KULTURPOLIT
IK: Kultur ist übe
rflüssig!
Vorträge, Essays, Artikel und Interviews zur Kulturpolitik in Hamburg von/mit Thalia-Intendant Joachim Lux
Kultur ist überflüssig!
Beitrag für das Buch zur Veranstaltung: Stadt ist Kultur, November 2011
Schon wieder soll man sich über den Stellenwert der Kultur in Hamburg äußern. Als Kulturschaffender. Das ist – nach all den Debatten, die eine profunde Müdigkeit in den Knochen hinterlassen – so, als fordere man die Politiker auf, in knappen Statements etwas zum Stellenwert der Politik in Hamburg zu sagen. Was soll dabei schon herauskommen?
In dem Hamburger Manifest „Not in our name“ hieß es: „Eine Stadt ist keine Marke. Eine Stadt ist kein Unternehmen. Eine Stadt ist ein Gemeinwesen.“ D.h.: die Stadt ist keine Funktion, sondern etwas Naturgegebenes, das wir alle gestalten, ohne dass es dafür einer besonderen Begründung bedarf. Natürlich kann man die Sinnhaftigkeit eines Gemeinwesens begründen und Doktorarbeiten darüber schreiben, aber sie leuchtet auch so und unmittelbar ein.
Ähnlich ist es mit der Kultur: Sie bedarf – im Ernst – gar keiner Begründung. Wer sie stets und ständig einfordert, hat nur ein Ziel, nämlich sie in die Defensive zu treiben. In der Defensive aber sind in Wahrheit die anderen, diejenigen nämlich, die sie permanent infrage stellen.
Kultur hat eine anthropologische Qualität von Anfang an, seit Jahrtausenden, gehört zum Menschen dazu. FERTIG.ENDE.AUS.
Man muss nicht begründen, dass man aus einem Stück Holz Töne lockt, dass Menschen in Höhlen ihre Wirklichkeit malen, dass sie im Spiel ihre Erfahrungen nachbilden, dass sie Skulpturen schaffen. Man muss auch nicht begründen, dass man zum Essen eine weiße Tischdecke auflegt anstatt am Boden mit den Fingern zu essen. Denn all dies ist der Luxus, der den Menschen erst zum Menschen macht.
Wir müssen aus dieser Logik der Defensive raus, uns ihr verweigern. Begründen muss man hingegen, warum man z.B. ein Gängeviertel abreißen wollte, warum man ein Theater strangulieren wollte, warum man den Stadtbibliotheken Geld wegnimmt, warum man Museen schließen will. DAS muss man begründen, und zwar qualitativ und nicht nur unter dem Dauerhinweis auf die leeren Staatskassen.
Ich mag nicht mehr sagen, dass Kultur eine hohe Umwegrentabilität hat, dass sie zum sozialen Frieden beiträgt, dass sie eine Agora der Stadt ist, dass sie die Schulung der Wahrnehmung fördert, dass der Besuch einer „Faust“-Aufführung aus einem mittelmäßigen Computerfachmann einen besseren macht, dass das Diskursive von Kultur ein Beitrag zur Zukunft unseres Landes ist, dass wir alle an einer zunehmend interkulturellen Gesellschaft arbeiten müssen, dass ein ästhetischer Schock ein ungeheurer Bewusstseinsschub sein kann, dass eine Komplexität von ästhetischen Erzeugnissen in der Stadt einen Standortvorteil für die Eliten bildet, dass der Künstler als Störenfried seit Jahrtausenden eine unglaublich wichtige Funktion hat, dass die Bühnensprache nahezu grundsätzlich Widerstand gegen die Verrohung von Sprache und Bewusstsein ist, dass letztendlich Kultur nichts anderes ist als der Protest gegen die Sterblichkeit, weil der Mensch das einzige Lebewesen ist, das weiß, dass es stirbt und dagegen mit Musik, Geschichten, Mythen, Bildern kämpft – das alles und vieles mehr mag man einfach nicht mehr sagen, denn es ist nur „stating the obvious“, aber darum nicht falsch.
