aber du denkst eben auch über den Vorhang nach, während das Stück läuft.
Und dann Blickwechsel, raus aus der Urbanität der Stadt Oslo in die Natur. Sechs Tage alleine im Nationalpark. Viel Gepäck, langer Weg, kaum Menschen. Und die Frage, was du da eigentlich machst und vor allem, was machst du damit in Zukunft. Mit diesem Kunstding und der Architektur. Was wird das eigentlich?
In Wiesbaden gibt es ein Theaterfestival, alle zwei Jahre, die „Wiesbaden Biennale“. Da haben dich eigentlich mehr als die Theateraufführungen, die Installationen und Interventionen im öffentlichen Raum interessiert. Andere Orte eben als die klassische Theaterbühne.
Vielleicht könnte das ein Prinzip und eine Erklärung für deine eigene Arbeit werden. Eine Suchbewegung.
Körper und Raum. „Raum als Körperhülle“ ist der Titel deiner Diplomarbeit. Du denkst über ein Kostüm nach. Nicht in den Kategorien Hose, Jacke, T-Shirt. Du denkst darüber nach, den menschlichen Körper eher mit irgendwas zu übergießen. Und das ist dann die Hülle – nicht einfach so funktional, sondern so, dass man da einen Raumbezug herstellen kann. Gibt es eine Möglichkeit der Bekleidung oder Bedeckung des menschlichen Körpers in Verbindung mit einem Raum, den man entwirft?
Wenn wir schlafen, liegen wir unter einer Bettdecke, die ist ein Schutzraum und schafft Intimität. Ein Ort, wo geträumt wird, auch schlecht geträumt wird. Kinder nehmen die Bettdecke mit und gehen zu den Eltern. Ein Alltagsding, so eine Decke. Ein Produkt, das ein Zwischending ist zwischen Raum und Kleidung. Man kann nackt schlafen und ist trotzdem bedeckt durch diese Decke.
Jedenfalls hast du dann eine Bettdecke entworfen, die hat an verschiedenen Punkten Druckknöpfe und kann durch unterschiedliches Knöpfen zu unterschiedlichen Kleidungsstücken geknöpft werden. Knüpfarten. So ein schrankartiger Mantel, ein jackiger Schlafkokon. Immer der Frage nachgehend: Wie ist der Übergang zwischen Raum und Kleidung? Ein eher skulpturales sich Bedecken. Es war kein Produktdesign, sondern ein Kostümentwurf. In dem breit gefächerten Kosmos deines Studiums hast du einen ganz eigenen künstlerischen Weg für dich entdeckt.
Du gehst als künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an die Hochschule nach Kaiserslautern und erforschst den „Experimentellen Raum“ im Fachbereich Bauen und Gestalten.
„Gestaltung, Umgestaltung / Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.“
Das hat gepasst. Eine Zeit lang. Forschen, lesen, theoretisch unterwegs sein und in praktischen Unterrichtseinheiten mit Studierenden das Ganze in Rauminstallationen oder in Ausstellungsgestaltung übersetzen.
Aber eigentlich hast du nur den Moment vor dem Eigentlichen künstlich verlängert, in einer bezahlten Situation. Diplomingenieurin. Raum als Körperhülle, die menschliche Haut, dann die Kleidung, dann die Architektur. Erste Haut, zweite Haut, dritte Haut. Und dann. Häutungen.
Als du mit 18 Jahren Bullerbü verlassen hast, wusstest du noch nicht, dass du einmal Bühnenbildnerin werden willst. Du hast dich auf eine klärende Suche begeben, mit einem unklaren Ausschlussverfahren, um am Ende herauszufinden, was die perfekte Vereinigung von sehr vielen Dingen sein könnte, die du sehr gerne machst.
Die Antwort: Bühnenbilder. Bühnenbilder machen. Die perfekte Kombination aus allem. Du kannst exzessiv über Material und Oberflächen nachdenken, Du kannst auch über den Ort nachdenken, an dem das ganze stattfinden soll. Das muss ja nicht zwangsläufig immer ein Theaterraum sein. Du entwickelst ein Formenvokabular aus dem Vorhandenen, aus der Architektur des öffentlichen Raums. Du kannst, und das findest du den absoluten Luxus, erst einmal ein Stück lesen. Und dann denkst du darüber nach: Was braucht es in dem Raum dafür? Natürlich bestenfalls in Kombination mit Kostüm und Licht. Und Video.
