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MARIA – DIE GEBURT EINES NEUEN JAHRTAUSENDS

Maria, oder Ria, wie sie genannt wird, ist 18 Jahre alt, genauso jung, wie das neue Jahrtausend. Sie ist schwanger, von wem sie das Kind bekommen hat weiß sie nicht, aber es kämen mehrere potenzielle Väter infrage. Sie lebt ein zielloses Leben, arbeitet im Fitnessstudio, legt Handtücher zusammen und putzt die Duschen, sie wirkt eigentlich fröhlich und zuversichtlich, wären da nicht die nahenden Geburtsschmerzen, vor denen alle warnen und vor denen sie sich fürchtet. “Es war das schlimmste, was ich je erlebt habe” warnt sie ihre Großmutter. Ria möchte die Möglichkeit haben im letzten Moment, wenn die Schmerzen zu unerträglich werden, die Beine über einander zuschlagen und die Sache zu beenden, die Notbremse zu betätigen. Eine Last-Minute-Abtreibung.
Sebastian Nübling präsentiert uns Simon Stephens Drama in einer furiosen Inszenierung mit einem rasanten Tempo, das einem den Atem anhalten lässt. Maria ist ein Stück über unsere Zeit und unsere Welt, über eine rastlose, schnelllebige Welt, die keine klaren Wertevorstellungen mehr besitzt und in der der Wert jedes einzelnen, anonymisierten Individuums nach seiner Produktivität bemessen wird. Es ist eine Gegenwart ohne Zukunft.
Das Stück beginnt. Ein tonnenschwerer, schwarzer LKW wirft im Dunklen, einer ansonsten leer stehenden Bühne, seine Lichter an und beginnt sich in Bewegung zu setzen, der grinsende Amazone Pfeil prangt an seiner Seite und der Spruch “Love is all you need”. Dieser LKW soll im weiteren Verlauf des Stückes noch zu allerhand anderen Spielorten umfunktioniert werden, ob zum Krankenhaus oder der Aerobic-Bühne eines Fitnessstudios. Dazwischen hüpft Maria herum, die hochschwanger ist und garantiert ADHS hat, vollführt in einer violetten Weltraum-Leggings Turnübungen am LKW und plappert unaufhörlich, erzählt ihre Lebensgeschichte.
Ihre Mutter ist früh gestorben, erzählt sie, sie wurde von einem übernächtigten LKW-Fahrer überfahren. Diese Geschichte ist einer der zentralen Ausgangspunkte. Zum einen symbolisiert der LKW eine persönliche familiäre Tragödie, die Ria sehr belastet, zum anderen steht er, wie diese Tragödie selber, aber auch für unsere heutigen wirtschaftlichen Strukturen, einer vernetzten, globalisierten und unübersichtlichen Welt, die einen überrollt und in der Ria Schwierigkeiten hat, sich zurechtzufinden, oder gar sich in diese anonymisierte, kapitalistische Konsum- und Waren- Gesellschaft einzufügen, in der sie als menschliches Individuum mit Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten nicht existent ist, sondern zu einem austauschbaren Arbeits-Automaten wird.
Hierzu passt auch eine weitere Szene, es ist eine der ersten und besten Szenen, in der Ria einen Termin beim Gynäkologen hat. Während Ria einen ihrer stundenlangen Monologe hält, über ihre geliebten Dokus und ihre Angst vor den Geburtsschmerzen, doktert der Arzt, der ihren ewigen Gerede distanziert und etwas enerviert folgt, nicht an ihr, sondern am LKW herum und wechselt Radkappen und Reifen aus. In dieser Szene wird erneut deutlich gemacht, dass der Mensch in unserer heutigen Gesellschaftsordnung, als subjektiv empfindendes Individuum nicht mehr zählt, sondern nur noch ein austauschbares Objekt ist, wie jede andere Maschine auch, die funktionieren muss, um den Produktionskreisläufen zu folgen.
Die Frage, die jedoch noch offen ist, ist es ein Junge oder ein Mädchen, mit dem Ria schwanger ist? Ria trägt unsere Zeit, unsere Welt aus, die schwer auf ihr lastet.
Maria ist ein packendes, sehr kluges Stück über unsere Zeit und Gesellschaft, mit einem zurückhaltenden, wie wirkungsvollen Humor, das es zu Beginn schafft ein sehr verdichtetes und rasantes Tempo aufzubauen, in der jede Szene mühelos ineinander fließt, leider zerfällt dieses gegen Ende, nach einer Live-Chat Videoübertragung, die bedauerlicherweise weniger interessant ist, als so manche Chat-Roulette Sitzung, bei dem die guten Einfälle ausgeblieben sind. Dennoch ist Maria ein lohnenswertes Stück, das leider viel zu früh abgesetzt worden ist, wie das leider bei den meisten guten Stücken am Thalia Theater der Fall ist.

