Das Theater erfindet sich täglich neu...

Perspektiven für die Zukunft unserer Kultur im 21. Jahrhundert. Vortrag von Joachim Lux Überseeclub Hamburg, Montag, 23. Februar 2009

„Perspektiven für die Zukunft unserer Kultur im 21. Jahrhundert“ ist das Thema, das ich leichtfertig benannt habe. Leichtfertig, weil es natürlich anmaßend ist, anmaßend wie die Kunst selbst. Als ob man das wüsste. Als ob man dazu etwas sagen könnte. Als ob diese „Zukunft“ mal eben so - kurz vor dem Mittagessen - aufsteigen könnte, wie Perlen aus dem Prosecco.
Ich glaube schon, das man dazu etwas sagen kann. Bescheidener: ich will es wenigstens versuchen und ein paar Überlegungen äußern, die Ihnen ein Bild vermitteln, wie ich denke, wer ich bin, was mich umtreibt, wofür ich stehe. Als Mensch, aber auch als derjenige, der dem künftigen Thalia Theater die Richtung gibt.

Realismus – Idealismus
Ich bin grundsätzlich davon überzeugt, dass man ohne solche Perspektiven und Visionen, ohne solch einen Glauben oder Traum nicht leben kann, oder zumindest viel schlechter. Nennen Sie es Idealismus. Von nichts anderem lebt das Theater. Man arbeitet 12,13,14,15 Stunden, manchmal rund um die Uhr. Geld verdient wird wenig. Und trotzdem tut man es. Warum? Ulrich Khuon hat unlängst bei der Boy Gobert-Preis-Verleihung darauf hingewiesen, dass der Schauspieler, der immer noch oft als Luftikus und sozial inkompatibles Wesen gilt, in Wahrheit eine der sozial kompetentesten Figuren ist. Er tritt auf und spielt, auch wenn er eine Angina mit 39 Grad Fieber hat. Warum tut er das? Aus Leidenschaft für seinen Beruf . Aus Verantwortung gegenüber dem Publikum. Aus einer tiefen Identität mit der künstlerischen Arbeit, die er oft genug mit Leib und Seele vertritt. Alles Eigenschaften, die im eigentlichen, dem so genannten bürgerlichen Leben, das solche Dinge gern reklamiert, nicht selten unterrepräsentiert sind.

Das Finstere an jedwedem Idealismus, sei es im Leben, sei es in der Kunst, ist jedoch, dass er in sich zusammenfällt, wenn sich die an ihn geknüpften Sehnsüchte erfüllen. Das ist sein wesentliches Merkmal. In dem Moment – das ist das Schreckliche und Schöne, wo wir glauben, uns restlos gefunden zu haben, sind wir tot – buchstäblich oder im übertragenen Sinne. Das ist vermutlich die tiefere Weisheit, nicht nur von Goethes „Faust“, sondern von Kunst und kunstvoller Lebensgestaltung überhaupt. Deswegen wohl nennt man den geglückten Augenblick, die für den Moment erfüllte Sehnsucht auch den „kleinen Tod“. Ab und an ereignet er sich, und dann geht es – zumindest so lange man lebendig, d.h. auf der Suche ist - wieder weiter, zu neuem Sehnen und Suchen... Das ist im Leben so, dass ist im Theater so, sowohl für Sie, unser Publikum, aber auch für uns, die das Theater machen.

Ein eigenartiger Grundwiderspruch, der die menschliche Existenz, die Gesellschaft, die Künste, also auch das Theater betrifft. Er führt dazu, dass wir beides zugleich empfinden: nämlich „Wir können nicht einfach immer so weiter machen!“ Und gleichzeitig: „Wir können nicht einfach alles ändern!“ – beides ist wahr.

