Gotscheff, der Veterinärmediziner

Von Joachim Lux

Bei einem Künstler, über den man, von seinen Werken abgesehen, kaum etwas weiß, und dessen eigene Äußerungen oft eher kreatürlichen Rülpsern gleichen, ist man auf das Wenige angewiesen, das mit einiger Gültigkeit über ihn gesagt wird. Es stammt, wie könnte es anders sein, von Heiner Müller. Dennoch soll von Müllers Bemerkung, die Gotscheff, wie er selbst sagt, „für eineinhalb Tage berühmt gemacht hat", hier nicht die Rede sein. Denn alles, was Müller anläßlich von Gotscheffs „Philoktet“- Inszenierung (Sofia 1983) schreibt, stimmt, und doch ist es - das ist das Schicksal unendlich oft zitierter Bemerkungen – in Gefahr, zur Hohlformel zu gerinnen. Das ist nicht Müllers Schuld, sondern die derjenigen, die sie aus Alternativlosigkeit bis zum Abwinken wiederholen. Dabei ist die Schwierigkeit, zu Begrifflichkeiten vorzudringen, mehr als verständlich: Theaterabende zu beschreiben ist eine eigene Kunst. Zwanzig Jahre mit Gotscheff, über dreißig gesehene Inszenierungen, Mitarbeit an einigen, und nun die als Einladung verkleidete Drohung, darüber etwas schreiben zu sollen. Wo und wie anfangen? Ich will versuchen, Gotscheffs Arbeit inhaltlich und ästhetisch in einen größeren Zusammenhang zu stellen.

Heimat
Natürlich ist es vollkommen richtig, daß Heiner Müller für Gotscheff von Anfang an bis heute ein geistiger Leuchtturm ist, sein Fixstern und Anker in der Welt, lange vor der Müller-Mode im Westen und erst recht danach, denn Gotscheff ist in seiner Substanz unbeirrbar. Das ist einigermaßen oft beschrieben worden. Und doch gibt es daneben und vielleicht sogar davor etwas anderes, das Gotscheff viel urwüchsiger prägt, und auf verschlungenen Wegen möglicherweise in Gotscheffs Müllerbegeisterung mündet. Dies hat mit seiner Heimat zu tun, die in der Nähe des gebirgigen Grenzgebiets zu Griechenland liegt. Der Sachse und DDR-Bürger Müller hat sich die Archaik erarbeitet, der Bulgare Gotscheff hat sie durch die Landschaft, in der er großgeworden ist, im Blut: „Drei Kilometer von Parmovai entfernt fließt die Marica. Orpheus soll in den Rhodopen gesungen haben. Es heißt, die Mänaden hätten ihn getötet und seinen Kopf in die Marica geworfen. Der Kopf von Orpheus soll nicht aufgehört haben zu singen, während er Richtung Lesbos trieb. Jedes Wochenende ging mein Großvater mit mir zur Marica. Wir wuschen uns im Fluss. Das taten alle, Frauen und Männer getrennt, denn die Wasserversorgung war katastrophal, es gab keine Duschen. Ich genoß die Fürsorge meines Großvaters, er seifte meinen Körper ein mit warmen Händen." So ist Gotscheff aufgewachsen: in ländlich-archaischer Einfachheit, in der Nähe zum Orient und in unmittelbarer Nachbarschaft zu Griechenland, der Heimat der Mythen unseres Kulturkreises. In ihnen findet er das Rätselhafte, das exemplarisch ist – Zeigen und Erleben, Kenntlichkeit und Unkenntlichkeit in eins. Auch dies ein Weg zu Heiner Müller.
Seine Heimat bestimmt ihn aber noch auf andere entscheidende Weise: Gotscheff ist Sohn eines bulgarischen Veterinärmediziners. Gotscheffs Erinnerungen an die eigene Jugend klingen wie die Kurzgeschichten des jungen Landarzt Tschechow: „Ich erinnere mich an meine ersten Lebensjahre in Parmovai, einer kleinen Stadt im Süden Bulgariens. In dieser Gegend hatten die Menschen ein sehr enges Verhältnis zur Natur, denn sie waren von ihr abhängig. Mein Vater war ein beliebter Tierarzt. Er nahm mich in seiner kleinen Kutsche mit, wenn er kranke Tiere besuchte. Ich habe bei Geburten von Kälbern geholfen und kräftig mit gezogen. Mit Tieren war ich damals mehr als mit Menschen." Aber er erinnert sich auch an die Vergeblichkeit jedweder caritas: "Ein krankes Pferd suchte von sich aus meinen Vater auf und klopfte mit der Hufe an die Tür. Mein Vater konnte für das Tier nichts mehr tun. Das ist eine starke Erinnerung, wie das Pferd mehrere Tage am Haus stand und auf Hilfe hoffte, bis es aufgab und davonlief." Gotscheffs Urpunkt ist das Kreatürliche, das Einfache, das Mitleid mit jedwedem Lebewesen, es widersetzt sich Systemen jedweder Art und weiß gleichzeitig um seine Vergeblichkeit. Dennoch gibt es zwei Systeme, die Gotscheff der Herkunft nach maßgeblich und folgenreich prägen: die Wissenschaft von der Gesellschaft, die den Menschen - besonders in der Gestalt des Marxismus - zu erlösen hofft und die Wissenschaft von der Natur, die dem Menschen medizinisch zu helfen trachtet, auch wenn sie weiß, daß ihm letztlich nicht zu helfen ist. Gotscheff geht als junger Mann gemeinsam mit seinem Vater – die DDR leidet kurz nach dem Mauerbau unter der Abwanderung von Arbeitskräften in den Westen – 1962 nach Ostdeutschland. „Sozialistische Bruderhilfe“ nennt man die Akquirierung von Gastarbeitern aus dem befreundeten Ausland. Er studiert zunächst wie sein Vater Veterinärmedizin.