Wir müssen die Logik der Politik bzw. einer nur an Funktionen orientierten Denkweise unterbrechen und umdrehen. Denn hier geht es nur um eins: um die Folterinstrumente der Ökonomie und um sonst gar nichts. Der Mensch wird da Mensch, wo er sich vom „homo faber“ zum „homo ludens“ entwickelt, wo er nicht allen Zwecken und Funktionen unterordnet. Das ist ein Gedanke, der in einer protestantischen Stadt durchaus Sprengkraft haben könnte. Natürlich können wir alles curricularisieren, auch den Stadtpark als Rekreationsort für den arbeitenden Menschen, als sozialen Wert, als Lunge der Stadt gegen den CO2-Austausch, das Gleiche gilt für die Kultur – und doch ist dieses Denken letztlich erbärmlich und der wahre Protest besteht darin, diese Logik zu verweigern. Kultur ist vollkommen überflüssig – ebenso wie weiße Tischdecken, Stadtparks oder Gitarrenkurse - und deswegen absolut unabdingbar. Nicht nur unabdingbar, sondern Pflichtfach der Politik, mit hohem Förderungsbedarf.
Es ist schlicht und ergreifend peinlich, wenn man Brahms, Hölderlin, Gerhard Richter, Shakespeare, Picasso oder Mozart extra begründen muss – mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen. Bei den Klassikern stimmen vermutlich noch die meisten zu, aber den kleinen gedanklichen Schritt, dass die Kunst der Gegenwart – und zu ihr gehören die jungen Theaterregisseure genauso wie die Subkultur oder die Avantgarde in allen Sparten – der Beitrag der Gegenwart für die Zukunft ist, die auf unsere Gegenwart als hier und da klassisch gewordene Vergangenheit zurückblickt, ist offenbar zuviel verlangt.
Und noch etwas: Es ist durchaus möglich, dass eine Ausstellung, ein Konzert, eine Theateraufführung nicht ankommt, ein Flop ist, keine Einnahmen generiert und trotzdem von großer Bedeutung ist, Wesentliches hervorbringt – man denke an Schubert oder Van Gogh und viele, viele andere. Die Gesetze der Ökonomie und der Quote bestimmen nicht immer, was gut ist und was nicht. (Das bedeutet freilich nicht, dass alles, was leer ist, gut ist.)
Und zum Schluss: Natürlich stimmen alle dem hier Formulierten zu, auch die Politik, sie würde sehr gern fördern, aber die Staatskasse ist leer. Nein, nein, nein – in Wahrheit werden die Entscheidungen qualitativ entschieden, zugunsten von und zuungunsten von. Hier ist Haltung unterwegs und nicht Kollege Sachzwang.
Wir brauchen das Überflüssige und die Kultur muss die Hand beißen, die sie füttert!
Joachim Lux und Amelie Deuflhard im Abendblatt-Interview über die Zukunft der Theater
Hamburger Abendblatt, 23.03.2011
Ein neuer Senat ist gefunden, die alten Probleme für Hamburgs Theater sind noch da. Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard und Joachim Lux, Intendant des Thalia Theaters, sprechen über knappe Kassen, große Kunst und wie man neues Publikum gewinnt.
Abendblatt: Kampnagel wurde zweimal zum Theatertreffen eingeladen, das Thalia Theater gar nicht. Nehmen jetzt die Kleinen den Großen die Butter vom Brot?
Joachim Lux: Das empfinde ich überhaupt nicht so.
Amelie Deuflhard: Außerdem sind wir gar nicht klein. (Gelächter)
Bleiben wir im Bereich der Kulinarik: Welches Gericht bekommt man, wenn man Kampnagel oder Thalia bestellt?
Deuflhard: Bei Kampnagel ist das ein Menü mit mehreren Gängen für Feinschmecker. Mit exotischen und lokalen Zutaten. Bei uns essen viele Menschen unterschiedlicher Herkunft am großen Tisch und unterhalten sich angeregt.