Ästhetik - Publikumserwartungen
Warum sage ich das? Das ist nicht vormittägliche Philosophie oder Lyrik, sondern führt konkret zur Aufgabe des Theaters, wie ich sie sehe, nämlich: sich genau in der Lücke, im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Sätzen zu verorten. Konkret bedeutet das: Mit mutwilligen und mehr oder minder spekulativen Provokationsgesten auf das Publikum loszudonnern verhindert meist das, was Theater ausmacht: nämlich Dialog und Kommunikation. Das Ergebnis ist in solchen Fällen der alte schulische Frontalunterricht mit der Pose von Avantgarde. Meist eine ziemlich verlogene Angelegenheit. Bevor Sie mir aber allzu schnell zustimmen, muß ich noch meinem Missfallen über eine andere Art von Theater Ausdruck verleihen, dass genauso unkommunikativ ist. Das ist der opportunistische Gehorsam gegenüber vermeintlichen Publikumserwartungen. Es ist gerade n i c h t die Aufgabe des Theaters, vermeintliche Publikumserwartungen zu erfüllen. In 25 Jahren Theaterarbeit habe ich im Gegenteil sogar oft beobachtet, dass das Publikum meist dann enttäuscht ist, wenn man ihm gibt, was es scheinbar will.

Das Burgtheater, an dem ich seit zehn Jahren arbeite, lebt ebenfalls aus dieser Spannung, ist seit langem schon nicht mehr das Theatermuseum, das man in Deutschland vielleicht damit verbindet. Es ist ein lebendiges Institut und hat als das größte europäische Theater so viele Besucher wie Thalia Theater und Schauspielhaus zusammen. Es ist jung, modern, frech und altmodisch in einem. Es hat einen großen Magen und hält Andrea Breth oder Zadek wie auch Christoph Schlingensief oder Nicolas Stemann aus.

Es geht also in Wirklichkeit um eine recht schlichte, deswegen aber nicht weniger richtige Wahrheit, die uns antreibt. Wilfried Minks, eine der großen Hamburger Theaterpersönlichkeiten, hat sie vor Jahren einmal auf den Punkt gebracht: „Wenn ich ins Theater gehe, will ich etwas erleben.“ Das ist letztlich das einzige Kriterium. Es stellt sich die Frage, was das ist: ein Erlebnis. Echtes Erleben findet immer in der Differenz zu der Erwartung statt. Ja, man erlebt etwas, wenn die Erwartung getäuscht wird. Man erlebt etwas, wenn sich anderes ereignet. Wenn man Dingen begegnet, die man so nicht erwartet hat. Wenn man überrascht wird. Das kann sogar den Moment des Schocks beinhalten, von dem die Surrealisten immer sprachen. Die Grenzen von hier zur falsch verstandenen Avantgarde sind dann fließend und auch Geschmackssache. Aber der Schock kann eben auch ein Punkt des kreativen Erlebens beinhalten.

Das lässt sich leicht an eigenartigen Kapriolen der Theatergeschichte belegen: Als die vermeintliche vox populi in Gestalt des ehemaligen Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnany vor fast zehn Jahren angesichts einer „Liliom“-Aufführung ausrief „Das ist doch ein anständiges Stück, das muß man doch nicht so spielen“ konnte er – frei nach Luther – offenbar nicht anders, das was er erlebt hatte, war offenbar zuviel für ihn. In Wahrheit aber begründete er die damals beginnende Erfolgsgeschichte von Ulrich Khuon maßgeblich mit. Ein anderes Beispiel wäre Luk Percevals „Othello“, mit dem die Münchner Kammerspiele vor zehn Jahren eröffneten: Ursprünglich ein Skandal ist die Aufführung heute Kult. Eine umgekehrte Anekdote ist eine aus dem Innenleben des Burgtheaters. Als Schlingensief das erste Mal bei uns arbeitete, haben wir seine Vorstellungen prophylaktisch aus dem Abonnement genommen. Was folgte, war der Protest von Abonnenten, die sich benachteiligt fühlten...

