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Othello - Jetzt wird zurück gefickt

Um es vorweg zu nehmen, ein großartiger Theater-Abend. Mit grandiosen Schauspielern, Thomas Thieme als Othello, Bernd Grawert als Rodrigo und Wolfgang Pregler als Jago, begleitet von Jens Thomas am Flügel, genial. Mit unverschämten Dialogen der Autoren Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, direkt in die Fresse der Bildungsbürger. Wie bei einer Bukkake-Party schießen die Worte, Fotze, Fötzchen, ficken, verfickt, Schwuchtel, Neger, Bimbo usw. in die Gesichter des Publikums. Und was macht das Publikum? Es lacht. Es lacht.

Der dicke Mann neben mir rutscht nervös auf seinem Sitz, er reibt sich die Oberschenkel. Ob er sich wohl verhört hat? Hat er nicht. Die Anspannung weicht aus seinem Gesicht, er lächelt und schwitzt. Er tropft wie ein Kieslaster, dieser Fettsack. Wahrscheinlich hat er ein Déjà-vécu von seinem letzten Thailand-Urlaub.

Luk Percevals Othello ist brutal, aber wir leben auch in brutalen Zeiten und das Existentielle ist in jeder Naht und Narbe sichtbar. Perceval verzichtete auf eine langweilige Werktreue, dass dem Publikum eine gewisse Sicherheit vorgaukelt, zugunsten einer Bereitschaft den Herausforderungen der gesellschaftspolitischen Fragen zu begegnen. Kein didaktischer Moralismus sondern Deleuze’s visionäre Überlegungen von Widerstandsartikulation, die noch nicht in institutionellen Oppositionen kristallisiert ist.

Es ist ein Kampf gegen Autoritäten und die Bereitschaft, Risiken einzugehen um Momente der Wahrheit freizusetzen. Dieser Othello spiegelt ein Gesellschaftsbild, das gesättigt ist mit dominierend-destruktiver männlicher Sexualität. Kulturelle Hegemonie bildet die wesentliche Voraussetzung der bürgerlichen Herrschaft. Sie stützt sich auf das Bestehen eines Konsens über die zentralen gesellschaftlichen Werte und Normen. Der Zuschauer dieses Stücks generiert zur temporären autonomen Zone, denn er befindet sich mitten im Ringkampf um kulturelle und politische Hegemonie.

Der wesentlichste Aspekt in unserer westlichen Gesellschaft ist die Begriffsbildung. Ziel muss es sein, die Diskussion, also den öffentlichen Meinungsbildungsprozess über den Konfliktgegenstand zu verbreitern und zu intensivieren, um über eine breitere Debatte die Entwicklung nicht zu verhindern. Eine konformistische Kultur zerstört alles, was sie berührt und die Sprache gehört zu den ersten Dingen die zugrunde gehen. Die meisten Wörter haben ihre emotionale Wirkung verloren, ihre Intimität, ihre Fähigkeit etwas auf den Punkt zu bringen. Die Sprache verhindert die Kommunikation. Ein Wort gibt es jedoch, das die Gesellschaft nicht zerstört hat. Es hat seine emotionale Kraft und Reinheit behalten. Die Gesellschaft kann es nicht zerstören, weil sie es nicht wagt, es zu benutzen. Man sagt dieses Wort einfach nicht. Es ist das letzte Wort, das uns gehört: „Ficken“

Ficken ist ein unanständiges Wort, weil man meistens nackt ist, wenn man fickt. Weil man bei einem guten Fick loslässt, alles vergisst und keine Kontrolle mehr über sich hat. Und außerdem macht es Spaß.

Dieser Othello und die verschiedenen Formen des Wortes „ficken“ haben ihre emotionale Kraft und Reinheit behalten, denn am Ende siegt die Wahrheit. Mag sein, dass man in Winterhude und Blankenese nicht so spricht, aber Othellos Drama bleibt auch nicht nur den Privilegierten vorbehalten. Liebe und Eifersucht gibt es auch in Jenfeld und Billstedt.

Ich hoffe, ihr habt aufgepasst, wenn Eure Tochter mit einem Nicht-Bio-Deutschen zum Weihnachtsfest nachhause kommt. Ihr seid ja keine Schwuchteln, oder?! Bleibt die Hoffnung, dass durch Percevals kritische Othello Inszenierung der eine oder andere Besucher mit einem diskursiven Schluckauf nach Hause geht.

Florian Waldvogel ist Direktor des Hamburger Kunstvereins


Florian Waldvogel