Lux: Am Thalia gibt es sehr gut zubereitete Speisen, der Koch ist einer der besten. Das Essen macht satt, ist weder Nouvelle Cuisine noch Bauernküche. Man kann selten sagen, das Gericht war schlecht. Man kann höchstens sagen, dass es zwar gut war, aber nicht dem eigenen Geschmack entsprochen hat.
Was sind die größten Probleme, die Kampnagel derzeit hat?
Deuflhard: Ein großes Problem ist, dass die lokale Theaterszene geschrumpft ist, die für unsere Arbeit eine Basis bietet. Viele sind nach Berlin abgewandert. Das hat damit zu tun, dass die Rahmenbedingungen in Hamburg sehr schlecht für freischaffende Künstler sind. Dieses zentrale Problem wäre mit einer Anhebung der Allgemeinen Projektförderung und mit einem Kulturfonds für internationale und überregionale Projekte aller Sparten sehr gut zu beheben.
Wie hoch sind Ihre Subventionen?
Deuflhard: 3,7 Millionen Euro bekommen wir von der Stadt. Das ist für ein Haus mit 1500 Plätzen und einem Avantgarde-Auftrag nicht viel. Es gibt in Europa in dem Segment kein Haus, das annähernd so groß ist und vergleichbar wenig Geld bekommt. Unser Etat ist seit 17 Jahren nicht erhöht worden, das entspricht einer Schrumpfung von 40 Prozent. Wir machen trotzdem große, internationale Gastspiele. Jedes aber mit einem hohen Risiko, da wir stets Geld akquirieren müssen. Vieles geht nur durch Drittmittelfinanzierung aus vielen sehr unterschiedlichen Quellen.
Lux: Auch das Thalia hat seit 17 Jahren keine nennenswerte Etat-Erhöhung bekommen. Wir schreiben inzwischen rote Zahlen.
Wo liegen grundsätzlich Ihre Probleme?
Lux: Wir sind erstens ökonomisch immer weniger konkurrenzfähig zu anderen deutschen Theatern. Sogar innerhalb Hamburgs sind wir Schlusslicht. Das zweite Problem besteht darin, dass wir - wie alle anderen auch - jonglieren müssen zwischen dem, was das Publikum sich ersehnt, und dem, was wir künstlerisch für wichtig halten. Das ist nicht immer das Gleiche. Künstler haben oft tolle innovative Aufführungen gemacht, die beim Publikum aber nicht unbedingt gut ankamen. Von solchen Innovationen lebt das Theater - nur können wir uns das immer weniger leisten.
Deuflhard: Wir wollen und müssen auch Neues, Ungewohntes zeigen, von dem wir wissen, dass die Quote nicht stimmen wird - und das bei einem immer größeren Publikum durchsetzen. Wir können sicher größere Risiken eingehen als ein Staatstheater, weil wir die Aufführungen nur sechs- oder siebenmal spielen. Kampnagel kann Künstler aufbauen. Erst treten sie in der kleinen Halle auf, dann in den größeren. Es gibt viele Beispiele dafür, dass das gelingt. She She Pop, die jetzt zum Theatertreffen mit ihrer "Lear"-Adaption "Das Testament" eingeladen sind, arbeiten seit Jahren auf Kampnagel.
Es ist noch eine zweite Koproduktion von Kampnagel beim Theatertreffen, Christoph Schlingensiefs "Via Intolleranza". Tragen solche Ehrungen dazu bei, dass mehr Zuschauer kommen?
Deuflhard: Könnte sein. Eine solche Auszeichnung wirft einen Fokus auf die freie Szene und auf Kampnagel, Anerkennung schafft sie allemal.
Lux: Wenn wir mit "Caligula" in Shanghai gastieren oder mit "Hamlet" in Peking, steigt in Hamburg die Nachfrage. Wenn andere sich für uns interessieren, dann muss ja was dran sein. Stimmt ja auch. Aber Mundpropaganda findet nur zwischen Menschen statt, die sich potenziell für Theater interessieren. Das Ziel muss aber sein, dass es für alle Menschen normal wird, ins Theater, Konzert oder Museum zu gehen. Weil man gespannt darauf ist, was dort stattfindet. Es müsste eine Grundstimmung geben, einen Humus, der gut ist für die Kultur und damit für die Stadt, in der wir leben.