Wofür ich also hier nur werben kann, ist Ihre Lebens- und Erlebenslust, ihre Neugier, auch fürs Unbekannte. Ihre Offenheit für das, was wir vorhaben. Ihr Vertrauen und Ihre Großherzigkeit, auch wenn’s mal schief geht. Vielleicht erinnern Sie sich später manchmal an diesen Vormittag, an dem ich Ihnen versichert habe, dass wir unsere Arbeit aus einem ernsthaften Nachdenken heraus gestalten wollen.

Inhalte:
Worüber aber haben wir nun ernsthaft nachzudenken, wenn wir über die „Perspektiven der Kultur des 21. Jahrhunderts“ nachdenken? Was könnte das Thalia-Theater in den nächsten Jahren prägen? Die Neugierde für was genau will ich wecken?
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mitten in einem Epochenwechsel leben, der den klassischen Fragen des Theaters: „Wo kommen wir her?“ und „wo gehen wir hin?“ eine neue und ganz anders geartete Brisanz gibt. Wir sind mitten in stürmischer See. Alle gedanklichen Systeme, an die wir geglaubt haben bzw. mit denen wir gelernt hatten umzugehen, sind kollabiert – in nur wenigen Jahrzehnten. Nachdem die Religionen als Leitsysteme schon seit längerem abgedankt haben, haben sich auch die wesentlichen Nachfolgemodelle - der Gedanke einer sozialen Utopie, wie sie sich einmal mit Marx verbunden hat ebenso wie unser westliches kapitalistisches System – binnen kürzester Zeit verbraucht. Es ist beinahe ein Treppenwitz, dass die Feierlichkeiten zum Mauerfall einher gehen mit staatssozialistischen Tendenzen im Westen als ultima ratio gegen den Zusammenbruch unserer Gesellschaftsordnung.
Was nun? Was wissen wir also? Welche Gewissheiten haben wir? Keine! Auch das Theater im übrigen nicht. Eine „Gebrauchsanweisung“ für das Leben gibt es nicht. Was wir aber tun können ist zweierlei: Zum einen, sich an die Aufbrüche zu erinnern, die einmal mit diesen geistigen Parametern verbunden waren, und – zum anderen – uns dem widmen, was nur schemenhaft Erkennbar ist: unserer Zukunft.

Wo gehen wir hin? Globalisierung/Kosmopolitisch
Er hat selbstverständlich mit dem zu tun, was wir Globalisierung nennen. Sie macht vielen Angst. Der ZEIT-Journalist Peter Kümmel hat vor einigen Jahren über die bei uns vorherrschende Stimmung gesagt: „Wir verzeihen, dass die Welt zusammenwächst. Aber es ist uns mulmig dabei. Da wächst etwas über uns hinaus.“ Die Veränderung der Welt hat – wie wir alle wissen – viele Folgen: für die sozialen Strukturen, in denen wir leben (notwendige Mobilität), für die Wirtschaft (wie wir gerade schmerzhaft erleben), für die Politik, für die Kultur und für das Zusammenleben vieler Ethnien in unseren Städten.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich Mitte der siebziger Jahre als Schüler aus meiner Heimatstadt Münster erstmals in London war und dort den kulturellen melting pot der ehemaligen Kolonialreichshauptstadt kennenlernte. Das war fast schockartig der Gang in eine andere Welt. Von heute aus kann man darüber nur lächeln, denn es gehört längstens zu unser aller Normalität.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in unseren Kulturinstitutionen weiterhin so tun können als seien es die Wohnzimmer ausschließlich unserer eigenen kulturellen und nationalen Klasse. Ich glaube, dass wir uns für andere noch viel mehr öffnen müssen als wir das bisher tun. Vor wenigen Jahren gab es im Burgtheater einen feierlichen Staatsakt zur Wiedereröffnung nach dem Weltkrieg. Wir haben lange überlegt, wer die Festrede halten soll: ein Schauspieler? Ein Regisseur? Ein österreichischer Intellektueller? Letztlich haben wir als Gastredner einen iranischen Intellektuellen eingeladen. Das war ungeheuer beeindruckend. Denn er hat uns einerseits tief betroffen von seiner Reise an die Grenzen von Schengen berichtet, von Stacheldrähten und Boatpeoplen, von Menschenhandel und Armut – von unserer Schuld also, und andererseits eine Kenntnis und Bewunderung für die Hervorbringungen der europäischen Geistesgeschichte vermittelt, die wir, wie er findet, nicht hoch genug schätzen. Er kannte Kafka, Joyce, Joseph Roth Musil, Thomas Mann etc. bis ins Detail. Wir haben uns in ihm bereichernd gespiegelt und gestaunt.

