Laudatio von Kla
us Völker anlässlich der Ve
rleihung des Kurt-Hübner-Pre
ises an Antú Romero Nunes

Erschienen am 18. Mai 2012 in der Neuen Zürcher Zeitung

 

Mit 28 Jahren ist Antú Romero Nunes für heutige Verhältnisse tatsächlich noch jung – und seine Karriere als Regisseur verspricht einiges. Diesen Frühling hat er den Kurt-Hübner-Preis erhalten.

Von Klaus Völker

Die Kritiker, die Antú Romero Nunes das Etikett «Shootingstar» umgehängt und ihn zum Nachwuchsregisseur des Jahres 2010 ausgerufen haben, warten schon auf die Gelegenheit, das Verfallsdatum der Markenzeichen, die sie für ihn bereithielten, zu konstatieren. Aber Nunes geht seinen Weg. Er macht keinen Wind mit Einfällen – er weiss, dass sie nur die Schwächen einer Aufführung kaschieren. Nicht alle der gut zehn Inszenierungen dieses 28-jährigen Regisseurs, die ich im Laufe von drei Spielzeiten sah, waren gelungen. Doch sie riskierten viel, setzten nicht auf «Markenzeichen», ruhten sich nie auf erfolgreich Gelungenem aus. Alle waren lebendig, energiegeladen, den Schauspielern nicht nur eine enorme Lust zum Spiel vermittelnd, sondern auch die Lust zum Denken, zu konkretem Verhalten, auch im Schmerz. Es gibt durchaus viel zu lachen in diesen Inszenierungen, aber der Ernst ist immer gegenwärtig.

Witz, Humor – und Ernst

Besserwisserei gibt es hier nicht. Nunes versteht es, seinen Schauspielern klarzumachen, dass sie nicht vergessen dürfen, wie sehr ihr sprachlicher Ausdruck mit Atmen zu tun hat, dass der Atem sozusagen der Fluss ist, auf dem ihr Boot dahingleiten oder auch schaukeln kann und dass er den ganzen Körper durchdringen muss. Nunes\' Spieler pausieren nicht, stehen immer unter Spannung, wirken aber nicht angespannt oder überdreht. Sein Theater kann didaktisch sein, ist aber nie Mitteilungstheater, sondern stellt Fragen. Dieses fragende Theater muss eine aufregende Beweglichkeit besitzen. Theater ist Spiel und immer auch Leben. Das Leiden an der Welt ist für Nunes der Beweggrund von Theater. Die Erkenntnis, dass Leben verspielt wird, bringt auch Trost und Erleichterung.

Antú Romero Nunes wurde 1983 in Tübingen geboren. Die Mutter, Sozialpädagogin, musste ihre chilenische Heimat verlassen, als dort Pinochet an die Macht kam; der Vater, Portugiese und von Beruf Psychotherapeut, hatte sich beim Salazar-Regime unbeliebt gemacht. Die Eltern lernten sich in Deutschland kennen. Erste Theatererfahrungen sammelte ihr Sohn als Assistent am Regionaltheater Lindenhof in Melchingen sowie in der Off-Theater- und Filmszene Chiles. Von 2005 bis 2009 studierte er dann Regie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst «Ernst Busch». Ein Mentor empfahl ihn ans Maxim-Gorki-Theater, wo er 2009 seine Diplom-Inszenierung «Die Geisterseher» (nach Schiller) herausbringen konnte, eine blitzgescheite, den Text genau interpretierende und in unsere Zeit und Probleme überführende Inszenierung. Ihr Gewicht war die Leichtigkeit, mit der sich die Schauspielerabsolventen seines Jahrgangs, Paul Schröder und Jirka Zett, der Sache hingaben.

Dem Gorki-Theater hat Nunes trotz wachsender Nachfrage von anderswo die Treue gehalten: Der Kurt-Hübner-Preis 2011 gilt seiner dortigen Inszenierung von «Rocco und seine Brüder». Das oft berechtigte Vorurteil gegenüber Filmadaptionen auf der Bühne greift hier nicht. Viscontis Film wird nicht nachgestellt, sondern das archaische Konstrukt, das hinter der Familienkonstellation steckt, wird freigelegt. Nunes schafft für die Figuren theatergerechte Spielsituationen. In der ersten halben Stunde fällt kein einziges Wort, die Schauspieler agieren einen herrlichen Stummfilm und geben dabei dem Theater, was des Theaters ist.