Wir haben mit „Talisman“ gerade eine Aufführung in deinem Bühnenbild gesehen. Eine außergewöhnliche Arbeit. Auch im Zusammenspiel von Bühne und Video. Da ist eine weiße Wand. Auf die wird Video projiziert. Aber die Wand ist nicht einfach Leinwand wie im Kino. Sie lässt sich öffnen. Davor ist eine Stufe, die den Raum begrenzt. Dadurch spielt das Ensemble quasi zweidimensional. Das korrespondiert kongenial mit dem zweidimensionalen Videobild. Dann dreht sich die Bühne und wir sehen einen anderen Raum. Das Ensemble vor Schminkspiegeln, umgeben von Perücken, Kostümen, Requisiten und kleinen versteckten Botschaften. Dadurch öffnet sich eine neue Ebene. Die Kombination aus Video und Spiel wird von der bunten Oberfläche in eine andere Vertiefung gedreht. Es ist Erweiterung der Projektion. Es hat eine inhaltliche und künstlerische Komponente. Wir sehen ein Gesamtkunstwerk. Die Summe aus Spiel, Bühne und Video ist hier viel mehr als die einzelnen Teile. Darum geht es ja im Theater. Bühne, Licht, Ton, Video als gleichwertige Elemente und Grundlage für großartiges Spiel.
Du wirst heute ausgezeichnet für die Produktion NEON. Es ist ein Text des 2008 verstorbenen amerikanischen Schriftstellers David Foster Wallace. Die Idee für diese Produktion stammt von Sebastian Zimmler.
Sebastian Zimmler nimmt „Neon“ zum Anlass, um über die Figur des Heuchlers spielend nachzudenken. Die Raffinesse der gespielten Figur besteht in der wechselseitigen Erhellung eines komplizierten Zeit-Raum-Phänomens, aus dem sich unterschiedlichste Paradoxien ableiten lassen. Im Zentrum steht die Möglichkeit, eine Figur gleichzeitig zu verkörpern, zur Rede zu stellen und das Gezeigte im Kontext des Zeigens nochmals zu zeigen.
In der Aufführung gibt es dafür eine komplexe Videoebene. Du hast auf der Bühne kreisrunde Flächen so installiert, dass im Zusammenspiel mit der Videoprojektion eine Art Hologramm entsteht. Sebastian Zimmler begegnet sich selbst. Ohne deine Bühne gäbe es keine Projektion, kein Hologramm, keinen Mitspieler. Die Entscheidung, wie man das Video auf der Bühne sieht, ist eine starke Entscheidung durch das Bühnenbild, und damit für den Inhalt. Wie sich das spielende ICH auffächert, sodass wir ihn vielleicht fünfmal sehen und nicht nur einmal in der physischen Form.
Die besondere Materialität der Bühnenelemente, die mit einem transparenten Gewebe überzogen sind, ermöglicht einen visuellen Raum, der nicht greifbar ist. Unbegreifbar. Es gibt aber auch Momente, wo das Video aus ist und wir einen Spieler sehen, der durch die Bühnenelemente eine Rahmung findet. Er ist nicht irgendwie, irgendwo, irgendwann. Sondern ganz konkret. Hier und Jetzt.
Nadin, Nadin ohne e.
Ich habe eine Vielzahl von Projekten mit Dir in den letzten Jahren am Thalia Theater machen dürfen. Den Schiller-Walk mit eigener Instagram-Seite rund um das Thalia Theater, das Spektakel „Hymnen an die Nacht“, die letzten zwei langen Nächte der Weltreligionen, unsere Diskursopern. Filme in Zusammenarbeit mit der Hamburger Kunsthalle, dieses und jenes.
Deine große Kunst ist die Genauigkeit, oft die Reduktion auf wenige Stilmittel, die dadurch an Bedeutung gewinnen. Reduktion und Konzentration.
Du bist einfach großartig. Ich danke Dir für die vielen gemeinsamen künstlerischen Arbeiten.