Gólgota Pi
cnic von Rodr
igo García

Viel Lärm um – die Einsamkeit?

 

Vor dem Stück

An der Gaußstraße steht eine kleine Mahnwache: etwa 20 Menschen, mit Kerzen, mit einem Schild, „Nein zu Blasphemie“. Sie singen Marienlieder, beten das Vaterunser. Eine Fahne mit einer Ikone hängt schlaff über ihnen. Dafür der Presselärm der letzten Tage?

Nach dem Stück Joachim Lux, Thalia-Intendant, Pater Dr. Hermann Breulmann, Geistlicher Rektor der Katholischen Akademie Hamburg, und das Ensemble von Gólgota Picnic stellen sich nach der Aufführung dem Publikumsgespräch. Blasphemie? „Blasphemie hat eine alte Tradition, Jeremias war auch blasphemisch“, weiß Breulmann und: „Den lieben Gott wird das Stück cool lassen.“ Er lacht. Dennoch, streckenweise empfand er das Stück als „Zumutung“. Oder als Herausforderung, „un desafío“, wie er später präzisiert, als er sich an den Tisch zu zu den Schauspielern setzt, zum spätabendlichen Mahl, es gibt Wein, ein paar Häppchen. In ziemlich brauchbarem Spanisch erzählt der belesene Jesuit von seinem Mexiko-Aufenthalt, er gerät ein klein wenig ins Schwärmen. Die Bühnenarbeiter schieben derweil die Brötchenreste auf Holzpaletten durchs Foyer nach draußen.

Schauspieler Juan Loriente ist begeistert. Das genau sei der Unterschied zu Paris, wo das Stück im Dezember seinen bisher größten Skandal hervorgerufen hatte. Die französische Obrigkeit hätte gerade mal für Polizeischutz und somit zwar für Sicherheit gesorgt. Aber es habe keinen Diskurs gegeben. Hier und heute und von dem Katholiken Breulmann fühlen sich die Schauspieler sogar verstanden. „Es geht um Einsamkeit“, findet Breulmann. Genau das sei der Grundton des Stückes, pflichtet ihm Marino Formenti, der Pianist, bei, gleich die Anfangsworte von Nuria Lloansi benennen es: „La soledad es lo único que os queda a vosotros. Os lo digo desde mi caída del cielo.“ Es geht um die Einsamkeit, „das einzige, was euch Menschen bleibt. Das sage ich euch, ich, der Engel, der aus dem Himmel gestürzt ist.“

In dem Stück

Rund 23000 Hamburger-Brötchen bedecken die Bühne, in einer Ecke ist eine Picnic-Decke ausgebreitet, mit Obst, Gemüse, Kühlboxen, einer E-Gitarre. Die Handlung ist simpel. Die Stimmung eher traurig und ratlos, denn provokant. Mal wird einer der fünf Schauspieler am Boden festgenagelt, mal ein fünfstöckiger Burger mit Regenwürmern gebaut. Mal schlingen sich zwei Männer und eine Frau in einer Farborgie(etwas altmodischer Aktionismus) über die süßlichen riechenden Brötchen-Noppen. Ein Fleischwolf mahlt Würste zu Hackfleisch, live auf die hintere Wand projiziert. Nahaufnahme von Völlerei, Zahnstocher, Zähneputzen. Ansonsten sind es die Worte, vielmehr Monologe der Figuren, die dem Stück Inhalt und Tiefe verleihen, vielleicht gar gnostische Tiefe, wie Breulmann spekulieren wird.

Wenn die fünf Schauspieler von eigenen Erlebnissen erzählen, Autounfällen zum Beispiel, sehen sie sich stets in einer religiösen Inszenierung, fasziniert und gefangen von Leiden, Blut und Schmerz und – der Möglichkeit, dass man per MP3-Player während des gesamten Autounfalls, zumindest bis alles zu brennen beginnt, die Matthäuspassion von Bach hören könne, im Gegensatz zu den stoßempfindlichen CDs.

Niemals sprechen die Figuren miteinander. Wenn die Kamera sie filmt, um sie live auf der Hinteren Wand überdimensional zu projizieren, schauen sie in die Linse, schauen ins Publikum. Mit diesem Publikum und untereinander werden sie erst eins – nicht orgiastisch oder durch ihre akrobatische Scham- und Haupthaarverklebung – in der 45-minütigen Schlussszene. Ein Steinway wird auf die Bühne gezogen. Der bisher stumme sechste Darsteller entledigt sich seiner McDonald-Uniform und setzt sich splitterfasernackt an den schwarzen Flügel: Haydns „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“.

Es ist der bloße Mensch, in seiner Fehlbarkeit, Nacktheit, Verletzbarkeit, der dem Klavier einen solchen Klang entzaubert. Es ist ein Mensch, der diese Musik geschrieben hat, dass es einem heute noch Gänsehaut über den Rücken jagt. Ganz gleich, für wen er sie schrieb, ob dahinter ein Gott stehen mag oder nicht. Abrupt endet der neunte Satz mit Windrausch-Lärm, die Stühle vibrieren während der Videoprojektion: der Engel stürzt noch einmal, der Fallschirm geht nicht auf, Wolken, Meer, Filmriss.

„Que díos os bendiga“, verabschiedet sich Breulmann von den Schauspielern nach der Gesprächsrunde, „Gott segne euch!“. „Mal sehen“, antworten sie, mit Fragezeichen in der Stimme.


Natalie Lazar