Die Geschichte einer Witwe, die mit ihren vier Söhnen aus dem ländlichen und armen Sizilien in den reichen, industriell boomenden Norden kommt, wird nicht vollständig erzählt. Die Jungs verdienen ihr erstes Geld, angeln sich Freundinnen, feiern Hochzeit oder Erfolge als Profi-Boxer, doch das Auftauchen der Hure Nadja stürzt ihre kleine Welt ins Unglück; ein Bruder wird zum Gewalttäter und reisst auch den idealistisch besonnenen Familienältesten in den Untergang. Sie scheitern alle, bis auf den Jüngsten vielleicht, der am Ende ein anrührendes Lied zu singen beginnt, zu schön, um wahr zu sein, aber hoffnungsfroh.

Zum Spielzeitbeginn inszenierte Nunes in Hamburg am Thalia-Theater Tankred Dorsts «Merlin», jenen eklektischen, spektakulär aufbereiteten und pessimistisch getönten Welterklärungsversuch aus dem Jahr 1979/80, ein weit ausgreifendes Konglomerat von Szenen rund um die Artus-Sage. Nunes verschlankte das Stück beträchtlich, interpretierte es aber ernster und beherzter, nicht so düster, sondern lustvoller als mancher Regiemeister vor ihm.

Bei Nunes wird das grosse Weltmärchen voller Ängste, Träume und Hoffnungen des Menschen ein tolles Clownsstück. Er hat sich nicht einschüchtern lassen von den vielen literarischen Versionen und pseudoreligiösen Adaptionen der ritterlichen Tafelrunde und Gralssuche. Er eifert, wiederum mit Theatermitteln, mehr dem intellektuellen Spott und dem hintergründigen Leichtsinn nach, den Kinoadaptionen des Stoffs wie Monty Pythons «Der Ritter der Kokosnuss» oder Spielbergs «Indiana Jones und der letzte Kreuzzug» haben, und bringt ein gewitztes Lehrstück auf die Bühne, das zum Ausdruck zu bringen versucht, worum es «im Leben» gehen sollte: dem Chaos und der Sinnlosigkeit mit unermüdlichem Spiel zu trotzen.

Etwas zu leicht machte es sich Nunes bei Kleists «Familie Schroffenstein», die er als Teilstück eines Kleist-Festivals im Maxim-Gorki-Theater ins Korsett eines Projekts einfügen musste. Doch auch hier war erkennbar, dass es diesem Regisseur nicht um Jokus oder Spasseffekte zu tun war, er versuchte immerhin, Gefühle, Ängste und Widersprüche skizzierend anzuspielen, sich Kleists Figuren zu stellen, einen szenischen Ausdruck für grosse Worte zu finden und auch Pathos zuzulassen.

Geschichte und Gegenwart

Kürzlich inszenierte Nunes im Gorki-Theater Fritz Katers DDR-Triptychon «Zeit zu lieben, Zeit zu sterben», ein bitteres, aber lässig und unsentimental erzähltes Stück über eine exzessiv ihre Jugend auslebende Generation in einem erstarrten Gesellschaftssystem, die dann mit erheblicher Katerstimmung im Nachwendedeutschland ankommt. Zehn Jahre nach der Uraufführung unternimmt Nunes jetzt den Versuch, das Stück aus heutigem Blickwinkel und nicht DDR-spezifisch auf die Bühne zu bringen. Der erste chorische Teil zeigt die Unbeschwertheit junger Leute, die ihre Rebellion in den Extremen von wilder Anarchie mit Sex und Sauferei und cooler Anpassung auszuleben versteht; der zweite Teil erzählt eine Familiengeschichte im Zeitraffer mit Onkel Breuer, der den in den Westen abgehauenen Vater ersetzen muss und allen seine im Knast gelernte Maxime «nie den Helden spielen» einbläut. Im dritten Teil ist die Mauer weg, das Paradies kann betreten und der Kater ausgelebt werden. Nunes entkonkretisiert die historischen Gegebenheiten und holt das Stück in die Gegenwart seiner Generation. Er versinnlicht das Stück mit einem glänzend eingespielten Schauspielerensemble und der Band Marie & The Red Cat.

Die Spieler treten in sportivem Outfit an, sie agieren virtuos und clownesk, sprechen chorisch, die Texte werden fast wie Songtexte gehandhabt. Und dabei hat die sonst artistische Coolness keine Scheu, dem Gefühlsüberschwang freien Lauf zu lassen. Tempo und eine slapstickartige Comic-Ästhetik verhindern jede Art von DDR-Nostalgie. Es ist vielmehr eine unromantische Bestandsaufnahme universeller Lebensbewältigung durch Systemverweigerung und Anpassungsstrategien. – In seinen Inszenierungen ist Nunes stets darauf bedacht, den Abstand, der uns von der Erlebniswelt der Menschen anderer Zeiten trennt, genau zu vermessen und dem Befund eine spielerische, packende Form zu geben. «Ich mache ja Theater», sagt er, «weil ich etwas suche, das grösser ist als mein Leben.»