Ganz in diesem Sinne werde ich einige aus dem Ausland stammende Autoren, Regisseure und Intellektuelle einladen, bei uns zu arbeiten. An erster Stelle ist dies der Flame Luk Perceval, der in den letzten Jahren in Berlin gearbeitet hat und mit seinen Aufführungen auf Festivals in der ganzen Welt vertreten ist. Ein sperriger und hochinteressanter Regisseur. Nun wird er sein Boot, das derzeit noch im Baltikum renoviert wird, nach Hamburg überführen um neuer Spielleiter am Thalia zu werden... Aber auch andere Theaterregisseure sind mittlerweile international unterwegs: Nicolas Stemann hat in Mittelamerika inszeniert, Dimiter Gotscheff arbeitet gerade mit jungen Künstlern in Brasilien, Christoph Schlingensief will in Afrika ein Festspielhaus gründen und sammelt Geld, damit wir Europäer uns – wie er es ausdrückt – an dem Bazillus dieser Kultur infizieren können.
Meine Hoffnung ist, dass wir unseren Horizont erweitern. In der Hoffnung auch, angesichts der derzeitigen Entwicklungen nicht die Angst, sondern einen gewissen Optimismus zum Ratgeber für uns zu machen.

Die Frage, wie wir uns ins Verhältnis zu einer immer größeren und gleichzeitig kleineren Welt setzen können, was das bei uns auslöst, ist natürlich ein unendliches Thema. Aber es ist auch spannendes. Die Frage „Wo gehen wir hin?“ kann vom Optimismus beseelt nur eine einzige Antwort haben: weltoffen in eine Zukunft, die nichts und niemanden ausgrenzt, offen ist für andere Kulturen und Ethnien und sich dieser Zukunft ohne Angst stellt. Mit etwas Glück kann das Theater hierzu einen gewissen Beitrag leisten. Und auch zeigen, dass all dies eigentlich gar nicht neu ist, dass es immer schon nicht nur Heimat, sondern genauso Heimatlosigkeit, Flucht, Aufbruch, Reise, Exil, Auswanderung gab.

Um sich diesen Dingen vorurteilsfrei und angstfrei zu widmen muß man natürlich wissen, wer man ist. Vielleicht war es das, was die verfehlte Leitkulturdebatte suchte. Dem Inhalt nach aber ist die eigene Identität natürlich entscheidend – das sagen sogar unverdächtige Philosophen wie Boris Groys.

Wo kommen wir her? Mythen
Wenn dies die Zukunft ist, wirft es auf die zweite wesentliche Frage ein anderes Licht, nämlich: „Wo kommen wir her?“ Hier hat das Theater wie unsere Gesellschaft überhaupt lange nur eine zentrale Aussage dazu gehabt: aus dem Nationalsozialismus, den wir bewältigen müssen. Zwar ist das eine Thematik, die sich nie erledigt, aber ich denke wir haben heute anders als noch vor einigen Jahren mehr Freiheit, uns aus dem Verhaftetsein in der deutschen Geschichte zu lösen und uns mit unserem europäischen Erbe und auch mit dem Welterbe zu beschäftigen: mit Shakespeare, mit Moliere, mit den archaischen Stoffen der Antike, in denen viele Gemeinsamkeiten der östlicher und westlicher Kulturen lesbar sind, mit den Mythen der Weltreligionen usw...

