Die Kultur, da
s Theater und die K
rise der Politik

Über Unterschiede zwischen deutschem und Wiener Theater

 

Ein Neuankömmling am Wiener Burgtheater sagte unlängst:“ Ja, ich weiß, dass ich jetzt am Stadttheater angekommen bin.“ Unklar blieb, ob dies als Kompliment oder Beleidigung gemeint war – bestenfalls beides. Aber, so steht zu fürchten, man muss sich schon entscheiden.

Richtig ist, dass das Burgtheater kaum je ein Spezialtheater war, etwa als Kristallisationspunkt neuer Kunstbewegungen, sondern immer eher ein „Generalist“. Vielleicht, so ließe sich ironisch (?) anmerken, beruht darauf seit Jahr und Tag auch sein guter Ruf in deutschen Bürgerstuben.

 

Auftragskunst? – Die Stadttheaterkeule

 

Die Frage aber ist, ob die von Kunstavantgardisten geschwungene „Stadttheaterkeule“ überhaupt taugt. Das Stadttheater steht ja für pluralistische Repräsentanz in einer Bürgerstadt. Für den Mischwald, nicht aber für die monokulturelle Aufzucht von Nordlandtannen. Das Burgtheater ist nichts anderes als ein in seinen Funktionen und Aufgabenstellungen vergrößertes, qualitativ hochwertigeres, finanziell erheblich besser ausgestattetes Stadttheater. Oder frei nach Peter von Becker: Stadttheater ist Welttheater. Dies entspricht auch dem kulturpolitischen Auftrag, den das Burgtheater hat: Das Burgtheater soll „österreichisches Nationaltheater“ sein und die „Begegnung mit zeitgenössischer Literatur, ebenso wie mit Werken der etablierten Weltliteratur“ ermöglichen. Es ist eine „repräsentative Bühne der Republik Österreich“.

 

Was aber bedeutet „repräsentieren“?- Was ist ein repräsentatives Bildungsbürgertheater, gibt es auch ein repräsentatives Kiez- oder Off-Theater? Die Antwort ist zunächst einmal: JA! Denn es geht ums „Vertreten“ - um eine quasi-demokratische Spiegelfunktion also, die die Ostberliner Volksbühne für ihre Klientel genauso mit Recht beanspruchen kann wie andere. Das Burgtheater aber hat – wie jedes Stadt- oder Staatstheater – nicht nur eine basisdemokratische Repräsentanz, sondern es ist auch ein von der Macht (des Staates oder der Stadt) abgeleiteter kultureller Faktor. Repräsentanz beinhaltet also auch ein Herrschaftsmoment. Im Duden findet man Begriffe wie „standesgemäß auftreten“, „ehrenvoll“, „würdig“ – assoziativ scheint etwas irgendwie vom Schmutz des Alltags Gereinigtes und Gehobenes, auch Höfisch-Stilvolles gemeint zu sein. (Damit ist die Gefahr der Verengung des Kunst- und Kulturauftrags zur bloßen Auftragskunst gegeben, doch dazu später.)

 

Das hier skizzierte Kerngeschäft funktioniert in Wien weitgehend noch und erschöpft sich durchaus nicht darin, tautologisch den Spiegel einer satten, pazifizierten Gesellschaft abzugeben. An den vier zentralen Säulen, die ein Theater ausmachen, lässt sich die Vielfalt ablesen: Am Spielplan, der Klassiker und Gegenwartstexte in Spannung zueinander setzt; an den extrem heterogenen Handschriften der Regisseure; an den über 1oo Schauspielern, die kein Ensemble Gleichgesinnter sind, sondern eher eine schrecklich große Familie, ein „repräsentativer“ Querschnitt durch die Gesellschaft. Wenn das Pendel in irgendeine Richtung zu heftig ausschlägt, melden sich Gegenkräfte zu Wort: Ein radikalisierendes Element kann das Theater zwar in einzelnen Produktionen werden, als Institution aber sicher nicht. Eine andere Besonderheit: Das Burgtheater hat mehr als irgendwer sonst eine ganze Reihe Schauspieler, in denen sich nach der Übereinkunft des Publikums das Theater mit seiner Kunst der Menschendarstellung repräsentiert, wegen deren exzeptioneller Qualität „man“ ins Theater geht. Last but not least, das Publikum: Das Theater hat noch Breitenwirkung, ist im kulturellen Gedächtnis tief verankert und deshalb auch heute noch oft genug Stadtgespräch, auch bei Taxifahrern. Im Idealfall, der auch in Wien nicht immer eintritt, sitzen jung und alt, rechts und links gemeinsam im gleichen Saal und feiern und streiten – eine breit gefächerte Kommunikationsgemeinde, die es außerhalb des Theaters kaum mehr irgendwo gibt. In Wien bedeutet das: Alljährlich 400.000 Besucher auf 2000 Plätzen an 3 Spielstätten trotz Konkurrenz anderer Schauspielbühnen, die zusammengenommen allabendlich ca. 3000 weitere Plätze anbieten.