Prototypen des 20. Jahrhunderts: Benn, Brecht, Müller
Die Spannung zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaft, zwischen existentieller Ontologie und dem Glauben an Veränderbarkeit setzt Gotscheff nachdrücklich unter Spannung. Diese Spannung ist für die deutsche Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts exemplarisch; sie drückt sich in den Antipoden Gottfried Benn und Bertolt Brecht aus. Der eine praktizierender Arzt, der mit der Kälte des Seziermessers Lyrik schreibt; Naturwissenschaftler, Nietzscheaner, Skeptiker und Pessimist, kurzzeitig auch Nationalsozialist, Philosoph der regressiven Selbstauflösungslust des Ich im Nichts („O daß wir doch unsere Ururahnen wären,/ Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor“ Und das berühmte Ende: „Ewig ruft das Meer.“). Der andere, Brecht, verkörpert das Gegenteil: Optimismus und Dialektik, Glaube an die teleologische Möglichkeit der Geschichte im Geiste des Marxismus.
Heiner Müller schließlich, Gotscheffs Fixstern, ist ein neuer Prototyp, er ist beides, Benn und Brecht, Apokalyptiker und Kommunist in einem; Grenzgänger zwischen West und Ost, philosophischem Nihilismus und gesellschaftspolitischem Optimismus, Nietzsche und Marx. So sehr es Zufall ist, daß Gotscheff in Ostberlin bald ausgerechnet auf Heiner Müller stößt – dessen damalige Frau Ginka Tscholakowa ist Bulgarin -, so wenig ist es Zufall, daß er bei ihm bleibt. Genau sowenig wie es Zufall ist, daß die anderen beiden Autoren, die Gotscheff als Regisseur sein Leben lang begleiten, Georg Büchner und Anton Tschechow sind: Naturwissenschaftler der eine, praktizierender Arzt der andere, beide mit verzweifelter Leidenschaft an der Verfaßtheit von Mensch und Gesellschaft arbeitend, beide gleichzeitig mit dem bösen Außenblick begabt, beide an dieser Antinomie zugrundegehend. Denn der tiefe empathische Blick ins Leid der Kreatur, dessen Minderung sowohl der Motor für medizinische wie auch gesellschaftspolitische Arbeit ist, und der kalt-analytische Blick von Außen auf Kreatur und Gesellschaft (der außerdem von der Unveränderbarkeit der Verhältnisse weiß), schließen sich aus. Ästhetische Mittellagen sind bei diesem Befund nicht möglich: Heiner Müllers dunkles Pathos, Tschechows böse Komödiantik, Büchners kreatürlicher Schrei – das ist in etwa auch das Spektrum des Regisseurs Gotscheff. Das "Theater im wissenschaftlichen Zeitalter", das Theater Brechts, bleibt ihm dagegen herzlich fremd. Er hat ihn auch nur ein einziges Mal inszeniert, bezeichnenderweise "Fatzer", das expressionistische Fragment.

Gotscheff im Osten. Arbeit an Wunden
Aus der Spannung zwischen kalter Analyse und warmer Caritas, zwischen Ontologie der Kreatur und Veränderbarkeit der Gesellschaft erlöst sich Gotscheff ins Theater. Genauer: es wird für diesen ungeheuerlichen Bauchmenschen, der sich auf die lebenslängliche Suche nach einer Sprache der Körper, aber auch nach einer Sprache für die Sprache selbst macht, zu Ventil und Kumulationspunkt seines Schreis. Drei Sensationen, drei Begegnungen im künstlerisch-intellektuellen Milieu Ostberlins befördern den Schrei des jungen Mannes zwischen zwanzig und dreißig: die Lektüre von Müllers „Philoktet“ (1964), die Proben- und Aufführungsbesuche bei Benno Besson (vor allem Aristophanes’ „Frieden“) und die Begegnung mit Fritz Marquardt: „Während ich bei Besson Kunst angetroffen habe, war es bei Marquardt Fleisch: Der eine kann mit einer Geste eine ganze Welt erzählen, vom anderen habe ich den Schrei der Körper gelernt.“ Sechzehn Jahre lang lebt und lernt Gotscheff in der DDR, hofft wie viele Künstler auf die Verbesserung, nicht aber auf die Abschaffung des politischen Modellversuchs, bis er in den Nachwehen der Biermann-Ausbürgerung (1976), die den Untergang des Systems vorwegnimmt, wie sein Lehrer Benno Besson das Land verläßt. Besson geht nach Frankreich, Gotscheff, der ehemalige Mediziner, desillusionierte Gesellschaftsutopist und Künstler, geht in die bulgarische Provinz. Den Schmerzschrei der Körper hat er in der DDR nur ein einziges Mal - und auch das erst nach siebenmaligem Verbot - erzählen dürfen (Heiner Müller „Weiberkomödie“, 1977). In seinem Sofioter "Philoktet" (1983) findet er ihn, zwanzig Jahre nach der Erstlektüre des Stücks, einer Neuerzählung des antiken Mythos, offenbar um so kraftvoller. Dies ist, nach einigen Inszenierungen in der bulgarischen Provinz, der Höhepunkt und gleichzeitig das Ende seiner kurzen bulgarischen Regiekarriere, denn er galt als latenter Dissident. Trotzdem wäre er gern geblieben: „Wir wollten ja damals nicht das System torpedieren, sondern es verbessern. Und die Begegnung mit dem Publikum war oft sehr intensiv. Die Menschen suchten den Austausch mit anders Denkenden.“
"Schrei", "Wunde", "Eiterblase" - Begriffe aus Gotscheffs sprachlichem Repertoire. Wenn er, was selten ist, zu erläutern versucht, was er damit meint, wird deutlich, daß das Gesellschaftliche bei ihm das Existentielle ist und unmittelbar in die Arbeit fließt: "Ich bin nur kreativ, wenn ich vor den Schauspielern stehe. Ich kann vorher keine großen Konzepte entwickeln. Ich habe nur Wunden, die zum Platzen kommen. Meine Schreie sind an die Wunden der Schauspieler gekoppelt. Die Wunde ist das, warum jemand Theater spielen muß, warum für ihn eine Rolle eine Notwendigkeit ist. Ich sage ihm nicht, wie er eine Rolle anlegen soll, sondern wir suchen gemeinsam in der Biographie. Ich konzentriere meine Energie auf die Persönlichkeit des Schauspielers, auf dessen Reibungsflächen. Der eigentliche Prozeß ist, dahin zu kommen, sich die Wunden und das Verfaulte gegenseitig zuzuschmeißen. So war es auch in Bulgarien. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zu Deutschland. Dieser Theateransatz ist eine Reaktion auf meine Erfahrungen im sogenannten Sozialismus. Die Wunden entstanden, weil die Kluft zwischen Theorie und Praxis so groß war, daß sie den einzelnen zerriß. Verblüffend für mich ist, daß auch in diesem schönen, reichen Kapitalismus der Bundesrepublik viele Schauspieler ihre Wunden haben."(Gespräch mit Theater der Zeit, 1993)