Kronzeuge Lessing
Es gibt einen Kronzeugen und Urahn für derlei Denken, einen Adoptivsohn Hamburgs: nämlich Lessing. Er war ein optimistischer Aufklärer und ein Revolutionär im Denken. Ein Kosmopolit im Postkutschenzeitalter. Es lohnt, sich mit ihm zu beschäftigen und wir werden es auch tun. Er hatte drei Träume:
1. Er träumte den Traum von der inneren Einheit der Weltreligionen bzw. - kulturen gegen alles was man heute „Clash of culture“ nennt.
2. Er wollte einer neuen sozialen Schicht, dem damaligen Bürgertum nämlich, eine Stimme auf der Bühne geben. Das gilt es auf heute zu übertragen.
3. Er erfand in Hamburg ein – wie man heute sagen würde – neues „Medium“: nämlich das Nationaltheater. Dieser Begriff, der in heutigen Ohren so missverständlich klingt, meint weder ein nationales Theater noch ein Theater der Nation –„Nation“ als Begriff ist nichts anderes as die Chiffre für die Aufgabe einer ästhetischen und kulturellen Selbstvergewisserung.
Diese Gedanken Lessings- nämlich an der kulturellen Vielfalt zu arbeiten, für neue soziale oder kulturelle Schichten offen zu sein und das Theater als Medium so zu transferieren, dass es den Bedürfnissen unseres sozialen Organismus entspricht – das könnte so etwas wie ein inneres Leitbild für mich sein. Das hat aber nicht zwangsläufig mit hehrer Klassikerpflege zu tun, sondern damit es ernst zu nehmen und ins Heute zu übersetzen.

Lessing und die gesamte europäische Aufklärung hatten als Leitbild aber nicht nur den Bourgeois, sondern den Citoyen, nicht also eine bestimmte soziale Schicht, sondern den dem Gemeinwesen verpflichteten Staatsbürger. Das schließt niemanden aus, sondern im Gegenteil alle ein, egal welcher sozialen Schicht oder Ethnie sie angehören. Und es verpflichtet – auf Heute übertragen – jeden, sich für Belange anderer zu interessieren, seien es kulturell, sozial oder ethnisch andere Welten.
Das ist meines Erachtens die entscheidende kulturelle Aufgabenstellung des 21. Jahrhunderts. Ich wäre sehr glücklich, wenn man in einigen Jahren sagen könnte, dass wir mit unserem Theater dazu einen kleinen, bescheidenen Beitrag geleistet haben. Als ich vor einigen Monaten mit Prof. Manfred Lahnstein zusammen saß und wir über all diese Dinge sprachen, meinte er, mit in dem Hamburger Himmel gerichtetem Blick, wir bräuchten vielleicht so etwas wie eine zweite Aufklärung... Ich neige dazu, das so zu sehen.
Und ich frage mich: Wo, wenn nicht in Hamburg, sollte eine solche Öffnung möglich und richtig sein – schließlich steht die Stadt dafür! So wollen wir also die Welt ins Theater holen, indem wir sie hereinlassen, aber auch indem wir für ihre sich ständig wandelnde Komplexität die richtigen Stoffe suchen. Was im übrigen leichter gesagt als getan ist. Denn in der Literaturgeschichte ist die Beschäftigung mit den fremden Welten der anderen eher ein Seitenstrang.