 

Kurz: Das Theater ist noch in der Lage, Identität zu stiften – ähnlich wie dies in deutschen Provinzstädten wie Mannheim oder Bonn auch gelingt, die zum Teil mehr Zuschauer haben als manch hochsubventioniertes Metropolentheater. Praktisch bedeutet dies, dass die Abonnementsbindung des noch existierenden Bildungsbürgertums in Wien weitaus stärker ist als in vergleichbaren Städten.

Warum ist das so? Neben der erwähnten Bindung zwischen einem breiten Publikum und den Schauspielern kommen andere Gründe hinzu: die Spezifika einer katholisch-romanisch geprägten Gesellschaft, die Aura des Theaters als Architektur, das „Ostige“ einer noch nicht vom Modernisierungsdruck zerfetzten Sozialstruktur und die erfolgreiche Suche nach Ersatzrepräsentanzen, in denen Rudimente des Höfischen weiterleben können.

 

 

Krise des Theaters oder Krise der Politik?

 

Die Wiener Theater – es gibt neben dem Burgtheater ja auch noch das Theater in der Josefstadt und das Volkstheater – sind so pluralistisch wie die Gesellschaft selbst, erfüllen ihren Kulturauftrag ziemlich umfassend und sind daher kaum angreifbar. Wenn eine Spielzeit künstlerisch mal nicht so gelingt, werden die Theater nicht Gegenstand von Legitimations- und Finanzkrisen, obwohl das Geld naturgemäß auch hier weniger wird.

 

Ganz anders in Deutschland: hier schlagen die ökonomischen Probleme der gebeutelten Theaterträger sofort auf die ohnehin chronisch unterfinanzierten Theater durch, da man glaubt, sich am leichtesten bei den sogenannten „freiwilligen“ Leistungen, zu denen die Kultur gehört, gesundstoßen zu können. (In der Folge kommt es bei den Mitarbeitern der Theater, die ohnehin oft nur eine Durchschnittsgage von 1200 € (netto) haben, zu Verteilungskämpfen, und Intendanten werden zu Stellvertretern städtischer Sparkommissare degradiert.) Dies ist so nur möglich, weil die Kultur kaum mehr Schutz genießt.

 

Die Frage aber ist nun, ob der Rotstift dem realen Bedeutungsverlust des Theaters für die Gesellschaft nur folgt, oder ob er ordnungspolitisch Marginalisierungen offensiv betreibt. Handelt es sich also immer nur um Theaterkrisen oder auch um heftige Krisen der Politik? (Das ist den in die Defensive gerutschten Theaterleuten mitunter selbst nicht mehr klar.) Leider ist beides der Fall. Die Politik aber müsste angesichts eines zwar nicht dramatischen, doch kontinuierlichen Publikumsverlust gegensteuern. Stattdessen geht sie populistisch den einfachsten Weg und höhlt den Kulturauftrag schleichend in Richtung Entertainment aus. Zu reden wäre also auch einmal von der Verkommenheit einer Politik, die visionslos den Fehlentwicklungen einer amerikanisierten Gesellschaft hinterherläuft und dem Primat der Ökonomie, außer in Sonntagsreden, in denen der Kulturverfall beklagt wird, nichts Sinnstiftendes entgegenzusetzen vermag. So gehen die Dinge ihren heillosen Gang: Subventionen werden gestrichen und über Wirtschaftsförderungstöpfe, als kaschierte Subventionen, in kommerzielle Musicals gesteckt. Oft ist nach wenigen Jahren der Konkurs fällig. (Wer ist für so viel Dilettantismus haftbar? Niemand. Wer bezahlt das? Der Steuerzahler.) Und an der Hamburger Staatsoper könnte eine zur Kulturdezernentin aufgestiegene Boulevardjournalistin einen erfolgreich vergraulten Dirigenten durch einen Populärevent-Papst wie Justus Frantz ersetzen... Warum eigentlich nicht?