Flußbarben
Gotscheff, der nie Veterinärmediziner war, ist als Regisseur Veterinärmediziner geblieben. Bis in die Wortwahl. Er spricht bei der Arbeit von „Kreaturen“ und „Kretins“, „Kakerlaken“, „Hunden“, "Amöben", „Ratten“ oder „Geiern“, wenn er Menschen meint. Und er schließt sich selbst ein: „Schmeißfliege“ oder "Parasit des Westens". Gotscheff spricht gerne so. Mit eben dem bissigen Gelächter, das er sich vom Zuschauer erhofft. Lustig ist Gotscheff nie, komisch nur manchmal, grotesk fast immer. Die Kategorie des menschlichen Mitleids stellt er nur zur Verfügung, wenn er Figuren inszeniert, auf die Heiner Müllers Satz „Und immer noch rasiert Woyzeck seinen Hauptmann“ zutrifft. Aus ihnen macht er Giacometti-Figuren, aber reine Opfer sind auch sie nicht, sondern in ihrem Opportunismus ein stückweit mitschuld an ihrer Lage. Für die Hauptmänner der Welt, also für uns, die meisten, die gesellschaftliche Mitte, hat er die Kategorie der Groteske, d.h. die Verzerrung der Existenz zur Kenntlichkeit, und fällt vernichtende Urteile. Die Grenze zur Menschenverachtung aber überschreitet er nie. Dies entspricht nicht seiner Haltung, es würde ihn als Künstler, der den Ausdruck für den Menschen sucht, vernichten. Nein, er riskiert den naturwissenschaftlich geprägten Blick auf die gesellschaftliche Verfaßtheit des Menschen, sucht sozusagen noch in jedem Hauptmann einen Rest-Woyzeck - ein zugegebenermaßen schmaler Grad zwischen Abscheu vor den Menschen und der Liebe zu ihnen. Am intensivsten lebt er diese Liebe in der Zuneigung zu seinen Schauspielern. Sie sind sein Instrumentarium, den sehnsüchtig-existentiellen Schrei des Menschen nach Besserung so kräftig wie nur irgend denkbar auszudrücken. Das Mitleid, das er zu gestalten trachtet, sucht nicht die Tränen des Zuschauers, sondern sein Erschrecken, seine Erkenntnis, das grimmige Gelächter. Der Menschenzoo macht Gotscheff diabolischen Spaß. Unversehens werden auf der Probe z.B. aus den fremdenfeindlichen Bewohnern der Provinzstadt Bebra (Klaus Pohls „Die schöne Fremde“) Gotscheffsche „Bebraiden“ (Aussprache analog zu Androiden). Ja, er würde gern Flußbarben zu dekorativen Goldfischen verkleiden, aber es geht nicht. Es ist viel schlimmer: er zieht sie nicht an, sondern aus und legt ihr Skelett frei. Die skelettierten Flußbarben, das sind wir. Das ist auch die Grunderfahrung des Arztes Dr. Gottfried Benn, der in seinen „Morgue“-Gedichten seine Praxiserlebnisse reflektiert. Sie enden oft in der déformation professionelle eines „medizinischen Zynismus“ (Peter Sloterdijk), der konträr zum Eid des Hippokrates steht. Bei Büchner, der die Flußbarben untersuchte, sind die Prototypen Brecht/Marx und Benn/Nietzsche gerade noch eins. Er ist Naturwissenschaftler und Sozialrevolutionär in einem und sucht die vom Auseinanderfallen bedrohten Antipoden des Gesellschaftlichen und des Existentiellen als Einheit zu erhalten: im Mitleid mit der Kreatur, das den klaren Blick auf die Verrottung von Mensch und Gesellschaft nicht verhindert. Doch man sieht schon bei Büchner die Vergeblichkeit des Spagats. Die schlichte, in „Dantons Tod“ gestellte Frage, warum der Mensch leidet, ist weder von der Natur noch der Gesellschaft aufzuheben. Sie ist der „Fels des Atheismus“, von dem Hans Mayer, Büchner zitierend, spricht. Der bittere Satz des Dichters und Wissenschaftlers Büchner könnte auch von Gotscheff sein: "Die Fische sterben… und die Götter erfreuen sich am Farbenspiel ihres Todeskampfes." Das ist die geistige Welt, aus der Gotscheff kommt, wenn er auch nicht in der deutschen Kleinstadt Darmstadt, sondern in der südbulgarischen Provinzstadt Parvomai geboren ist. Einen ähnlichen Blick hat auch die Gotscheff-Ikone Tschechow – Arzt auch er -, bei dem die Gleichzeitigkeit von Mitleid mit den Menschen und dem komischen, also kalt-analytischen Blick auf die Menschen und ihre Verhältnisse ebenfalls zu finden ist.

Gotscheff und die Raubtiere des Westens
Mitte der Achtziger Jahre wird Gotscheff infolge seines „Philoktet“ berühmt: „Die Intendanten stürzten sich auf mich, sie wollten das frische Fleisch kaufen." Der Kölner Intendant Klaus Pierwoß hat ihn in einer Nacht- und Nebelaktion gewissermaßen entführt und bietet ihm eine Werkstattinszenierung an: Heiner Müllers „Quartett“ (1985). Die Intendanten der halben Republik kündigen sich an, die Presse sowieso (Gotscheff: "Dann kamen die Geier."), und es wird ein Triumph, besser gesagt, die von den Westlern nur halb verstandene Begegnung mit einem bis dato kaum bekannten Theaterstil, der Brecht und Artaud, Ost und West, die Bezeichnung der Dinge und ihre Existenz, den Körper und den Text, vereint. Aber es ist nicht nur das: Da kommt ein slawischer Fremdling in den Westen (wie es scheint auf Besuch, aber er bleibt) und zeigt mit Valmont und Merteuil hochgezüchtete Raubtiere, Krüppel des Menschlichen, Bestien der Gier und des Egoismus. Schon hier, bei seiner ersten Arbeit im Westen, taumelt des Veterinärs abgrundtief skeptische Menschenerkundungsarbeit der Grenze zum Nihilismus entgegen. Diese Grenze wird er in Zukunft noch öfters streifen. Sein Blick auf den Menschen ist schonungslos, er traut ihm Gesellschaftlichkeit nicht mehr zu, zurück bleiben armselige Ego-Monster. Es gibt niemanden, der sie von sich selbst erlöst, denn: „Immer noch rasiert Woyzeck seinen Hauptmann.“ Er setzt ihm täglich das Messer an die Kehle, aber die Kraft sie durchzuschneiden, hat er nicht. Der Westen, unterhaltungssüchtig auf permanenter Suche nach Novitäten, schaut verstört und verwirrt auf sich selbst. Damit hat man nicht gerechnet, sondern sich in einer Zumutung verirrt – das ist das Beste, was Kunst leisten kann.

Gotscheffs Traum von Büchner, ein Traum von der Kunst
Gotscheffs Traum von der Wirkung künstlerischer Arbeit ist vielleicht am besten in einer Anekdote aufgehoben, die er selbst einmal erzählte: Der junge Gotscheff ist gerade mit Bus und Bahn auf dem Weg zu Heiner Müller, den er besuchen will und liest sich in einem kleinen Büchlein fest. Es schlägt bei ihm ein wie eine Bombe. Er fährt und fährt, vergißt das Aussteigen, steigt aus, verirrt sich, läuft im Kreis herum, weiß nicht, wo er ist - eine durch Literatur ausgelöste Odyssee. Als er schließlich um Stunden verspätet doch noch an der Tür von Heiner Müllers Ostberliner Wohnung klingelt, platzt es in atemloser Aufgeregtheit aus ihm heraus: „Sag mal Müller, kennst du Büchner?“ Müller lächelt bescheiden und antwortete leise: „Ja!“ Fortan übersetzt der besessene Bulgare Büchners Texte, hundertfünfzig Jahre nach dessen Tod, erstmals ins Bulgarische.