Hamburg / In die Stadt gehen
Das Interesse für das Andere, das Interesse für die anderen trägt allerdings nicht sehr weit, wenn es nicht einhergeht mit dem für das Eigene – ich sprach oben schon darüber. Wobei ich hier weniger die Lust am psychologischen Bauchnabel von Ehe und Familie meine, sondern das Interesse für den gesellschaftlichen Ort, wo ich lebe, arbeite und atme: Für Hamburg also. Das Theater hat neben dem rein künstlerischen Anspruch immer auch die Aufgabe am sozialen Gesellschaftskörper mitzuarbeiten. Das heißt in unserem Zusammenhang konkret: wir wollen das Thalia-Theater, das jetzt schon ein sehr gastfreundliches ist, noch weiter öffnen und zu einer zentralen Agora der Stadt machen. Hier sind viele Initiativen geplant, die Stadt ins Theater zu holen.
Aber wir wollen umgekehrt auch mit dem Theater in die Stadt hineingehen, in der künstlerischen Arbeit mit Jugendlichen, die in unterprivilegierten Stadtteilen bzw. an sozialen Brennpunkten leben. In Lateinamerika gibt es grandiose Beispiele dafür, wie die Weckung der Kreativität weitaus mehr bewirkt als Sozialarbeit und Polizeimaßnahmen. Ich kann nur leider in dieser Hinsicht nicht zuviel versprechen, denn solche künstlerisch-sozialen wie auch pädagogischen Initiativen wollen auch finanziert sein. Ich bewege mich in diesem Punkt leider im Bereich von Absichtsbekundungen.

Thalia - Traditionen: Kontinuität und Neubeginn
Zum Schluß: Letztendlich machen wir Theater. Wir sind weder Philosophen noch Politiker oder Sozialarbeiter. Unser Geschäft ist, uns möglich spannende Künstlerkonstellationen auszudenken, Theaterstücke zu prüfen, uns mit der Frage zu beschäftigen, wie Literatur auf die Bühne kommt, sie mit Ungewohntem zu konfrontieren und auch schlicht: sie zu unterhalten. Ich werde das Thalia-Theater also nicht aus einem einzigen Punkt heraus denken, das geht gar nicht, selbst wenn ich es wollte. Aber wir brauchen gerade im Theater dennoch Parameter, eine Geisteshaltung, sonst verkommt es zum Jahrmarkt der Beliebigkeiten. Diese Geisteshaltung aber prägt nicht der Intendant allein, sondern die vielen unterschiedlichen Künstler mit ihrem je spezifischen und vollkommen unterschiedlichen Blick auf die Welt. Denn das Theater ist ja altmodisch formuliert tatsächlich der „Farbige Abglanz des Lebens“, moderner gesprochen: vielfältig, widersprüchlich und wandelbar wie das Leben, auch wenn uns dort nicht alles gefällt. Allerdings mit einem ethischen Ziel: dass der Mensch zum Menschen werde, sei es durch die Boshaftigkeiten einer Komödie oder den Schrecken einer Tragödie. Und zu diesem „Abglanz“ gehört heute eben mehr und anderes als zu Goethes Zeiten. Das Theater ist keine Schutzhöhle vor der Welt, sondern eine Plattform für seine Erscheinungen besser: für deren ästhetische Bewältigung. Insofern soll das Theater die Welt im Wortsinne re-präsentieren, aber sich auch in einer Differenz zu ihr behaupten.

Es gibt ein eigenartiges Buch, das uns in der Vorbereitung beschäftigt hat. Es heißt „Das Leben: Gebrauchsanweisung“. Was nach Ratgeberliteratur klingt, ist eigentlich ein philosophischer Witz. Camus’ Mythos von Sisyphos mit Humor. Es erzählt u.a. von einem Mann, der hinausgeht in die Welt und überall Seestücke malt. Er schickt sie nach Hause, lässt sie zu Puzzles zerschneiden und in mühevoller Kleinarbeit wieder zusammen setzen. Anschließend lässt er in den Häfen der Welt eine Säurelösung über die Seestücke laufen und die Bilder lösen sich ins Nichts auf...
Wir müssen offenbar die Welt und das Bild, das wir von ihr haben, immer wieder neu erschaffen und neu zusammensetzen. Manche finden das vermutlich deprimierend, aber es ist doch auch ein schöner und lustvoller und komischer Vorgang, wenn wir uns immer wieder neu erfinden müssen. Es hält uns am Leben und bereit fürs „Erleben“ im oben beschriebenen Sinne, sei es in der Kunst oder in anderen Lebensbereichen.