Wie gewinnen Sie, über Ihr Stammpublikum hinaus, neue Theaterzuschauer?
Deuflhard: Wir haben in den vergangenen drei Jahren unser Publikum um 50 000 Zuschauer erhöht. Wir haben Stücke für Kinder und Jugendliche im Programm, veranstalten Konzerte, Musiktheater, Theater und Tanz, präsentieren internationale Stars und Newcomer und arbeiten mit bildenden Künstlern. Dabei suchen wir immer wieder nach Ästhetiken und Themen, die die heutige Welt spiegeln.
Wie macht das Thalia gezielt auf sich aufmerksam?
Lux: Zunächst einmal mit Qualität. Ich glaube, wir haben kaum einen Abend gehabt, der unter Niveau war. Dass nicht allen alles gefällt, ist eine andere Frage und normal. Dann: Wir haben bei den Regisseuren ein breites Spektrum von erfahrenen Künstlern bis zur Entwicklung von sehr jungen innovativen Künstlern. Wir haben mit den "Lessingtagen" aus dem Stand heraus das neben dem Kampnagel-Sommerfestival größte Festival Hamburgs geschaffen. Hinzu kommen vielfältige Bemühungen, das Publikum mit Diskussionen, Angeboten für Menschen mit schmalem Geldbeutel und einer Unmenge an theaterpädagogischen Programmen an uns zu binden.
Glauben Sie, dass Sie mit Aufführungen wie Brechts "Antigone des Sophokles" neue Zuschauer ansprechen können?
Lux: Dazu ist der Abend zu anspruchsvoll. Diese eigene, möglicherweise auch sperrige Inszenierung ist kein Mainstream und schmiegt sich nicht an. Wenn wir uns Regisseure wie Dimiter Gotscheff nicht mehr leisten können, dann sag ich \'Gute Nacht\'! Erfolg an der Kasse ist nicht das einzige Kriterium für ein Staatstheater. Wir bekommen Subventionen, um Vielfalt anzubieten.
Hilft es, wenn sich die Politik wieder stärker für Kultur engagiert?
Lux: Ungemein. Wenn es in der Stadt Repräsentanten gibt, die sagen, Kultur ist uns wichtig, dann träufelt das in die Stadt und schafft ein besseres Klima.
Was sollte der neue Senat kulturell möglich machen?
Lux: Die Kultur so ausstatten, dass von unten etwas nachwachsen kann. Wo kein Boden ist, kann auch keine Elbphilharmonie gedeihen. Das andere ist, dass die Kultur sich nicht immer dafür rechtfertigen sollen müsste, dass es sie gibt. Als Drittes muss das Gesamtklima so sein, dass die Kultur atmen kann. Wenn das gelingt, kann man von einer Stadt im kulturellen Sinne reden, von einem lebendigen Ort, der mehr ist als eine Ansammlung von Straßen, Häusern und Geschäften. Das ist öde. Dafür leben wir nicht. Das ist das, was es uns ermöglicht, andere Dinge zu tun. Das Gesamtklima muss sein: "Kampnagel oder die Kunsthalle gehören zu meinem Leben dazu", da gehe ich ein paarmal im Jahr mit meiner Familie hin.
Deuflhard: Es sollte sich in der Kunst spiegeln, dass wir uns in einer internationalen Stadtgesellschaft befinden. Wir müssen internationale Künstler anziehen und mit Künstlern migrantischer Herkunft aus Hamburg arbeiten.
Lux: Berlin gibt beispielsweise recht viel Geld für ein "postmigrantisches Theater", das Ballhaus Naunynstraße. Das ist kulturpolitisch entschieden gewollt. Die sind nun auch beim Theatertreffen. Sie machen richtig tolles Theater. So etwas könnte es in Hamburg auch geben.
Deuflhard: Und deren Besucher sind jung, international und interessiert.
