Rezensi
onen zu
Lili
om

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Das ungarische Stück Liliom von Ferenc Molnár wurde 1909 in Budapest uraufgeführt. Berühmtheit erlangte es allerdings erst nach der Übersetzung ins Deutsche von Alfred Polgar und der Aufführung in Wien, 1913. Die „Vorstadtlegende in sieben Bildern“ erzählt das Leben Lilioms, einem Bürger des ungarischen Proletariats zur Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Liliom (Jörg Pohl) ist als Rekommandeur eines Budapester Karussells unter Frau Muskat (Oda Thormeyer) angestellt, die ihn zum Liebhaber hat. Nachdem Liliom das Dienstmädchen Julie (Maja Schöne) auf einer Karussellfahrt umarmt und sich in sie verliebt, entlässt sie ihn allerdings aus Eifersucht. Julie und Liliom heiraten, finden dann aber keinen Weg ihre Beziehung fortzusetzen. Liliom entzieht sich Julie, trinkt, ist aggressiv und gewalttätig. Er verweigert die bürgerliche Idylle und sucht seine Identität in der Rolle des gesellschaftlichen Außenseiters. Zwar finden die beiden einen billigen Wohnort in der Bretterbude der Schnellfotografin Frau Hollunder (Sandra Flubacher), leben von da an aber in Geldnot. Julies Nachbarin ist ihre Freundin Marie (Yohanna Schwertfeger), die ein sorgloseres Leben ohne finanzielle Not führt. Die beiden Freundinnen beginnen ihr Eheleben als junge Mädchen, wo sie gemeinsam davon träumen, sich mit ihrer Heirat aus den unwürdigen Bedingungen ihres Dienstmädchenlebens zu befreien. Die soziale Situation der beiden betraf etwa ein Drittel der weiblichen Bevölkerung in Europa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.

 

Liliom verweigert den sozialen Aufstieg, wehrt die ihm gebotenen Chancen ab, bleibt arbeitslos und sieht sich nicht imstande für sich und seine Frau zu sorgen. Stattdessen lässt er seinen Selbsthass und Frust an ihr aus. Julie allerdings liebt ihn bedingungslos und billigt all sein grenzüberschreitendes Verhalten: „Es ist möglich, mein Kind, dass einen jemand schlägt, und es tut gar nicht weh.“, erklärt sie später ihrer Tochter. Die Schwangerschaft seiner Frau bewirkt zwar, dass sich Liliom erstmals der Verantwortung bewusst wird, nicht aber, dass er mit seinem Verhalten die gemeinsame familiäre Situation verändert. Stattdessen versucht er, der Mittellosigkeit und Misere mit einem Verbrechen zu entkommen: Gemeinsam mit Fiscur (Tilo Werner), einer Figur aus der Unterwelt, die sein Vertrauter ist, plant Liliom den Kassierer einer Fabrik zu erstechen. Julie trauert um Liliom wie um jemanden, der zum Untergang verurteilt ist, verzeiht ihm aber jede seiner Verfehlungen mit ihrer Liebe. Liliom selbst entwickelt kein Bewusstsein für seine Verbrechen. Er zergeht verzweifelt an seinem Leid, welches er, ebenso kindisch wie leidenschaftlich, als sein Schicksaal hinnimmt. Liliom entscheidet sich kurzerhand zum Selbstmord, nachdem der Mord an dem Kassierer Linzmann misslingt und er eine rechtliche Bestrafung erwartet. Die beide Protagonisten leben mit den Konsequenzen ihrer Haltung weiter: Liliom wartet sechzehn Jahre lang im Fegefeuer auf seine Läuterung und Julie gebärt ihr Kind in Einsamkeit und Armut.

 

In der Inszenierung Kornél Mundruczós beginnt Lilioms Geschichte vor dem himmlischen Gericht, dass in einer Version erscheint, die im 21. Jahrhundert zeitgemäß wirkt. Liliom muss sich vor einem Chor „Mitarbeitender“ (Engel) rechtfertigen, die eine aktuell gesellschaftliche Norm repräsentieren: Sie stehen für Geschlechtervielfalt, Nonkonformismus und, als eine Gruppe, für Offenheit und Political Correctness. Um die Himmelspforte zu durchqueren und den „Safe Space“ (das Fegefeuer) zu verlassen, muss Liliom einen Antrag stellen und seine Erinnerungen mit dem Chor teilen. In den himmlischen Dialogen (geschrieben von Kata Wéber) zeigt sich der spannende Charakter Lilioms in seinem Widerstreben gegen jedmögliche Form der Erziehung seiner Gefühlswelt zu einer Moralität, die der gesellschaftlichen Norm entspricht. Eher ist Liliom Gesetzesbrecher, Mörder, Gefangener und Selbstmörder, als dass er ein gutbürgerliches Leben führt. Und Julie vergibt ihm seine Verfehlungen in ihrer bedingungslosen Liebe.

 

Molnárs Stück ist ein Märchen: Poetisch, schaurig und sowohl traurig als auch herzergreifend schön. Kornél Mundruczó Inszenierung erschafft dazu eine Poesiesprache, die unserer Zeit entspricht und dennoch historische Elemente beibehält. Besonders spannend wirkt diese Kombination aus den original historischen Elementen mit zeitgenössischen oder futuristischen. Zum Beispiel der Kontrast zwischen der Mundart der ungarischen Unterschicht um 1913 und den gekünstelten Ausdrücken der Engel, welcher ermöglicht, zur gleichen Zeit Nostalgie und Entfremdung zu empfinden. Am eindrucksvollsten wirken die zwei riesigen Roboterarme, die das historische Stadtwäldchen- samt Parkbank, Bäumchen und Mond- auf der Bühne dramatisch langsam platzieren. Als die Vorstellung zu Ende geht, verbeugen sie sich sogar, mit den Schauspielern, vor dem Publikum.

 

Die Szenen, die den beschriebenen Kontrast sichtbar machen, bewegten und irritierten mich deshalb, weil sie auf einen aktuell existierenden Konflikt hinweisen: Worin wir heute Fortschritt erkennen ist kühl, technisch und irgendwie leblos, während Liliom nach seinem leidenschaftlichen, unberechenbaren Herzen lebt. Für ihn gelten ausschließlich die Gesetze der Gefühle, die man nicht zähmen kann. Welche Haltung entspricht uns (mehr), worin wollen wir uns wiederfinden und welche Bedeutung haben die Parameter Gut und Böse, Recht und Unrecht in dem Feuer freigewordener Gefühle, wie der Liebe oder dem (Selbst)Hass? Mundruczós Inszenierung bietet zahlreiche Möglichkeiten der persönlichen Reflektion und des Diskurses. Besonders bemerkenswert sind die vielen, kleinen Feinheiten, denen es sich lohnt, genauer nachzuspüren. Sie finden sich im großartigen Spiel der Schauspielerinnen, in der fantasievollen Gestaltung des Bühnenbildes ebenso, wie in der genialen Interpretation des dramatischen Texts. Ein einzigartiges Theaterstück, das man sich unbedingt ansehen sollte!

 

Ira Wichert, Jahrgangsstufe 12 des Helene Lange Gymnasiums in Hamburg