Stadtgespräch

Sonja Anders hat Gisela Wild, Rechtsanwältin und ehemalige Richterin, in ihrem Haus in der Kloppstockstraße in Altona besucht und mit ihr über Gleichberechtigung, Macht und Freiheit gesprochen. Die 93-jährige hat unter anderem für berufstätige Mütter und Zwangsarbeiterinnen gestritten und war in zahlreichen Prozessen und Verfassungsbeschwerden erfolgreich. Sie ist aktuell noch berufstätig mit dem Schwerpunkt Urheberrecht und KI.

Ich habe immer gekämpft. Ich kämpfe heute noch
(Gisela Wild)

Sonja Anders: Frau Wild, wann sind Sie nach Hamburg gekommen?

 

Gisela Wild: Das ist eine lange Geschichte. Bis 1946 haben wir in Schlesien gelebt, dann sind wir in den Westen transportiert worden. Und so sind wir mit Milizbegleitung in Zügen, also in Viehwagen, in Richtung Westen geschickt worden. Wir sind dann in Marienborn angekommen, im Lager. Und schließlich verteilt worden, in ein Dorf in Niedersachsen, das …  heißt.

 

Anders: Wie war es dort für Sie?

 

Wild: Die Dorfbewohner waren empört, dass Flüchtlinge in ihre Gastwirtschaft gesteckt wurden. Das große Tanzzimmer wurde zum Flüchtlingslager. Und war ziemlich besetzt. Wir waren die Letzten, meine Mutter mit vier Kindern. Da sagte die Bäuerin, so geht das nicht weiter - und hat für uns ein kleines Zimmer geräumt. Wir wurden ins Haus integriert und haben mit in der Landwirtschaft gearbeitet.

 

Anders: Sind Sie dort zur Schule gegangen?

 

Wild: Ich war ja zwei Jahre nicht in der Schule, und musste mich wieder an das Stillsitzen gewöhnen, erst in Braunschweig, dann in Konstanz bis zum Abitur. Da habe ich gut Anschluss gefunden. Ich habe aus dieser Zeit immer noch zwei Freundinnen, mit denen ich korrespondiere.

 

Anders: Und dann haben Sie studiert?

 

Wild: Dann habe ich Jura studiert, ja. Für meinen Vater war ich immer die Juristin. Ich wurde ziemlich gleichberechtigt erzogen. Ich habe auch später überhaupt nicht begriffen, wie es möglich war, dass Frauen so lange derartig unterdrückt wurden. Wenn man sich vorstellt, 1900 ist das BGB geschaffen worden, 1958 dann erst überholt in Bezug auf Gleichberechtigung, und auch dann funktioniert das noch lange nicht.

 

Anders: Was bedeutet Ihnen Hamburg?

 

Wild: Ich lebe hier nun seit 1960. Für mich sind es Lessing und dann Brahms, die eine wichtige Rolle für die Stadt spielen. Hamburg war die erste Stadt mit einer Oper. Es ist eine aufgeklärte Stadt.

 

Anders: Auch Sie haben in Ihrem Leben immer gekämpft für Gleichberechtigung.

 

Wild: Ja, ich habe immer gekämpft. Ich kämpfe heute noch, weil es einfach überhaupt nicht einzusehen ist, dass Gleichberechtigung immer noch nicht selbstverständlich ist.

Gesetze allein reichen nicht.
(Gisela Wild)

Anders: Würden Sie sagen, dem kommt man mit den Gesetzen bei?

 

Wild: Gesetze allein reichen nicht. Wir haben inzwischen für Europa ein gutes Gleichberechtigungsrecht. 1953 hat sich die Bundesregierung aufgemacht, Gleichberechtigung im Grundgesetz durchzusetzen. 1977 gab es dann noch einmal eine entscheidende Etappe, als die Hausfrauen-Ehe abgeschafft wurde. Und Gleichberechtigung ist trotzdem in der Praxis nicht durchgesetzt. Fakten wie zum Beispiel, dass bis ins hohe Alter Frauen weniger verdienen, sind ungeheuerlich.

 

Anders: Ist es für Sie leicht gewesen, sich durchzusetzen in dieser Männerwelt?

 

Wild: Durch meine Erziehung war es für mich wie selbstverständlich. Und ich bin immer wieder Männern begegnet, die mich gefördert haben. Deshalb bin ich auch der Meinung, man sollte im Grunde das ganze Konstrukt angucken. Wie leben wir miteinander?