 

Für eine europäische Kultur

 

Wien ist anders. Österreich hinter den sieben Bergen ist anders. In „Starmania“, der alpenländischen Variante von „Deutschland sucht den Superstar“ singt man, beinahe rührend, „We are from Austria“ und erwartet ansonsten gelassen, wie die amerikanische „Starbucks-Kette“ den Verteilungskampf gegen die Wiener Kaffeehäuser verlieren wird, während man auf die Wiener Museums- und Theaterlandschaft hemmungslos stolz ist, auch wenn sie keine unmittelbaren Zwecke erfüllt. Wien liegt zu weit östlich, um wirklich amerikanisiert zu sein. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang auch, was es bedeutet, in einer Kulisse des 18. und 19. Jahrhunderts zu leben, anstatt in einem vom Krieg zerstörten Land. Wien ist, wie andere katholisch-mediterrane Metropolen (Madrid, Mailand, Rom), weit weniger von den Katastrophen und Errungenschaften der Moderne durchdrungen; die Kontinuität zu Vorkriegszeiten ist - im Guten wie im Schlechten – weniger gebrochen. Der Hang zum Lebensgenuss, zu repräsentativen Äußerungen, zu denen Oper und Theater seit jeher gehören, ist in einer alten Residenzstadt mit nur wenigen industriell geprägten Bürgern viel ausgeprägter als etwa in Berlin. Das heißt auch, dass Subkulturen, die die Trends von Übermorgen prägen, in Wien schlechtere Karten haben als anderswo.

 

Es gibt ernstzunehmende Theorien, die behaupten, dass die 68er Generation, die in vielen Ländern Europas - in Deutschland stark, in Österreich kaum - den Nachkriegsmuff gleichermaßen bekämpft hat wie die amerikanische Vietnam-Politik, mit ihrer Revolutionierung der Lebenskultur (zu der auch der Kampf gegen das Bildungsbürgertum gehörte) letztlich der Amerikanisierung der europäischen Kultur Vorschub geleistet hat.

 

Was heißt das für die deutsche Kultur? – Gegen diese Amerikanisierung und Kommerzialisierung wäre ein europäisches Selbstbewusstsein, eine europäische kulturelle Identität zu setzen, forderte Jack Lang, der ehemalige Kulturminister der „grande nation“, schon vor Jahren. Das hieße ja nicht gleich, borniert kulturelle Schutzwälle zu errichten; es reichte ja aus, nicht jeden Schrott von drüben wie ein Klosterschüler nachzubeten, sondern Brauchbares aus einer Position der Souveränität europäisch zu amalgamisieren und aufzusaugen. Vielleicht ist das die Chance Deutschlands nach dem Mauerfall: Deutschland muss raus aus der Krise zurück nach Europa, zu einer europäischen Kultur. Die Besichtigung von Exoten wie Aischylos, Moliere, Lessing oder Tschechow könnte da e i n Beitrag sein– nicht im Rahmen eines selbstgenügsamen Bildungstheaters, sondern in einer offen diskursiven, zeitgenössischen Bürgerkultur. Fast jeder Satz der größeren Autoren ist eine Kulturrevolution gegen grassierende sprachliche Verkommenheiten. Aber auch die Wiederbeschäftigung mit den europäischen Avantgarden der Zwanziger Jahre, wie sie etwa Frank Castorf für das Theater fruchtbar macht, hat da ihren anti-kolonialistischen Platz.

 

Notwendig ist eine Kulturpolitik, die sich inhaltlich in diesem Sinne offensiv positioniert. Wenn es daran mangelt, bleibt es beim status quo, wo neoliberale Söhne den tradierten Kulturauftrag der „Väter“ (zum Beispiel des Grundgesetzes) immer mehr unterminieren. Denn Kultur ist nicht nur ein „Freizeitfaktor“ für den „Wirtschaftsstandort“, auch nicht nur ein – potentiell allerdings erheblicher - „Bildungsfaktor“ für Pisa-Geschädigte, sondern der Humus, auf dem kulturelle Identität erst entstehen kann; ein Therapeutikum gegen allerlei Verwerfungen: Luft zum Atmen.

