Verr
ücktes Blut

Schillers Erbe

 

„Verrücktes Blut“, so könnte glatt eine von vielen neuen Vampirserien heißen – aber es geht um „Ausländer“, habe ich mir sagen lassen und weiter wollte ich nichts wissen – unvoreingenommen lässt’s sich am besten richten.

Ich trat ein in die Thalia Gaußstrasse und am Eingangsfoyer drückte man mir ein Infoblatt in die Hand. Soviel zu unvoreingenommen. Kurzer Blick. Ah ja noch nie gesehene Namen. Mhm, soso, Ballhaus Naunynstraße, Gastspiel, olala Schirmherrschaft Fatih Akin. Blick wieder nach vorne und ich werde von einem Silberhaarmeer überschwemmt. Rettende Bojen? Ein freier Tisch in mitten des Raumes. Der Raum im belgischen Barock eingerichtet. Ich setzte mich langsam und versuchte, klebende Blicke loszuwerden, denn als einziger „Nichtbrillenträgerunterdreißigvollesschwarzeshaar“ war ich absolute Ausnahme. Noch eine halbe Stunde zur Aufführung und die deutsche Ü40 Mannschaft quetscht sich bereits in die Schlange à la Tokio Hotel Fangroup.

Es geht los. Sinne schärfen. Als Theaterbühne dient eine Art quadratisches Podium und drum herum stehen 8 Schauspieler und gängige Schulstühle. Über der Bühne hängt ein Klavierflügel. Die Schauspieler fangen an sich umzuziehen. Sieben von ihnen, davon zwei Mädchen und fünf Jungs, greifen nach einem Stuhl und setzen sich auf der Bühne hin. Das Licht wird gedimmt. Der Reihe nach treten die Darsteller vor und nehmen eine typische „Kanacken“pose ein: Man greift sich an die Genitalien und krächzt nach dem letzten Tropfen Schnodder, um ihn anschließend vor die Füße zu spucken. Es wird laut - weil gepöbelt, gegrapscht und ins Handy gebrüllt wird. Die Lehrerin tritt vor die Bühne. Klein, schüchtern. Sie fängt an über Friedrich Schiller und die Räuber zu erzählen, doch der Lautstärkepegel bleibt konstant, so dass ihre Stimme zwischen den ganzen Schimpfwörtern und dem Halbdeutsch untergeht.

Einmal flippt sie völlig aus und kreischt ihre Schüler an. Es wird für einige Sekunden ruhig, doch dann beginnt das Ganze von vorne. Von Autorität und Respekt keine Spur – ein klassischer Neukölln-Schulbericht, könnte man meinen. Die Lehrerin versucht weiterhin vergeblich für Ruhe zu Sorgen – gelingen tut ihr das jedoch erst mit einer echten Waffe, die einem Schüler aus der Tasche fällt. Mit der Waffe verwandelt sich die Lehrerin, gespielt von Sessede Terziyan, in ein Aufklärungsmonster.

Schiller ist die Brücke. Mit Druck und mit vorgehaltener Waffe schafft die Lehrerin, „Die Räuber“ und „Kabale und Liebe“ von den Machos spielen zu lassen – dabei werden bewusst gängige Klischees aufgedeckt und siehe da: Ehrenmord, Emanzipation , Patriarchalismus, Vater-Sohn - Konflikt – das sind keine Themen, die erst in diesem Jahrhundert die Welt erobert. Nein, das gab es alles bereits – das gab es zu Hauf – der einzige Unterschied ist, dass es in der Islamischen Welt kein Aufklärungsprozess gegeben hat. Verkappte Islamkritik? Könnte man meinen, aber das Stück ist weit aus vielschichtiger und komplizierter.

Während der Aufführung wird die Binnengeschichte mehrmals unterbrochen und die jungen Migranten fangen an, urdeutsche Kinderlieder zu singen, dabei spielt der Flügel, der über der Bühne hängt, die nötige Melodie. Genau dann, wenn man als Zuschauer denkt, die Message verstanden zu haben , haut das Stück noch einen raus – man „scheitert an sich selber“. Man scheitert, weil es eben nicht nur eine platte Ebene ist. Wenn sich mehrere Ebenen mischen, wird es zwar besonders interessant aber es raubt dem Stück die Glaubhaftigkeit – die Schüler scheinen aufgeklärt zu sein; eine Schülerin legt sogar ihr Kopftuch ab, es wird über die Hinrichtung eines Schülers abgestimmt, die Lehrerin „outet“ sich als Türkin – der schüchterne Kurde greift zur Waffe und möchte weiter der Franz aus Schillers Räuber bleiben. Er genießt es diesmal, nicht das Opfer zu sein und richtet seine Waffe ins Publikum. Der letzte Schuss fällt.

Ohrenbetäubender Applaus. Zu Recht.


Mustafa Pamirsad