Solche Gedanken mußte sich das Thalia-Theater, seiner älteren Tradition nach, nicht machen. Denn es war ein Boulevardtheater. Heute dürfen wir das. Aber es gibt noch zwei andere Punkte, die man in Bezug setzen muß zur älteren Tradition des Thalia Theaters, einen guten und einen weniger guten.
Fangen wir mit dem Schlechten an: das Thalia-Theater hat das höchste Einnahmesoll aller deutschsprachigen Theater und kämpft seit Jahrzehnten damit. Denn es lebt ja längstens nicht mehr vom Boulevard, sondern ist eines der renommiertesten Theater der Republik und will mit besser gestellten Bühnen in Berlin, München, Zürich oder Wien konkurrieren....
Die gute Nachricht: Der einzelne Schauspieler hatte hier immer ein großes Gewicht. Ob unter Boy Gobert, Jürgen Flimm oder Ulrich Khuon. Es ist ein Theater der Künstler, ein Theater der Schauspieler – wie übrigens das Burgtheater in Wien auch. Letztlich sind es die Schauspieler, die dem Theater ein Gesicht geben. Ich werde im Rahmen meiner Möglichkeiten alles tun, damit dies trotz schwieriger Zeiten auch so bleibt. Und ich bin gewiß, dass Sie sich auf einige herausragende Schauspielerpersönlichkeiten jetzt schon freuen können. .. Ein Neubeginn ist auch in diesem Bereich immer eine Chance, eine Chance für frischen Wind, für neue Versuche und Aufbrüche. ABER: ich will auch nicht mutwillig alles ändern, sondern ich habe im Bewusstsein und in Verantwortung für die Tradition des Thalia Theaters neben neuen Schauspielern auch einige aus dem Khuon-Ensemble eingeladen wie auch aus dem früheren Flimm-Ensemble. Kontinuität und Neubeginn also. Denn auch hier gilt: „Wir können nicht einfach immer so weiter machen!“ Und gleichzeitig: „Wir können nicht einfach alles ändern!“ – beides ist wahr. Lassen Sie sich überraschen!
„Das Theater erfindet sich täglich neu“ – so der andere Übertitel meines Vortrags. Das stimmt natürlich nicht, da ist der Wunsch der Vater des Gedankens. Sagen wir lieber: es ist in Bewegung, und das ist das Beste, was ihm passieren kann. Und auch das Beste, was uns passieren kann. Als Menschen und als Theaterpublikum.

Persönliche Anmerkung
Ich persönlich bewege mich auch und gehe, wie Sie wissen, von Wien nach Hamburg, kehre nach zehn Jahren Ausland – Wien ist Ausland! – zurück nach Deutschland, vom Süden in den Norden, von einem Theater, das wir scherzhaft manchmal Vatikan nennen, in ein kleineres Schnellboot, aus einer aristokratisch geprägten Gesellschaft in eine Bürgergesellschaft, aus einer katholischen in eine protestantische Landschaft, vom Barock in die Backsteingotik, vom Balkan nach Skandinavien, von den Bergen ans Meer und was dergleichen Gegensätze noch mehr sind. In Wien die Freude an der Arabeske, in Hamburg die an britischer Lakonik und an Understatement. Die städtebaulichen Geschwister Wiens sind Budapest, Rom oder Paris. Die von Hamburg, Amsterdam oder Kopenhagen. Nur gut 1000 Kilometer Unterschied, aber eine ganz andere Welt (wobei wir wieder beim Thema wären) ich freue mich sehr auf Hamburg. Ein gutes Omen ist, dass es – jedenfalls im Theater - eigentlich immer eine enge Verbindung dieser so unterschiedlichen Städte gegeben hat.
Ich hoffe, dass ich ein wenig vermitteln konnte, wer ich bin, wovon ich träume, wofür ich stehe. Skizzen, Versuche und Suchbewegungen, daran werden wir arbeite, das ist die Aufgabe, tagtäglich. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!


Joachim Lux