Ohne Illusionen
Gotscheff ist Büchner, Tschechow, Müller und sich selbst bis heute treu geblieben. Er ist im Grunde der gleiche geblieben, der vor zwanzig Jahren nach Westdeutschland gekommen ist: ein Urgestein, dessen Gesicht schon damals aussah wie eine zerfurchte Landschaft, einer, der aus der Differenz lebt: „Heimat – das ist für mich die Probe,“ sagt er. Er ist einer der wenigen, der als unbeirrbarer Fremdling und Findling, unabhängig von Moden, in der Theaterlandschaft steht, und ihre Trends mal besser, mal weniger gut überlebt, sich weder verlabelt noch verlabeln läßt. Gotscheff ist in dieser Hinsicht nicht der einzige: Achim Freyer, B.K. Tragelehn, Einar Schleef, Jürgen Gosch, Fritz Marquardt, Frank Castorf u.a. gehören bzw. gehörten zur gleichen Kategorie von Künstlern. Sie alle haben ihr eigenes ästhetisches System, das sie mit Obsession betreiben, manchmal indem sie ihre Karriere riskieren. Gosch hat furchtbare Abstürze hinter sich, Gotscheff auch. Gleich Gotscheffs zweite Kölner Inszenierung ist ein solcher Absturz: „Emilia Galotti“ kombiniert mit Müllers Hydratext und schon verkriechen sich alle Trendscouts wieder in ihren Löchern (Ausnahmen wie Henning Rischbieter bestätigen die Regel). Aber Gotscheff hat das nicht weiter erschüttert: er hat sich auf den „Quartett“-Triumph nicht viel eingebildet, und so trifft ihn auch die Niederlage nicht mit voller Wucht. Er kennt sich selbst in seinen Gefährdungen, aber auch die westliche Raubtiermentalität und hält sie sich vom Leib so gut es eben geht. Er hat keine Angst, oder doch: er hat eine einzige zentrale Angst: es ist die, seinen eigenen Ansprüchen an den schöpferischen Prozeß nicht zu genügen. Deswegen sind seine Proben eine einzige krisengeschüttelte Suchbewegung. Als Gotscheff 1993 in Düsseldorf "Woyzeck" inszeniert, übrigens eine seiner bis heute absolut besten Inszenierungen, schweigt die ganze Truppe eine halbe Stunde, eine Ewigkeit also, Gotscheffs Kopf ist vor lauter Grübelei längst unter die Tischkante gesunken. Als es einer nicht mehr aushält und eine halbwegs brauchbare Idee produziert, öffnet Gotscheff seine müden Augen und sagt: "Hättest du besser geschwiegen. Los Leute, schweigen wir weiter." Und es wird weitergeschwiegen. Noch heute gibt es nicht wenige Inszenierungen, die Intendanten noch bei der Hauptprobe am liebsten absetzen würden und ihn mit fragwürdigen „Regietips“ beleidigen. Das muß man aushalten können.
Gotscheffs künstlerische Kompromißlosigkeit rührt aus seiner Kenntnis der Existenz der Kreatur. Ihre Grundlage ist nicht das Soziale, sondern das Archaische und in gewissem Sinne ihre Asozialität. Noch einmal Büchners "Woyzeck": "Mensch, du bist geschaffe Staub, Sand, Dreck. Willlst du mehr sein als Staub, Sand, Dreck?" Über den Menschen macht sich Gotscheff keine Illusionen, über die Gesellschaft auch nicht, egal ob es eine westliche oder östliche ist. Seine Vision ist der Untergang unserer Gesellschaften durch den Ansturm der dritten Welt, den Woyzecks, die irgendwann aufhören uns Hauptmänner zu rasieren: "In Westeuropa wird keine neue Utopie entstehen. Aber vielleicht ist der Hunger in der Dritten Welt bald so groß, daß man überhaupt keine Utopie braucht, um zu handeln. Daß die Wut so groß wird, daß sich die Dritte Welt wie ein Heuschreckenschwarm auf Europa wirft. Müller schweigt jetzt, weil für die Tamilen die Zeit angebrochen ist, zu schreiben. So übersetze ich mir auch das Gequatsche vieler Gegenwartsautoren, die sich mit einer verstümmelten Sprache über die Probleme der Wirklichkeit ausbreiten, ohne eine tragische Wirklichkeit zu berühren."(Gespräch mit Theater der Zeit, 1993)