Lux: Genau das meine ich, wenn ich neue Publikumsschichten erschließen will. Aber sollen wir jetzt eine türkische "Medea" rausbringen? Das wäre vermutlich Quatsch. Und wenig authentisch. Wir brauchen auch neue Stücke, neue Künstler, neue Themen. Wir müssen alle Hamburger ansprechen. Das ist die Aufgabe der Zukunft.
Stellungnahme von Joachim Lux zur Kulturspardebatte im Hamburger Abendblatt, 26. 10. 2009
Die Debatte um den Stellenwert von Kultur ist infam und verlogen ohnegleichen. Und die dankenswerterweise vom Hamburger Abendblatt angestoßene Debatte wird bis jetzt viel zu moderat geführt. Warum?
Wir haben ein Jahr hinter uns, in dem unentwegt „Schutzschilde“ um die Finanzwirtschaft errichtet wurden, die Milliarden gekostet haben. „Schutzschilde“, die Versagen und Skrupellosigkeit von Finanzmanagern „abfedern“. Das sind die Folgen einer liberalen Deregulierungspolitik. Die Kosten aber werden sozialisiert. Die „Schutzschilde“ gegenüber sozialen, kulturellen und gemeinnützigen Dingen werden abgebaut. Nichts gegen „Schutzschilde“, so lautet die Devise, aber sie werden leider gerade woanders gebraucht!
Da meldet sich bauernschlau der Bund der Steuerzahler, da meldet sich dieser, da meldet sich jener, wie man Geld sparen könnte, ähm bei der – ja warum eigentlich nicht – Kultur! Das alte neoliberale Lied: Mehr „Eigenverantwortung“ des Bürgers, er soll selber bestimmen (und dann auch bezahlen), was ihm was wert ist, mehr „Demokratie wagen“ also. Braucht man Museen? Nicht unbedingt. Braucht man Theater? Nicht unbedingt. Braucht man ein lebendiges Sozialbiotop wie das Gängeviertel? Nein. Wer ins Hallenbad schwimmen gehen will, soll die realen Kosten bezahlen. Wer die Straßenbeleuchtung für wichtig hält, soll sie selbst bezahlen, etc.
Wir sind mittendrin in dem, was die “liberale“ Partei stolz „Systemwechsel“ nennt. Nicht mehr länger sind es die Linken, nein es sind die Wirtschaftsliberalen, die in der Finanzkrise eigentlich ihr Waterloo erlebt haben, jetzt aber frech immer weiter machen mit der Deregulierung.
Das ist aber nicht nur lustig! Hier vollzieht sich tatsächlich das Ende des Systems, das vor über hundert Jahren Reichskanzler Bismarck eingeführt hat. Es hat ziemlich erfolgreich den sozialen Frieden gesichert, indem es Staat und Unternehmer an den Kosten der Sozialsysteme beteiligt hat. Weg damit! Künftig wird jeder seine Krankenkassenbeiträge – ohne Arbeitgeber - eigenverantwortlich selbst gestalten können: mehr Demokratie wagen – na viel Spaß! Und das ist nur der Anfang: warum soll diese Idee vor der Rentenversicherung halt machen? Warum soll sie nicht auf die Arbeitslosenversicherung ausgedehnt werden? Warum soll nicht einfach überhaupt jeder nach seinen Möglichkeiten für sich selbst sorgen?
Die alte Idee, dass der Staat bzw. der Arbeitgeber soziale und kulturelle Verantwortung übernimmt - sie ist eine Konstante, die auch die Väter des Grundgesetzes essentiell meinten. Sie wird kalt lächelnd zur Disposition gestellt und das Herumnörgeln an ohnehin kleinen Kulturetats ist nur der Testballon für einen weitreichenden Systemwechsel. Politische Revolutionen ereignen sich eben manchmal, ohne dass die Bevölkerung sie merkt… Das ganze Ethos dieses Staates - das sich bei den ehemals staatstragenden Parteien in den Buchstaben „C“ oder „S“ symbolisierte, das Unternehmerpersönlichkeiten von Krupp, der Wohnungssiedlungen für seine Unternehmer errichtete, bis Michael Otto ermöglichte, das private Stiftungen zum Gemeinwohl agieren ließ – es ist perdu und zur Disposition gestellt.
