Circo A
mbulante

Das Leben ist ein düsterer Zirkus

 

Sobald der Vorhang aufgeht, werden wir in eine Dystopie versetzt. Eine Insel, der man nicht entkommenen kann. Sie ist grau, maschinell, erdrückend und hoffnungslos. Der Herrscher der Insel ist der Ober-Konduktor, er ist auch der höchste Magier und „Koschtschei“ (Кащей Бессмертный), der sich in dem Glauben, Rinderhoden würden ihm Unsterblichkeit verleihen, vom Fleischkombinat mit diesen versorgen lässt. Dort arbeiten fünf Frauen, eine von ihnen ist Maria (Liya Akhedzhakova). Ihre Kleidung ist so farblos wie das Leben auf der Insel, deren Luft dermaßen verpestet ist, dass alle Schutzkleidung und Atemschutzmasken tragen müssen. Nachdem das Fleischkombinat in die Luft gejagt wird, soll der längst vergessene Zirkus „Ambulante“ in altem Glanz erscheinen und zur neuen Arbeitsquelle der Insel werden.

Das Stück quillt über von verflochtenen Symbolen, historischen, mythologischen, literarischen, künstlerischen und politischen Allusionen. Angefangen bei der Namenswahl der Charakter bis zu dem aufwändigen, verstörenden Bühnenbild. Es ruft alles mögliche hervor, von kurzzeitigem Grübeln über tiefgehendes Nachdenken, Staunen bis hin zu Verwirrung und gar Abscheu, dann wieder zu Begeisterung. Allerlei große Gefühle im großen Theater.
Die Welt ist erschreckend: Tote werden in der Leichenhalle wieder belebt und wandern stumm unter den Lebenden umher, das Fernsehen zombiert die Jugend und ein Voodoo Zombie-Pulver verstumpft den Verstand der Bevölkerung.
Keiner ist perfekt in dieser Welt, auch die Protagonisten haben ihre Macken: So zeigt Maria aus Eifersucht ihren Mann, Anton (Albert Filozov), an, infolge dessen dieser einen Schlaganfall erleidet und bettlägrig wird. Obwohl er schon bald das Laufen neu erlernt, gibt er 20 Jahre lang vor, bewegungsunfähig zu sein, und lässt sich von seiner Frau aufopfernd pflegen. Beide, sowohl Anton selbst, als auch seine Frau Maria, sehen in ihm den traurigen und aufrichtigen Ritter Don Quijote, der die böswilligen Magier nieder strecken kann und muss, die die Menschen unterdrücken, belügen und ausbeuten.
Erst zum Schluss wird dem Zuschauer bewusst, dass die lang geglaubte Dulcinea von Toboso alias Maria der eigentliche Don Quijote in dem Stück ist. Das ganze Stück über hört man nicht viel von Maria, sie kommt einem beinahe stumm vor. Aus Rück- und Vorblenden und von dem hin und wieder auftauchenden Erzähler erfahren wir etwas über ihr Leben. Zusammen mit der Rüstung des echten Ritters erhält sie die Macht des Wortes. Nur mit der Hoffnung auf Gerechtigkeit bewaffnet, zieht sie schließlich in den Kampf gegen den Ober-Konduktor und überfällt uns mit einem feurigen Monolog:
"Сегодня вашему вниманию будет представлен забытый, но прекрасный номер, где добро побеждает, а зло получает по заслугам. Сейчас на ваших глазах наимерзейший из мерзких, злой колдун и волшебник, вообразивший себя бессмертным, будет наказан, а созданные им иллюзии – развеются. [...] Я хочу обратиться к вам, достопочтенная публика. Мир заколдован. Духи зла вошли в дома и тела наши. […] Забыли, что такое честь и достоинство, благородство, великодушие. Посмотрите на тех, кто должен нас учить, лечить и охранять, на самом деле они обманывают, калечат и грабят. Вы посмотрите, как мы ходим по суше нашей, уставившись себе под ноги, или сидим в своих норах, уткнувшись в тарелку, не видя звезд в небе ночью и солнца над головой днем. Очнитесь, люди. Очнитесь. Подымите голову. Вы же видите над собой небо. Вы свободные люди. Я даю вам свободу. Вы свободные люди. Вы свободные люди!"
Also: „Heute wird Euch ein vergessenes, aber wundervolles Stück, in dem das Gute über das Böse siegt, und das Böse die gebürtige Strafe erhält, vorgestellt. Jetzt wird der widerlichste Abscheu, der böse Zauberer und Magier, der sich einbildet unsterblich zu sein, bestraft. Von ihm erschaffene Illusionen werden sich in Luft auflösen. […] Ich möchte mich an Sie wenden, hochverehrtes Publikum. Die Welt ist verhext. Geister des Bösen traten in unsere Häuser und Körper ein. […] Man hat vergessen, was Ehrgefühl und Würde, Edelmut und Großzügigkeit ist. Schauen Sie sich diejenigen an, die uns lehren, heilen und beschützen sollen. In Wirklichkeit belügen, verletzen und berauben sie uns. Schauen Sie doch, wie wir uns bewegen, den Kopf gen Boden gerichtet, die Augen nicht vom Teller hebend, nachts die Sterne und tagsüber die Sonne am Himmel nicht sehend. Wacht auf, Menschen. Ich gebe euch Freiheit. Ihr seid freie Menschen. Ihr seid freie Menschen!“

Regisseur Andrej Mogutschi stellt uns innovativ ein Werk vor, das gemischte Gefühle hervorbringt: angefangen bei der Frage „Ist es denn noch Theater?“  - es ist ein schwer zu verdauender Plot, der sich unendlich weiterentwickelt und kaum Spannungsbogen enthält und dennoch den Zuschauer in seinen Bann zieht - bis hin zu Fragen über die deprimierende Realität, die grau und entmutigend erscheint und von Tyrannen beherrscht, die einer nach dem anderen ins Licht der Manege treten.
Gekonnt werden Kritik geübt und Probleme aufgezeigt. Ein anregender Abend, ich würde mich jederzeit wieder von Mogutschi und Co auf ein Abenteuer mitnehmen lassen.

Darja Schulz