Gotscheffs Ästhetik
Wenn man Gotscheff bittet, sein ästhetisches Prinzip zu erläutern, zitiert er gern Benno Besson, der sinngemäß gesagt hat, Theater habe nichts mit Wirklichkeit zu tun. Wenn man das wisse, könne Theater sehr viel über die Wirklichkeit erzählen. D.h. nichts anderes, als daß das Theater eine gesellschaftliche Wirkung und auch Wirklichkeit sucht, aber dafür eine autonome Sprache braucht. Dieses Besson-Prinzip ist eines, das Gotscheff mit anderen Dinosauriern des längst untergegangenen DDR-Theaters verbindet: mit Fritz Marquardt, Jürgen Gosch, Einar Schleef, etc. Die Gesellschaftlichkeit der Theatererzählung entsteht bei ihnen nicht aus (anbiederndem) Realismus, sondern aus einem autonomen Formprinzip, das nicht vornehmlich Spiegel, sondern Extrakt der Wirklichkeit sein will. Traditionell psychologisierende Menschendarstellungen sind diesem Theater fremd.
Konstanten der Gotscheff-Ästhetik sind: die Reduktion auf eine Fläche (die oft leere Bühne); der Körper, der auf der Fläche im spezifischen psychischen Ausdruck zur explosiven Skulptur wird; die Sprache, die der Körper ausstößt wie andere organische Dämpfe auch, die Sprache als Operettengesang des Egos sowie die Sprache als expressionistischer Schrei der Kreatur, mal markerschütternd laut, mal so still, daß einem angesichts der Intensität der Atem stockt. Ein Bühnenbild im klassischen Sinne muß sich bei Gotscheff – Bühnenbildner wie Katrin Brack, Achim Römer, Penelope Wehrli oder Bert Neumann können ein Lied davon singen – seine Berechtigung erst hart erarbeiten. Lieber keins als die Illustration von Absichten oder Inhalten, es muß selbst eine eigene Sprache sprechen, Kunst sein. Die Bühne ist die Bühne ist Kunst. Stühle als einziges Requisit, der Vorhang als zweites kasperletheaterhaftes Element, der mittige Auftritt als Bekenntnis zur Geometrie des Raums. Die Fragmentarisierung des dramatischen Kontinuums. Schließlich die Schauspieler: sie geben ihm die Energie, ohne die er ein Nichts ist: Almut Zilcher, seine Frau, österreichische Spezialistin für die Décadence von Herrschaftsfiguren, die in ihrer Monstrosität immer einen Rest von Unschuld bewahren (Orsina in "Emilia Galotti", "Fräulein Julie" etc.), Samuel Fintzi, ein bulgarischer Schauspieler, der, als er nach Deutschland kam, kaum deutsch konnte, hat sein slapstickgeprägtes Spektrum um Charakterdarstellungen erweitert, ist jetzt Commedia-Figur („Volpone") und Charakter("Iwanow"); andere Konstanten sind bzw. waren: Bernd Grawert, Matthias Leja, Sepp Bierbichler, Wolfram Koch, Birgit Minichmayr, Margit Bendokat. Schließlich die Konfiguration bzw. Choreographie der Schauspieler im Raum: Der Einzelne in seiner Vervielfältigung zum Chor, der Chor in seiner Reduzierung auf einen einzigen Schauspieler, der Chor als in Individuen aufgelöste, kakophonische Gruppe mit tanztheatralischen Elementen, der eine Einzelne und sein konzentrierter Monolog, der Einzelne im Verhältnis zur Gruppe, zwei sich ineinander verkrallende Körper etc. Stets sind es formale Extremkonstellationen, die Gotscheff sucht. Das ergibt oft starke Verdichtungen, ist aber von der Gefahr des postbrechtischen Theaters, der Neigung zur reinen Form, zu Formalismus und Manier nicht immer frei. Dann dominiert das Zeigen das Sein, die ästhetische Ideologisierung das Erzählen. Das ist auch Gotscheff immer wieder passiert. In einem gedanken- und stillosen Realismus, der über die Abbildung nie wirklich hinauskommt, verliert er sich dagegen nie. Es würde sich vielleicht einmal lohnen, Gotscheff mit dem Instrumentarium der berühmten „Expressionismusdebatte“ der Dreißiger Jahre, in der Georg Lukacs, Brecht u.a. um Realismus und Form stritten, zu untersuchen…
Gotscheffs Instrumentarium, über diese alten Frontstellungen hinauszukommen, ist Artaud, und vor allem natürlich Heiner Müller, der als Autor das umsetzt, was Gotscheff als Regisseur sucht.
Aber - das muß einfach einmal gesagt werden - nicht nur Gotscheff schlägt sich mit dem Problem von Formalismus und Realismus herum, sondern auf etwas lächerliche Weise auch der deutsche Kulturbetrieb. Denn daß Gotscheff ausgerechnet jetzt ausgerechnet in Berlin, seiner alten Angsthaßstadt, die er lange gemieden hat wie der Teufel das Weihwasser, zum neuen Regiestar ausgerufen wird, ist lustig und erzählt wenig über Gotscheff, aber um so mehr über die Betriebsnudeleien des Zeitgeistes. Denn Gotscheff hat (abgesehen davon, daß er wie jeder nicht immer gut war) in Köln, Düsseldorf, Basel, Hannover, Bochum und Hamburg im Kern nie anders gearbeitet hat als jetzt und wird plötzlich von zum Teil den gleichen Leuten, die vor 15 Jahren über ihn die Nase gerümpft haben, mit Eifer hochgeschrieben. Der Grund kann eigentlich nur sein, daß die Sehnsucht nach Neorealismus in den unterschiedlichsten Schattierungen, von Dogma bis zum holländisch-belgischen Stil, sich erschöpft hat und ebenso auf dem Rückmarsch ist wie das jugendkulturelle Poptheater. In solchen Zeiten wächst einem, der immer nur Außenseiter war, plötzlich Klassizität zu, und der ehemalige underdog wird mit seinen Inszenierungen nach Paris, Moskau und Los Angeles eingeladen. Man entkommt seinem Schicksal eben nicht, das gilt auch für Bulgaren. Ich sehe, wie Gotscheff grinst, wenn er das liest. Und anschließend grübelt: der Veterinär bei der Arbeit.

Fetzen zu Inszenierungen:

„Quartett“ (Köln 1985): Gotscheffs Menschenzoo (siehe oben). In Gipskostümen steckende Lemuren, die sich aus Achim Römers Gipslandschaft erheben. Sie spreizen sich wie Pfaue und singen ihre Raubtierarien. Der fremde Gotscheff zeigt die Perversität des Westens.- Backstage: Wir erheben den oft gekrümmt gehenden Fremdling, der sich am liebsten hinter seinem haarigen Vorhang und Whiskey verbirgt, zum Märtyrer: Sein Magengeschwür ist das Leid an der (kapitalistischen) Welt. Und er tut das seine dazu, daß wir ihn so sehen können...

„Emilia Galotti“ (Köln 1986): Ein Mißverständnis. „Lessing Schlaf Traum Schrei“ ist eine Lessing-Übermalung von Müller. Ästhetisch auf Originaltexte angewendet wird sie problematisch. Denn Lessing ist luzide, klar, vernünftig, heiter, selbst im bürgerlichen Trauerspiel. Gotscheff verliert sich im Bühnenraum des großen Hauses. Der vorangestellte „Hydra“-Text von Müller eine heillose Überfrachtung. Scheitern. Gotscheff braucht andere Texte. Und andere Räume.

„Carmen Kittel“ (Düsseldorf 1990): Gotscheffs Vorschlag für die Modemetropole Düsseldorf: ein Stück über Arbeiter in der Kartoffelfabrik/DDR. Probenbeginn und Mauerfall fallen zusammen. Ihn beeindruckt das nicht, er ahnt neue Idiotien: „Ich glaube nicht, daß Carmens Traum der Westen ist. Carmens Träume sind auf das Menschliche gerichtet. Sie hat ein Fleisch, das noch zuckt.“ Georg Seidels Perspektive ist, kurz vor seinem Tod, noch die DDR: „Wir haben uns alle zwangsläufig immer mehr in die Metapher, in eine gehobene Sklavensprache hineingeschrieben. Wir haben ein bißchen zu sehr für die Ewigkeit geschrieben.“ Gotscheff überhöht und konkretisiert, riecht im Text Büchner. Das expressive Sozialstück um eine heutige Piperkarcka, einen weiblichen Woyzeck als Weltzustand: Tänze auf einem großen Eisentrapez und darunter: Müll. Der Wille zu leben und die Angst zu ersticken. Der letzte Satz des Stückes „mußt atmen, mußt atmen, atmen, atmen.“ Der Sarkasmus des Fremdlings Gotscheff gegen den hochnäsigen Westen, der den Osten besiegt hat: „Das Bewußtsein hier ist genau drei Meter hoch, denn so hoch reichen die Schaufenster der Kaufhäuser.“ Der Rest ist Wüste.

„Fräulein Julie“ (Köln 1991): Eine triumphale Arbeit samt Ritterschlag durchs Berliner Theatertreffen. Gotscheff zeigt, beckett- und genetgeschult die Mechanismen der Herrschaft, nicht oben (wie in „Quartett“), nicht unten (wie in „Carmen Kittel“), sondern oben und unten: Die perversen Herrschaftsrituale von Jean und Julie, beide einsame Raubtiere wie Merteuil und Valmont, festsitzend im Gefängnis ihrer selbst, und die Bediente, ein Kretin, ohne Kraft zur Gegenwehr. Lust-Macht-Spiel-Kämpfe. Kein Milieu.