 

Anders: Sie sind nicht klassisch in Rente gegangen, nicht wahr?

 

Wild: Nein, ich bin nicht in Rente, ich bin immer noch Rechtsanwältin. Und ich bewahre diesen Titel. Derzeit kümmere ich mich um Datenschutz und KI. Das kommt daher, dass ich als Rechtsgebiete Presse- und Urheberrecht hatte. KI-Recht ist im Grunde genommen ein erweitertes Urheberrecht.

 

Anders: Das ist ein toller Lebensentwurf, dass man mit seinem Beruf älter wird. Beeindruckend ist für mich auch Ihr aktueller Schwerpunkt.

 

Wild: Ja – und auch beängstigend. Vor allem in Hinsicht auf das, was aus Amerika kommt. Ich habe vor 42 Jahren eine Verfassungsbeschwerde gegen das Volkszählungsgesetz unseres Staates durchgesetzt. Das daraus resultierende Volkszählungsurteil sicherte den Bürgern mehr Rechte auf ihre Daten zu. Und dies ausgerechnet in der Zeit, in der Orwells Roman 1984 spielt, den ich immer sehr mochte! Eine verrückte Zeit! Im Februar 1983 bekam ich morgens einen Anruf von Alice Schwarzer, die mich fragte, was ich gegen das Volkszählungsgesetz unternehmen würde. Mittags rief aus dem gleichen Grund der Inhaber des Lehrstuhls für Informatik, Professor Brunstein, der zugleich ein FDP-Freund war, an. Und dann bin ich nach Hause gekommen und mein Sohn, der gerade Abitur gemacht hatte, sagte: Ich wundere mich, dass du dich nicht darum kümmerst, das ist doch hochdramatisch.

 

Anders: Ging es Ihnen dabei auch um demokratische Grundwerte?

 

Wild: Vor allem um die Sorge um die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Bürger unseres Landes.

 

Anders: Wenn Sie von einer Bedrohung durch die USA sprechen, was meinen Sie damit?

 

Wild: Heute haben wir zwei Angreifer auf die Freiheit. Da ist der Staat, der am liebsten alles wissen will, und anlasslose Durchsuchung der Geräte, Handy und Festplatte und was alles, betreibt. Und dann sind es die Tech-Konzerne. Vor allem in Amerika sind sie so gewaltig und so reich, das ist unbeschreiblich. Die vielen Nullen kann man gar nicht erfassen. Und die Art, wie sie alles einnehmen und sich einmischen in Gebiete, die sie gar nichts angehen, das hat Größenordnungen angenommen, ungeheuerlich.

Es geht um Macht! Und Geld!
(Gisela Wild)

Anders: Da geht es um Macht, nicht wahr?

 

Wild: Was denken Sie? Es geht um Macht! Und Geld! Darum schützt Trump sie ja, und hält sie von Zahlungen frei – aber nur, solange er etwas davon hat. Das ist eine neue Machtebene, diese Tech-Konzerne, die wir nicht sehen können. Geld wird vermehrt, indem Daten gehandelt werden. Und die Daten, die gehandelt werden, das sind wir. Und wir denken immer noch, dass wir es sind, die handeln.

 

Anders: Ist es, wenn Sie so über das Volkszählungsgesetz nachdenken, heute so, dass es zu wenig Gesetze gibt, um diese Tech-Konzerne zu stoppen?

 

Wild: Eigentlich sagen alle, die sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigen, das etwas passieren muss. Europa muss mit einem Gesetz dagegenhalten, zu einer Datensolidarität kommen, ansonsten ist es verloren. Und Europa muss die Digitalisierung in den Griff bekommen, damit es konkurrenzfähig ist.

 

Anders: Mögen Sie sich vielleicht unsere Inszenierung von Sankt Falstaff anschauen? Da geht es auch um Überwachung, Intrigen und Macht.

 

Wild: Wann ist denn die Premiere? Ich schaue, ob ich Zeit habe…

 

Anders: Die Premiere von Falstaff ist am 23. Januar. Da reserviere ich Ihnen gleich mal Tickets.

 

Wild: Das freut mich!

 

Anders: Und dann könnten Sie noch zu den Lessing-Tagen kommen, wo Sie ihn gerade genannt haben. Da haben wir Populismus und die Tech-Elite zum Thema. Ich habe Ihnen auẞerdem einen Honig vom Thalia-Dach mitgebracht. Und ich würde gerne noch ein Foto von Ihnen machen.

 

Wild: Na dann machen wir das!