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Welttheat
ertag 2022

Botschaft zum Welttheatertag 2022 von Natalia Vorozhbyt

Botschaft von Natalia Vorozhbyt zum Welttheatertag 2022

Die letzten acht Jahre beschäftigen sich praktisch alle ukrainischen Theaterleute, und eigentlich alle ukrainischen Künstler mit dem Krieg. Seit 2013 machen wir das und ich bin ehrlich davon ausgelaugt, ich würde so gerne etwas anderes machen. Doch gerade jetzt ist klar, dass wir mit unserer gesamten Schaffenskraft dazu gezwungen sein
werden, uns nur mit diesem Thema zu beschäftigen, das sich Angst und Ungerechtigkeit in der
Zone des Schmerzes und der Verzweiflung befinden. Schaut euch die Fotos an: Auf einem kann man das Theater in Mariupol sehen, und auf dem
anderen nur noch seine Ruine. Auf dem Foto sieht man es nicht, aber unter der Ruine befindet sich
ein Luftschutzraum, dort versteckten sich hunderte, fast tausend Menschen, Zivilisten, Kinder. Manche kamen noch
heraus, andere bleiben für immer dort. Die Knöpfe, die die Raketen in Marsch setzen auf unsere Theater, Städte, Menschen, werden von
den Fingern gewöhnlicher Russen gedrückt, um uns zu vernichten. Sie begehen bewusst einen
Genozid an den Ukrainern und das im 21. Jahrhundert, heute. Wir feiern dieses Jahr nicht den Welttag des Theaters, wir werden keine Feste feiern, Feiertage
begehen. Wir rechnen nur die Tage des Kriegs und unser erster Feiertag wird der Tag des Sieges
sein. Aber es ist sehr schwer für uns zu siegen. Ich bitte Sie um Unterstützung – in Wort und Tat und nicht zu vergessen, dass auch die russische
Intelligenz Verantwortung für das trägt, was gerade in der Ukraine passiert. Ich bitte Sie, sich nicht an diesen Krieg zu gewöhnen, sich nicht an das Böse zu gewöhnen. Wir
sind Nachbarn auf derselben europäischen Straße, wir haben gemeinsame Theater, gemeinsame
europäische Werte. Lassen sie uns gemeinsam die Werte an der Kunstfront verteidigen bis wir
gewinnen!

Danke!

27.3.2022

Natalia Vorozhbyt ist eine ukrainische Dramatikerin und studierte am Institut für Literatur in Moskau. Sie hat an Autorenprogrammen wie dem International Writers Program an der Universität in Iowa (USA) und der International Playwright Residence am Royal Court Theater in London teilgenommen. Ihre Stücke wurden in der Ukraine, Russland, Litauen, Polen, Großbritannien, Deutschland und den USA gezeigt und in neun Sprachen übersetzt. Außerdem ist Vorozhbyt als Autorin für Film und Fernsehen tätig. 2017 wurde am Royal Court ihr Stück „Bad Roads“ uraufgeführt, das ebenso wie „Monolog Nr.1“, ein Stück, das 2015 in Kyiv Premiere hatte, den Ukrainekonflikt, insbesondere die Auswirkung des Kriegs auf die Frauen, zum Thema hat. 2020 erhielt sie die ukrainische Auszeichnung Women in Arts für Theater und Film. Im Jahr 2021 erhielt sie den “Oleksandr-Dovzhenko-Staatspreis” der Ukraine für ihren herausragenden Beitrag zur Entwicklung des ukrainischen Kinos.