„Die schöne Fremde“ (Düsseldorf 1992): Nicht oben, nicht unten, nicht oben und unten, sondern das kleinbürgerliche Bestiarium der Mitte: die Provinz der Bebraiden, hessisches Zonenrandgebiet. Nach der Premiere: Triumphaler Applaus und ein wütender Klaus Pohl, der sein Stück nicht wiedererkennt. Es dauert lange, bis der Verleger Karlheinz Braun das erlösende Zeichen gibt: Die Uraufführung wird nicht verboten! Der Autor säuft mit Gotscheff die Kantine leer. Pohls Bilanz am Katertag danach: „Selten habe ich das Futter eines meiner Stücke so gnadenlos wie theatralisch nach außen gestülpt gesehen! Verehrung!“ Gotscheff hat aus der realistischen Kolportage eine psychotisch aufgepumpte Kasperliade, einen grand guignol gemacht. Wie entsteht so etwas? Aus einem einzigen Punkt, einer für Gotscheff schier unlösbaren Fragestellung: Der Autor sieht einen Schäferhund vor. Theater aber ist nicht Natur, sondern ihre Übersetzung in Kunst. Gotscheff sucht den Kern, der Hund ist das deutsche Wesen, eine vergoldete Krüppelbestie, gespielt von einem Schauspieler. Das ästhetisch Erzählsystem kippt komplett, aber: in die richtige Richtung.

„Leonce und Lena“ (Düsseldorf 1992): Hans-Joachim Schlieker, der schon Müllers „Macbeth“ in Berlin ausgestattet hat, entwirft einen gigantischen, vielfach gestaffelten weißen Kasten: Eine vielhäutige, nie enden wollende Zwiebel: hinter jeder Schale eine neue, und zum Abschluß in der Tiefe des riesigen Raumes eine weiße Wand: das Nichts. So inszeniert Gotscheff das auch. Lustig ist an diesem Lustspiel nichts, nur konstruierte, in Künstlichkeit kunstvoll gefangene Menschenpuppen und erstmals: die Gesellschaft als Chor auf Stühlen. Falsettstimmen. Während der Schlußproben kommentiert Heiner Müller im Gespräch mit dem Dramaturgen: „Es gibt einen Satz von Baudelaire: „Langeweile ist der auf die Zeit verteilte Schmerz.“ Das finde ich ganz gut. Das wäre auch ein Blick auf „Leonce und Lena“.“ Gotscheff, der Büchner für die Bulgaren übersetzt hat, übersetzt ihn ein zweites Mal: diesmal für die übersättigten Deutschen. Keine erfolgreiche, aber eine kongeniale (und im übrigen "werktreue") Aufführung: „Leonce und Lena“ ist schon bei Büchner ein einziger zitatengespickt-bösartiger Abgesang auf das ennui der Romantik. Der Mensch als Zitat. Keine Psychologie, sondern Textmaschinen. Jede Psychologisierung wäre Verblödung.

„Woyzeck“ (Düsseldorf, 1993): prototypisch für Gotscheffs Scheitern und Gelingen: Gotscheff sucht unmittelbar im Anschluß an "Leonce und Lena" in "Woyzeck" das Gegenbild. Aber er kommt mit den Schauspielern nicht klar. Statt umzubesetzen – das bringt er bis heute zum Schaden der Sache nicht übers Herz - bricht er die Arbeit ab und nimmt das Scheitern auf sich. Vorsatz, die Arbeit in neuer Konstellation wieder anzugehen. Aber auch beim zweiten Mal: eine einzige Dauerkrise. Nichtbegreifen der Gotscheffschen Regiesprache: Wie kann ich als Marie die nächste Szene spielen, wenn ich die ganze Zeit auf der Bühne sitzend sehe, was Woyzeck erlebt? Wer bin ich da? Schauspielerin? Figur? In den Endproben explodiert Gotscheff, springt mit einem Satz auf einen Stuhl, der Sitz bricht, Gotscheff brüllt: "Gucken wir mit Büchner auf Büchner durch Büchner durch." Plötzlich Stille in der Kantine. Niemand hat verstanden, aber alle haben begriffen. Die Premiere wird noch einmal verschoben. Betriebsintern ist das umstritten. Machtwort des Intendanten Volker Canaris: „Ich will nicht in die Düsseldorfer Theatergeschichte eingehen, weil ich irgendeinen „Woyzeck“ pünktlich herausgebracht habe, sondern weil ich irgendwann einen herausragenden „Woyzeck“ produziert habe." Und so kam es dann auch – ein Triumph. Das Ergebnis, ein Abend, der ästhetisch auch heute noch Bestand hätte, und die (gerade bei "Woyzeck") nicht seltene Täter-Opfer-Melodramatik aushebelt: Woyzeck ist selbst Mittäter, Konformist, Opportunist, Erlösung nicht in Sicht, hängt am Hauptmann wie ein Idiot. Woyzeck ist ein Modell, Marie auch. Aus der kleinen Geschichte ihrer Untreue wird der Aufschrei einer Frau, die gegen die Verhältnisse nach Leben giert. Die Schauspieler als Stuhlreihe, die auf die Bühne starren, wie auf ein Bild, die Schauspieler auf der Fläche als Teil des Bildes: Choreographie von Körpern (Gotscheff würde sagen "Amöben"). Ein "Karneval des Unbewußten" (El Tiempo, Bogota). Gotscheff, der sonst fragmentarisiert, wo er kann, hat ausgerechnet "Woyzeck" zu einem rauschhaften Kontinuum montiert: Umdrehung seines angestammten ästhetischen Verfahrens. Und eine unglaubliche Lösung für den Mord: Wie ein Messer klappen die zur Mordmaschine verschmolzenen atemlosen Körper auf und zu, zugleich Ausdruck der zur Maschine verkommenen Kreatur wie auch des zu einer Sekunde gebündelten humanen Schmerz: puppenhaft-erstarrt das Gesicht Maries, vom Mordwahn verzerrt der Ausdruck Woyzecks.

„Die Möwe“ (Köln, 1993): statt des rohen Eisenraumes der Unterklasse und der Kasperlebühne fürs Kleinbürgertum jetzt eine in gigantische Stufen gestaffelte Theaterbühne für die upper class. Die Welt als Theater. Und die Melodramatik derer, die sie bevölkern. Arkadinas Raum, die Welt einer absterbenden Klasse, die die Welt nur als die eigene Bühne denken kann. Tschechow mutig radikalisiert und auf den Punkt gebracht. Nur zwischendurch ersticken der Gestus des Zeigens und die ästhetische Imposanz Gotscheffs Anliegen.