Laurence Volquardsen, HAW Mode-Design 3. Semester
24. Februar 2020


9. Februar 2019
Es ist wohl Ironie des Schicksals: In einer Welt, in der man durch das Internet zu jeder Zeit überall mit jedem verbunden zu sein scheint, nimmt doch tatsächlich die Vereinsamung zu. Dieses Phänomen steht fast schon stellvertretend für die heutige Zeit und so hat es sich natürlich Gegenwarts-Guru Simon Stephens mal wieder zur Aufgabe gemacht, daraus ein neues Werk hervorzuzaubern. Wer keine Lust hat, den Schinken durchzulesen, kann sich auch viel bequemer Sebastian Nüblings Inszenierung zu Stephens „Maria“ antun.

Maria, gerade mal 18 und schon hochschwanger, lebt in komplizierten Familienverhältnissen. Ihre Mutter wurde von einem LKW überfahren, ihr Bruder ist abgehauen, der Vater auf die Arbeit fokussiert und die apathische Großmutter wirkt auch nicht allzu sympathisch. Maria selbst schuftet in einem Fitnesssalon, bis sie aus der Einsamkeit der Menschen Profit schlägt und über das Internet platonische Liebe verkauft.

Diese düstere Welt Marias aus purer Leistungsökonomie und Verlust der Gemeinschaft ist dabei ein recht genaues Abbild unserer heutigen Realität. Nicht umsonst ist das Bühnenbild ein einziger, sich drehender Lastwagen mit der polemischen Aufschrift „All you need is love“. Zusammen mit nervtötenden Technobeats wird so ein Ambiente der zwischenmenschlichen Kälte und leistungsorientierten Hetze kreiert, wie es die Niedriglohn-verdienenden Paketboten der Megakonzerne wie Amazon, Zalando und Co. zu jeder Weihnachtszeit spüren müssen.

Das einzige, was nun diesem drastischen Bild der heutigen Realität in dieser Inszenierung die Authentizität raubt, ist die Darstellung der dem Stück namensgebenden Protagonistin Maria. Wer um die Mittagszeit herum den Fernseher anschaltet und sich auf RTL II Sendungen wie „Mitten im Leben“ oder „Teenie-Mütter“ antut, wird Charaktere finden, die der Maria in Sachen Persönlichkeit und Intellekt stark ähneln. Nun ist jedem hoffentlich klar, dass die Figuren aus RTL II (zum Glück) größtenteils der Fiktion entsprechen und nicht stellvertretend für die heutige Generation stehen.
Dementsprechend ist es fast schon eine Beleidigung, eine Figur wie die Maria dieser Inszenierung stellvertretend für eine Generation sprechen und handeln zu lassen.
Lisa Hagmeister tut dabei ihr Bestes, eine jugendhafte, authentische Maria zu verkörpern; was jedoch ankommt ist eine dümmlich-naive Maria, die eher Fremdscham als Verständnis erzeugt.

Wahre schauspielerische Leistung zeigt in dieser Inszenierung Irene Kugler, welche Barbara Nüsse als Marias Großmutter vertritt. Zu Beginn noch harsch und indifferent, später verständnisvoll und nahbar, wirkt diese Darstellung der Großmutter von allen Charakteren am Menschlichsten und passt so am Besten in das realistisch wirkende Stück.

Nichtsdestotrotz beinhaltet diese recht düster wirkende Inszenierung auch einige aufheiternde, ja sogar witzige Momente, die der drastischen und verdrossenen Atmosphäre recht gelungen die Stirn bieten. So zum Beispiel die Szene mit dem gehetzten Nachbarn, der durch seine Ironie und Ignoranz nicht nur zum Denken anregt, sondern absolut witzig ist.
Andere Szenen hingegen strecken sich in die Länge und verlieren dadurch schnell an Wirkung. So sind zum Beispiel die Monitore, auf welchen abwechselnd irgendwelche abstrusen Gestalten erscheinen, die sich nach Marias platonischer Zuneigung sehnen, eine wahrlich geniale und einzigartige Idee. Durch die dauerhafte Wiederholung der einzelnen Figuren und ellenlanger Dialoge wird es jedoch schnell langweilig.

Zusammenfassend ist zusagen, dass Sebastian Nüblings Inszenierung von „Maria“ durchaus Potential besitzt. Durch eine eher lächerliche und quacksalbernde Verkörperung der Protagonistin, sowie sich hinziehender, repetitiver Dialogpassagen fühlt man sich jedoch eher in das RTL II Vormittagsprogramm hineingeschmissen, als in einem modernen, gesellschaftskritischen Stück. Was schade ist, denn selten hat ein Stück so gute Chancen, den Zahn der Zeit da zu treffen, wo es richtig weh tut.

Luise Lämmerhirt, Leibniz Privatschule Elmshorn, Jg. 13