 

Freiheit der Kunst

 

Damit ist aber von dem eigentlichen Zweck des Theaters, nämlich Kunst zu produzieren, noch gar nicht die Rede gewesen. Vor allem als solches – und nicht als demokratisches Dienstleistungsgewerbe mit höfischen Restelementen (Stichwort Auftragskunst) – braucht es den besonderen Schutz der politisch Verantwortlichen. Gerhard Stadelmaier hat einmal geschrieben, das „Theater sei das spielerische Gedächtnis des Volkes“ – das ist richtig (und trifft eine barocke Kultur wie die österreichische besonders genau), wenn man wahrheitsgemäß hinzusetzt, dass dieses Gedächtnis schön und sublim sein kann, aber auch bis an die Schmerzgrenze radikal, asozial, quertreiberisch, anmaßend, überraschend und unberechenbar. In diesem Sinne können Skandale, wo das Theater nicht Kirche, sondern Schlachtfeld wird, wie etwa bei der Uraufführung von Schillers „Räubern“, ein Zeichen für die Vitalität von Theater, nicht aber für die neueste Theaterkrise sein. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben, sonst wird das Theater Auftragskunst am (Staats)bau, erschöpft sich im Dekorativen und gibt die Freiheit der Kunst auf. Prinzipiell aber sind alte Frontstellungen, wie die einer „ersten“ Hochkultur und einer „zweiten“ Gegenkultur (Antonio Gramsci), überholt, da die Theater – und das Burgtheater auch - geneigt sind, ihren Repräsentanzbegriff zu erweitern und auch das Subversive oder Avantgardistische in ihre Betriebe zu holen. Die Frage, wie weit man damit gehen kann, ist immer wieder Gegenstand der Auseinandersetzung: Manche verharren zu sehr im „wiederspiegeln“ und könnten durchaus mutiger agieren – dies wird dem Burgtheater gern vorgeworfen; deutschen Theatern hält man dagegen vor, sich durch ein Übermaß an „Widerspiegelung“ selbst zu marginalisieren und damit existenzgefährdende Theaterkrisen zu provozieren. Vergessen darf man nie, dass ein Bild auch zweihundert Jahre später vom Auge des Betrachters entdeckt werden kann, ein Theaterabend aber auf die lebendige Kommunikation mit dem Publikum angewiesen ist, diese Kommunikation sogar unverzichtbarer Bestandteil des Kunstvorgangs selbst ist.

 

Sind die Wiener Verhältnisse auf Deutschland übertragbar? – Ja: denn es geht doch schließlich darum, dem Pluralismus der Gesellschaft, in der man lebt, behutsam und mutig gerecht zu werden, einen gemeinschaftsverträglichen Ausgleich zwischen dem Repräsentativen und dem Randständigen herzustellen. Ja: wenn die Politik den Wiederaufbau der teilzerstörten  Bürgerkultur zu ihrer Sache macht, wenn ihr daran liegt, Identität zu stiften. Nein: denn das Burgtheater ist das Burgtheater, es ist einzigartig, gerade weil es eine Identität hat. Man kann das nicht kopieren, sondern nur als Anreiz nehmen, sich selbst eine Identität zu erarbeiten.

 

Aber Deutschland ist nicht Diaspora, und Wien nicht der Olymp. Schließlich gelingt es zwischen Hamburg, Berlin, Bochum, Hannover, Zürich oder München (und nicht nur dort) immer wieder, hervorragendes Theater zu machen, das sollte man sich von oft graumäusigen Politikern, die nach Kräften mithelfen die Theater in die Krise hineinzumanövrieren, nicht zerreden lassen. Das jüngste und schönste Wiener Beispiel, das dies widerlegt, ist Andrea Breths Inszenierung von „Emilia Galotti“ - soeben zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Ihre Aufführung benützt eine heutige Theatersprache, ist nahezu voraussetzungslos erlebbar und die beste Antwort auf alle wirklichen und vermeintlichen Legitimationskrisen des Theaters, da sie das Theater als Ort allen Schichten und Generationen öffnet, ohne sich künstlerisch zu korrumpieren. Hier ist das Theater gegen alles Krisengerede Fest und Verführung, und es gelingt ihm Repräsentanz in allen möglichen Konnotationen. Und so stehen die Wiener wieder stundenlang in der Kälte nach Theaterkarten an, so dass einem Theatermenschen warm ums Herz wird...

 

Joachim Lux ist Mitglied der künstlerischen Leitung am Wiener Burgtheater und war vorher an verschiedenen deutschen Theatern, zuletzt Chefdramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus und am Bremer Theater.

 

aus: Frankfurter Rundschau, 30.04.2003


Joachim Lux