„Die vom Himmel Vergessenen“ (Düsseldorf, 1994): Ein Abend über Hundertzehn- und Hundertzwanzigjährige, die in dem bulgarischen Rhodopengebirge, meist vor Jahrzehnten erblindet, auf der Schwelle zwischen Leben und Tod leben. Der Vorschlag, mit einem LKW einen echten Felsbrocken aus den Rhodopen zu holen, wird von Gotscheff abgelehnt. Er will das Gegenteil: Theatralische Realität durch fehlende Authentizität. Junge Schauspieler spielen die dokumentarischen Erzählungen der bulgarischen Ethnologin Ekaterina Tomowa. Ein umgehängter Theaterbart, eine ausgeschnittene Papiermaske reichen aus, um vom Anekdotischen zum Exemplarischen, vom ethnologischen Milieu zur Berührung mit dem antiken Mythos zu kommen.

„Ein Monat in Dachau“ (Düsseldorf 1995): Der Dramaturg ist schuld: "Gotscheff, mach das, es ist vollkommen unmöglich, aber wenn, dann du." Die Erzählung des russischen Konzeptualisten Vladimir Sorokin, die zu Theater wird und eine einzige Zumutung ist, zeigt in 26 Zellen und Foltermomenten die Perpetuierung der Selbstunterwerfungslust der Russen unter die Deutschen, des "masochistischen Prinzips unter das sadistische" und steigert sich zu einer kannibalistischen Hochzeit des Totalitären: russischer Schriftsteller und die deutsche Lageraufseherin Margarete/Gretchen. Sorokin hebt die deutsche Niederlage in Stalingrad in einer bösartigen Horrorphantasie auf. Gotscheff nähert sich Sorokins psychoanalytischen Politprovokation mit zärtlicher Grausamkeit, bebildert nicht und erfindet das postdramatische Theater, bevor es Mode wird. Gotscheffs Inszenierung ist mal artifizielle Versuchsanordnung, mal von expressiver Identifikation, dann parodistische Entlarvung und schließlich liturgiehaftes Trauerritual. Ein skizzenhafter Abend, eine mit viel Psyche aufgeladene Textfolter, die süßlichen Ekelgenuß bereitet und unser Jahrhundert trifft. Ich erinnere, wie Almut Zilchers Gretchen/Margarete beinahe übergangslos von einer Jeff-Koons-Ikone, die sich narzißtisch die Nägel lackiert, zum Opfer von Elektroschocks wird, wie der Körper sich in konvulsivischen Zuckungen auflöst und im Leid seine Würde zurückgewinnt. Gotscheff findet mehr als deutsch-russische Verhältnisse.
8. Mai 2005, Gastspiel mit Sorokins „Monat in Dachau in Moskau, beklemmende Gefühle: Draußen auf den Straßen von Europas größter Metropole feiert ganz Rußland mit der internationalen Staatengemeinschaft den 50. Jahrestag der Befreiung von den Deutschen. Millionen Menschen, Veteranen, Stalin-Anhänger, russisch-orthodoxe Christen, Asiaten und mitten drin der von Bodyguards umgebene russische Rechtspopulist Schirinowski, gesehen vom Fenster des ehemaligen Interhotels, wo es zum Frühstück immer noch trocken Brot gibt während die Oligarchen Kaviar fressen. Für die Bevölkerung dagegen ist selbst die erste, gerade eröffnete MacDonalds-Filiale zu teuer. Umlagert ist sie trotzdem. Und der Himmel über der Stadt? Mit Chemiekeulen zu einem strahlend blauen Frühsommertag freigebombt. Gegen Abend dann ziehen die künstlich ferngehaltenen Regenwolken auf. Drinnen im Moskauer Künstlertheater: das deutsch-russische Sado-Maso-Spiel, von einem Russen geschrieben, von einem Bulgaren inszeniert, von einem deutschen Theater aufgeführt, als Gastspiel in Moskau.

„Der Kirschgarten“ (Düsseldorf 1995): Wie Tschechow spielen? Gotscheff gibt zwei Antworten. Eine durch die von ihm vorgeschlagene Einladung seines Landsmann Moskov, die andere in seiner eigenen Inszenierung des "Kirschgarten". Firs ist ein junger Mann, früh vergreist -eine der Spielarten, wie Gotscheff das Modell sucht statt Biologie, die Geriatrie der Gesellschaft statt das Geriatrische an sich. Gotscheff zeigt sie komödiantisch, ohne daß sie ist: Man braucht – siehe auch „Die vom Himmel Vergessenen“ - keine Alten, um Alter darzustellen. Firs frißt Kirschen aus dem Einmachglas, frißt seine herrliche Vergangenheit auf. Doppelrolle mit der Artistin Carlotta Ivanovna, oder ist das doch die gleiche Figur? Die Bühne ist die Welt ist das Theater: rundum mit roten Vorhängen ausgehängt. Der Gaev-Rede an den Schrank treibt er jede Sentimentalität restlos aus, das ist Gotscheffs Antibürgerlichkeit, keine Liebe zu derlei Anwandlungen. Zeitgleich findet im Großen Haus das Gegenprogramm zu seiner schrillen Grimmigkeit statt: der bulgarische Monthy Python Teddy Moskov bringt ebenfalls einen antinaturalistischen Tschechow heraus. Ein schwebendes Karussell, das mit Leichtigkeit zum Schwingen kommt. Das ist nicht Gotscheffs Sache, aber er achtet es.

„Bruchstücke. Frühe und letzte Texte“ (Düsseldorf 1996): Heiner Müller stirbt am vorletzten Tag des Jahres 1995. Die Aufführung, eine Reaktion auf den Tod von Heiner Müller, wird nicht zur Weihestunde, im Gegenteil. Gotscheffs Sprache ist die des Theaters, der Unterhaltung. Ein paar abgewetzte Kinosessel, ein paar Clownsnasen und ein paar Schauspieler, die mit Dadawitz, Charme und Trauer alte und neue, bisher unveröffentlichte Texte von Müller machen. Gotscheffs Sehnsucht nach Leichtigkeit erfüllt sich ausgerechnet mit Müller und kann sich sogar auf ihn berufen: "Ein Rudel Schauspieler" heißt es in "Landschaft mit Argonauten" - das ist der Ausgangspunkt für die Arbeit. Ein kleiner, schöner Abend, dazwischen musikalische Explosionen von Willi Kellers. Gotscheff delegiert Härte, Schärfe und Schock an die Musik, erspart so seinen Schauspielern das "Glotzt nicht so romantisch."

"Germania 3. Gespenster am toten Mann" (Hamburg 1997): Gotscheff radikalisiert seine "Bruchstücke", wird freier und entgrenzender, unideologischer in seiner Ästhetik. Ein neuer Schritt, so radikal von ihm bisher nicht gesehen. Eine Revue unterschiedlichster Ästhetiken, Patchwork von Möglichkeiten in einem offenen Text. Die Freejazzmusiker Peter Brötzmann und Willi Kellers sind diesmal nicht kontrapunktische Energie, sondern Teil des selbst schon freejazzartig offenen Abends.

