Die Am
eise, die G
rille, die Hure

Menü 23: Der goldene Drache, Burgtheater Wien, Gastspiel, extra-scharf

 

Heiß zischende Woks, der Geruch von gebratener Hähnchenbrust und Hektik. Ganz viel Hektik. Zwischen asiatischen Gewürzen und vietnamesischem Kalender köchelt ein Abend der Superlative. Was die Erwartungshaltung angeht und natürlich die Geschichten in- und um das titelgebende China-Thai-Schnellrestaurant. Die kleine Küche überfüllt mit den fünf asiatischen Angestellten, das Geschirrklirren übertönt von den Zahnschmerzenschreien der jungen Küchengehilfin. Das alles passiert nicht weniger als eindrucksvoll - Achtung: nicht auf der Bühne des Thalia Theaters, sondern - in den Köpfen des Publikums. Denn das ist die Leistung des szenischen Improvisationsstückes in 45 Takten. Fünf Darsteller in 17 Rollen, die Geschlechter vertauscht, die Regieanweisung mit drin. Es heißt: mitdenken und vor allem mitlachen. Denn der erste Blick auf die Speisekarte bestätigt den goldenen Drachen als ein Stück gegenwärtiger Lachkultur. Aber auch nur auf den ersten Blick.

Denn Schimmelpfennig serviert in Wahrheit ein exquisites Menü im süß-sauren Wechselspiel aus Komik und Tragik. Es ist die großartige Leistung des regieführenden Autors, das vermeintlich belanglos Komische unmerklich in eine tiefe Tragik zu kippen. Wenn im letzten Drittel des Stücks das Gelächter verhallt und dieser greifbaren, unangenehm-berührten Stille weicht, da offenbart sich die todernste Thematik des Stückes. Zu beachten ist hier die Differenzierung des Schärfegrades. Schimmelpfennigs inszenierte Stimmungsschwankung ist die Antwort auf die Frage, wie man sich heutzutage politischen Themen wirklich annähern kann, ohne sich in der Bigotterie einer moralistischen Industrienation zu verlieren. Er erzählt die prototypischen Geschichten von illegalen Einwanderern in einer Wiener Melange aus Komik, Fantastik und der brutalen, durchschimmernden Realität. Besonders eindrucksvoll wird die Fabel der fleißigen Ameise und der faulen Grille aufgegriffen und in ihrer normativen Lehrfunktion tragikomisch pervertiert. Die Grille, die den Sommer über lieber musizierte, muss sich der Ameise und den Ameisenfreunden gegenüber prostituieren, um ein paar Teile von toten Fliegen zu essen zu bekommen. „Für die Ameisen ist die Grille eine geile Schlampe. Die Ameisen machen mit der Grille was sie wollen. Sie nehmen sie hart ran. Sie ficken sie durch, oft eine nach der anderen.“ Das wirkt zunächst einmal abstrus, dann komisch und am Ende hochdramatisch, wenn sich auch diese Szene als eine Zutat der großen, heißen Gesamtthaisuppe erweist. Die Grille ist nämlich ein chinesisches Mädchen, deren Träume von der großen freien Welt in ihrem ganz persönlichen ewigen Winter erfrieren. Endstation: Babystrich. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht war der Schärfegrad dieses Abends nah an der Grenze des Erträglichen. Ein ganz starkes Stück. Und zum Dessert gibt es eine Portion Nachdenklichkeit. Zum mitnehmen, bitte.


Dennis Sand