Von der Krankenversicherung als Systemwechsel bis zur Debatte um Kulturhaushalte – eine Kette von desaströsen Vorstellungen, gegen die nur eins hilft: Widerstand.
Stellungnahme von Joachim Lux zum Umgang mit Kultur in Hamburg in der MOPO, 2. November 2009
Wenn sich der Rauch der gegenwärtigen Debatten um Kultur und Bildung verzogen hat, wird man - trotz unbestreitbarer großer finanzieller und struktureller Probleme - überraschenderweise doch auch feststellen müssen: Ein Land, in dem diese Debatte in dieser Breite mit solch einer Intensität geführt wird, steht so schlecht nicht da!
Warum? In einer Zeit, wo es viele Verteilungskämpfe um das knappe Geld gibt, setzt sich in der öffentlichen Meinung, bei den Bürgern und offenbar auch bei Politikern die Erkenntnis durch, dass man an vielem sparen kann, nur ausgerechnet nicht bei den ehemals "weichen" Themen, nicht bei Bildung und Kultur. Sie sind nämlich unversehens zu "harten" Themen geworden, zu Essentials statt Beiwerk. Zu Kernpunkten einer Bürgerkultur.
Die Anzeichen dafür, dass dies so sein könnte, sind stark in Hamburg, aber nicht nur dort: In den großen überregionalen Zeitungen sind beinahe täglich Debatten um den unverzichtbaren Stellenwert von Kultur zu lesen, in Hamburg ist das ähnlich, und auch die Bürger verteidigen Kultur: vom Gängeviertel, wo Tausende friedlich mit Lichterketten stehen, bis zur Elbphilharmonie, die trotz Kostensteigerungen zumindest aus der Schusslinie gerät und bald positiv besetzt sein könnte: von der Subkultur bis zur High-Class-Kultur könnte es eine allumfassende Umarmung geben. Anders als früher gelegentlich üblich sind Kultur und Bildung nicht Gegenstand lobbyistischer Protestschreie, nein, die Bewegung ist breit.
Mehr noch: Die Vitalität, mit der viele da zu Werke gehen, ist selbst ein unverzichtbarer Bestandteil von lebendiger Bürgerkultur, wie man sie sich wünscht. Auseinandersetzungsstark, aber nicht feindlich. So könnten die Gemeinwesen in Hamburg, Köln, Berlin oder anderswo wieder zusammenwachsen und sich Bereiche zurückerobern, die sie verloren glaubten. Das Einzige, was nicht passieren darf, ist, dass man gegenseitig futterneidisch wird: Natürlich ist es gut, Kulturinitiativen in Wilhelmsburg ebenso zu stützen wie das Gängeviertel, die Elbphilharmonie wie die Staatstheater, das Hamburger Theaterfestival wie die Clubszene oder Kampnagel - das ist alles gut und je mehr es davon gibt, umso besser.
Die Bewahrung, Steigerung und Ausweitung von Kultur und Bildung wären das Ziel, sodass die Politik die Errungenschaften ihrer städtischen Einrichtungen mit Stolz vor der Brust tragen kann. Der Bund bewahrt und steigert die Etats von Kultur und Bildung, er könnte helfen, dass dies auch den Kommunen gelingt.
Aber es geht auch um die weitere Vitalisierung von Museen, Opern, Theatern und Subkultur durch die Bürger, die nicht unbedingt nur durch Lichterketten, sondern durch aktive Teilnahme zeigen, wie wichtig und unverzichtbar ihnen ihre Institutionen sind. Aber auch die Zeitungen - auch die, die Sie gerade lesen! - könnten, wenn sie es ernst meinen, in ihrem Alltagsgeschäft (und nicht nur wenn der Hut brennt) der Kultur und der Bildung den Stellenwert einräumen, der ihnen zusteht. Wenn dies gelänge, könnte man mit Recht sagen: Deutschland geht es gut, weil hier der Kern von Zivilisation, nämlich Kultur und Bildung, einen großen Stellenwert hat ...
Lassen wir uns vom Mut der Politiker, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen, überraschen.
Joachim Lux