Botschaft zum Welttheatertag 2022 von Peter Sellars

Liebe Freund:innen,
während die Welt jede Stunde, jede Minute am täglichen Tropf der Nachrichtensendungen hängt, gestatten Sie mir, uns alle, als Kunstschaffende, dazu aufzufordern, unseren eigenen Bereich einzunehmen, unser Arbeitsfeld, unsere Perspektive der epischen Zeit, des epischen Wandels, des epischen Bewusstseins, der epischen Reflektion und der epischen Vision. Wir leben in einer epochalen Phase der Menschheitsgeschichte, und die tiefgreifenden, folgenschweren Veränderungen, die wir im Verhältnis der Menschen zu sich selbst, zueinander und zu nichtmenschlichen Welten gerade erleben, liegen schon fast außerhalb des für uns Fassbaren, Artikulierbaren, Sagbaren und Ausdrückbaren.
Wir leben nicht im 24-Stunden-Nachrichtenzyklus, sondern wir leben am Rande der Zeit. Die Zeitungen und Medien sind weder dafür ausgestattet noch in der Lage, mit dem, was wir erleben, umzugehen.
Wo ist die Sprache, was sind die Bewegungen und was sind die Bilder, mit deren Hilfe wir die weitreichenden Verschiebungen und Risse, die wir erfahren, verstehen könnten? Und wie kann es uns gelingen, unsere gegenwärtigen Lebensinhalte nicht nur als Reportage zu vermitteln, sondern erfahrbar, erlebbar zu machen?
Das Theater ist die Kunstform des Erlebens.
Wie können wir in einer von Pressekampagnen, simulierten Erlebnissen und grausigen Vorhersagen überwältigten Welt die endlose Wiederholung von Zahlen überwinden, um die Unantastbarkeit und Unendlichkeit des einzelnen Lebens, des einzelnen Ökosystems, einer Freundschaft oder der Qualität des Lichts an einem fremden Himmel zu erfahren? Zwei Jahre COVID-19 haben den Menschen die Sinne getrübt, das Leben verengt, Verbindungen gekappt und uns an einen seltsamen Nullpunkt menschlicher Habitation gebracht.
Welche Samen müssen wir in diesen Jahren immer wieder säen, und was sind die wuchernden, invasiven Arten, die vollständig und endgültig beseitigt werden müssen? Sehr viele Menschen stoßen an ihre Grenzen. Viel Gewalt flammt auf, irrational und unerwartet. Viele etablierte Systeme haben sich als Strukturen fortdauernder Gewalt erwiesen.

Wo sind unsere Erinnerungszeremonien geblieben? Woran müssen wir uns erinnern? Was sind die Rituale, die es uns endlich erlauben, neu zu gestalten und Schritte zu probieren, die wir nie zuvor gegangen sind?
Das Theater der epischen Vision, Absicht, Gesundung, Wiederherstellung und Fürsorge erfordert neue Rituale. Wir brauchen keine Unterhaltung. Wir müssen zusammenkommen. Wir müssen einen Raum miteinander teilen, und wir müssen den geteilten Raum kultivieren. Wir brauchen geschützte Räume des intensiven Zuhörens und der Gleichberechtigung.
Theater bedeutet, auf der Erde den Raum der Gleichberechtigung von Menschen, Göttern, Pflanzen, Tieren, Regentropfen, Tränen und Erneuerung zu erschaffen. Der Raum der Gleichberechtigung und des intensiven Zuhörens wird von verborgener Schönheit erleuchtet und im tiefgründigen Zusammenspiel von Gefahr, Gleichmut, Weisheit, Aktion und Duldsamkeit lebendig gehalten.
Im Blumengirlanden-Sutra listet Buddha zehn Arten der Duldsamkeit im menschlichen Leben auf. Eine der mächtigsten von ihnen ist die Duldsamkeit in der Wahrnehmung aller Phänomene als Trugbilder. Das Theater hat das Leben auf dieser Welt immer als eine Art Trugbild dargestellt und uns dadurch erlaubt, mit befreiender Klarheit und Kraft die menschlichen Illusionen, Täuschungen, Verblendungen und Verleugnungen zu durchschauen.
Wir sind uns dessen, was wir anschauen, und der Art, wie wir es anschauen so sicher, dass wir andere Wirklichkeiten, neue Möglichkeiten, alternative Denkansätze, unsichtbare Beziehungen und zeitlose Verbindungen nicht mehr zu erkennen und zu erspüren vermögen.
Jetzt ist es Zeit für eine grundlegende Auffrischung unseres Geistes, unserer Sinne, unserer Fantasie, unserer Geschichten und unserer Zukunft. Diese Arbeit kann nicht von isolierten, allein arbeitenden Menschen bewältigt werden. Es ist eine Aufgabe, die wir gemeinsam erledigen müssen. Das Theater ist die Einladung dazu.
Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Arbeit.

Peter Sellars, Januar 2022
Theater- und Opernregisseur, Festivalleiter

International Theatre Institute ITI