„König Lear“ (Hamburg 1999): Gotscheff scheitert an einem Schauspieler, den er liebt: an Sepp Bierbichler. Man sieht Gotscheffs Gestaltungswillen, aber er kommt nicht zu sich selbst - ausgerechnet bei diesem Stoff, der ihn bewegt wie kaum ein anderer.

„Viridiana“ (Wien 2000): Gotscheffs Begabung, Stille und Konzentration zu erzeugen, eine bürgerliche Welt ernst zu nehmen und sie in ihrer Todessehnsucht zu bezeichnen, in konzentriert-reduktionistischer Weise ausschließlich auf das Spiel von Martin Schwab, Annette Paulmann und Andrea Clausen setzend. Gotscheff ist so psychologisch wie selten. Scheitern dagegen im zweiten Teil, wo die Bettler und Outcasts in diese Welt eindringen. Gotscheffs schafft es nicht, Gesellschaft als entgrenzte anarchische Masse zuzulassen, findet aber auch keine Form. Der Hang zur formalen Lösung aus Angst und das Wissen, daß dies falsch ist.

„Das Pulverfaß“ (Graz, steirischer Herbst 2000) von Dejan Dukovski: Tausende von Äpfeln rollen die Bühnenschräge herunter, machen rumpelnd und pumpelnd ihr Geräusch, minutenlang. Ich könnte heulen, warum weiß ich nicht. Dann eine slowenisch-österreichische Bigband, die in ihrer Energie an Kusturica erinnert, grell und kräftig. Stellvertretend für die Schauspieler explodiert in der Musik die Psyche der Figuren. Fragmentarisierte Fetzen vom Balkan, erzählt von einem mazedonischen Autor, verdichtet von einem Bulgaren, an seinen Angang an Büchners "Woyzeck" erinnernd. Kleine Geschichten, Skizzen, abermals Giacomettifiguren, die einsam die große leere, Richtung Zuschauer gekippte Fläche bevölkern.

„Der Leutnant von Inishmore“ (Wien 2002) von Martin Mc Donagh: Gotscheff befreit das Stück vom Naturalismus. Das scheint angesichts des realen Settings, wie so oft völlig unmöglich, und es geht doch: Statt Wohnküchen und Ähnlichem erfindet Katrin Brack eine gigantische Hechselmaschine, die ihren Papierschleim wenig kontrolliert auf die Bühne spuckt. Das Eigenleben der Maschine ist, wie später bei "Iwanow", Kontrapunkt zu Gotscheffs Sehnsucht nach formal genauem Spiel, befreit die Darsteller. Gotscheff traut sich, einen Feind seines Formalismus erfinden zu lassen. Gotscheffs musikalische Phase: wieder eine chaotisch-anarchistische Live-Musikband, die der kruden Terrorismusfarce - durch den Tod einer Katze kommt eine gigantische Rachemaschinerie in Gang - neben der aleatorischen Bühne sogar ein zweites Prinzip hinzufügt, das sich der Ordnung widersetzt. Selten ist Gotscheff so frei.

„Tod des Handlungsreisenden“ (Deutsches Theater, 2003): Eine unspektakulär-spektakuläre Arbeit. Gotscheff verweigert sich dem melodramatischen Milieu Amerikas. Aber wie! Er sucht in der Familiensaga das Exemplarische: „In diesem Text von Arthur Miller stecken Archetypen, denen man über den amerikanischen Traum hinaus auch überall in der westlichen Welt begegnen kann." Das Bühnenbild: eine streng fokussierende Fotoblende, die plötzlich und immer wieder grell aufreißt und den Blick auf eine uniformierte Gesellschaft, einen geschlossenen Chor in weißen Yuppie-Anzügen, auf eine Texte skandierende Außenwelt freigibt. Nie wurde anhand dieses Stücks der Untergang des sentimentalen Kleinbürgertums gnadenloser exekutiert als hier. Selten aber auch hatte Gotscheff so viel Mitgefühl mit dem Untergang dieser Klasse.

„Salome“ von Oscar Wilde/Gerhard Rühm (Wien 2004): Seine prinzipielle Unfähigkeit, Schauspieler, mit denen er nicht kann, umzubesetzen. Feigheit? Grenzenlose Schauspielerliebe? Depression angesichts der Tatsache, daß er sich nicht verständlich machen kann? Ersticken der Arbeit im Kunstkunsten. Die perverse Welt von Herodes und Herodias bleibt nur dekadent, findet nicht zu psychischen Innenräumen.

„Iwanow“ (Volksbühne Berlin, 2005): Gotscheffs dritte Tschechowinszenierung in Deutschland, jede stilistisch anders. Wieder von Katrin Brack – eine geniale Bühne, die sich dem Gotscheffschen Gestaltungswillen entzieht: Bühnennebel, der sich entsprechend der jeweiligen Thermik verhält, und sich inszenatorischem Kalkül verweigert. Eine produktiv-geniale Frechheit. Die Tschechowgesellschaft als Gruppe von Individuen, ein aufgelöster Chor bzw. ein sich blind verstehendes kammermusikalisches Ensemble.

„Volpone“ (Deutsches Theater, 2006): Gotscheff streift seine Hermetik weiter ab. Immer noch der Veterinärmediziner Gotscheff: Volpone plustert sich mit einem Pfauenrad. Ein schönes Pfauenrad, der zweite Blick verrät: er ist ein ans Pfauenhafte Gekreuzigter- Gotscheffs Kompressionskunst: in einem Bild das ganze Stück.

„Die Perser“ (Deutsches Theater, 2007): Gotscheff braucht für die Darstellung von Krieg keine mit Leichen übersäte Bühne, kein Blut, keine Waffen, keinen Kriegslärm, kein Video, nichts außer zwei Politiker in weißgestärkten Hemden, die eine drehbare Wand zentimeterweise verrücken und darüber in Streit geraten: Täter, die einen Krieg beginnen, irgendeinen der tausenden Kriege, die es auf der Welt seit den „Persern“ gibt. Gotscheff erzählt, wie immer, mit den Mitteln des Theaters, zwischen Naivität und Kunstbehauptung. Szenische Belege für Aktualität braucht er nicht, der Irakkrieg findet im Kopf des Zuschauers statt. Insgesamt kommt die Aufführung, Atossa eingeschlossen, durch ästhetische Verschiebungen (der Bote wird verdoppelt, der Chor zum Monolog einer Frau) mit sagenhaften vier Schauspielern aus, wo andere Heerscharen beschäftigen würden. Ein Beispiel für Gotscheffs extrem verdichtenden Reduktionismus wie für seine Suche nach der zeitlosen Parabel. Ein Abend konzentrierter Stille: vier Körper, eine Wand, der Text, keine Musik nirgends.

Aus: Peter Staatsmann, Bettina Schültke (Hg): Das Schweigen des Theaters - Der Regisseur Dimiter Gotscheff. Vorwerk Verlag. Berlin 2008 


Joachim Lux