Fantasies of another life

„Um alles in der Welt“ – Wirklich? Lieber nicht, möchte man vielleicht sagen; selten war die Welt verwirrender und verstörender.

Die Künste sind Gott sei Dank nicht nur dazu da, das Drängende und Bedrängende der Gegenwart unmittelbar zur Darstellung zu bringen, sondern auch dafür, übergeordnete Reflexionsräume und verborgene Zusammenhänge zu suchen. Die Kunst erspürt die Poesie hinter der (individuellen) Geschichte und setzt sich mit der Kraft von Fantasie und Imagination der Wirklichkeit entgegen oder sogar über sie hinweg. Und das heißt vor allem, von dem zu erzählen, was die Menschen in ihrem Kern trotz aller Not, Verzweiflung oder Unzufriedenheit umtreibt, nämlich alternative Wirklichkeiten zu imaginieren: „Fantasies of another life“. In aller Vielfalt und gelegentlich auch Fragwürdigkeit.

 

Eine Geschichte, die wir bei den Lessingtagen erzählen, geht so:  Man will nicht der sein, der man ist, sondern ein anderer! Dem eigenen Ich entkommen (oder dem, was die Anderen dafür halten). Die Fantasie von der eigenen Größe, Stärke, Schönheit, Grandiosität – der Drang, nicht immer nur der ewige Zweite zu sein – ist ein erheblicher Motor für Fortschritt und Veränderung. Ihre Kehrseite: Zerstörung, Krieg und Gewalt, nicht nur in der Antike (wie bei „Ajax und  der Schwan der Scham“, in der Regie von Christopher Rüping).

Zwei andere Geschichten gehen so: Ich will nicht an dem Ort sein, an dem ich bin. Oder: Ich will nicht in der Zeit leben, in der ich lebe, lieber gestern als jetzt, lieber morgen als jetzt.

 

Wunschorte – „Another life“ kann sich überall ereignen, nur nicht dort, wo man ist. Immer wieder sind es daher Wunschorte, die Menschen bewegen: die Heimat oder ihr Verlust, das Paradies, der Himmel, der Aufbruch oder die Flucht in die  Fremde, Orte der Verheißung einer besseren Welt, die es – parallel – doch vielleicht irgendwo auf der Welt geben könnte, nein: müsste.

Was bewegt einen jungen Mann, der als Migrant in Griechenland lebt, immer und immer wieder in die Taverne seiner albanischen Eltern zurückzukehren („Taverna Miresia“)? Was treibt einen Menschen um, der, an seiner russischen Heimat verzweifelnd, im deutschen Exil lebt und tanzt („Die Trauer des Dämons“)? Wie geht es jungen Mädchen in  Afghanistan, die vor dem Patriarchat nicht fliehen können und gezwungen sind, sich eine fantasievolle Zuflucht zu konstruieren, die sich entschließen, ihr Geschlecht zu tauschen, um als Jungen auftreten zu können („Underground Girls“)? Oder: Wie verzweifelt und zugleich von einem unbedingten Lebenswillen angefeuert müssen Menschen sein, die im Iran Marathon trainieren, um nachts knapp 40 Kilometer durch den Eurotunnel zu laufen, in der Hoffnung, in Großbritannien anzukommen, bevor der erste Zug sie zermalmt („Blind Runner“)? All dies sind Erzählungen höchster existentieller Not, die über sich selbst hinausweisen, weil sie davon berichten, mit welcher Hoffnung und Fantasie  Menschen immer und immer wieder versuchen, ihr scheinbar unveränderbares Schicksal hinter sich zu lassen. Eine besonders schmerzhafte, ja, sprachlos machende Geschichte ist dokumentarisch: Es sind die Gespräche und Briefe zwischen Alexej und Julija Nawalny. Wie ist es möglich, trotz schier unermesslichen Leids, die Hoffnung aufrechtzuerhalten und die Kraft zu bewahren, sich ein Leben außerhalb der Qual vorstellen zu können („Hallo, hier spricht Nawalny“)?

 

Wunschzeiten – Man will lieber in der Heimat des Gestern leben oder in der Morgenröte der Zukunft, der Utopie einer gerechteren Gesellschaft. Nicht jetzt, sondern im Paradies oder Himmel oder in anderen Fantasien von einer wünschenswerten, märchenhaften Zeit. Hauptsache, es ist und wird anders, als es ist, und  man entkommt der Welt, wie sie ist. „Fantasies of another life“ setzen Energie frei. Gleich zu Beginn  der Lessingtage erinnern die Künstler von FC Bergman mit „Works and Days“ daran, dass die Menschen früher ihr Leben an den vier Jahreszeiten ausgerichtet haben – Vivaldi als Melodie einer längst verflossenen „Wunschzeit“, die vielleicht viel weniger Wunschzeit war, als wir heute glauben. Zwei „Zauberkomödien“ verführen in Wunschzeiten und Wunschorte gleichermaßen: In „Akıns Traum“ gelingt es dem migrantischen Alter Ego des Autors, mit dem E-Roller durch Gelsenkirchen zu fahren und von dort, quasi mit dem fliegenden Teppich, eine fantastische Zeitreise ins längst vergangene, aber immer noch faszinierende osmanische Reich zu machen. In Majakowskis „Die Wanze“ dann das Gegenteil: Hier wacht ein Durchschnittsmensch namens Bratfisch nach einer Zeitreise in einer menschengemachten Gesellschaftsutopie auf. Sie hat die Welt in eine perfekte Maschine verwandelt. Träume und Fantasien haben hier keinen Platz mehr, sie sind (scheinbar) erfüllt. Eine wunschlose Welt, die mit dem antiquierten Bratfisch samt einer Wanze nichts anfangen kann und beide im Zoo ausstellt. Dass die schier unbegrenzte Gestaltungsfähigkeit unserer Gattung immer wieder erschreckende Züge annehmen kann, wissen wir spätestens seit der drohenden Klimakatastrophe. Da, wo Elfriede Jelinek lakonisch von „Asche“ spricht, erzählt Akram Khan, Tänzer und Choreograph, in seiner Version des „Dschungelbuchs“ von Mowgli, bei ihm ein Mädchen, das vor der Klimakatastrophe flieht und es, wie durch ein Wunder, in eine andere, vielleicht rettende Welt schafft, nämlich die des Dschungels.

Mit dieser familienfreundlichen Aufführung sowie dem britischen Theateravantgardisten Tim Etchells enden die 16. Lessingtage. Der Titel seiner Inszenierung ist: „How goes the world? Ja, how? 16 Jahre lang haben wir versucht, dies bei den Lessingtagen zu ergründen, und gemeinsam mit uns über 200.000 Zuschauer – eine Suchbewegung, die immer und immer weitergehen wird… das ist ja das Schöne. Und dennoch gibts immer auch eine Endlichkeit: die Lessingtage 2025 sind die letzten in dieser Form.

Joachim Lux

 

Freund, ko
mm mit m
ir aufs Meer

über Utopien für das Zusammenleben, hier und überall / von Antje Boetius und mit Überraschungsgästen / Eröffnungsrede Lessingtage 2025 am 19. Januar, 11 Uhr, Thalia Theater

Work
s an
d Days

Gastspiel Toneelhuis Antwerpen, Belgien / von und mit FC Bergman / 18. und 19. Januar, 19 Uhr, Thalia Theater

Taver
na Miresia

Gastspiel Athens Epidaurus Festival 2023, Griechenland in Zusammenarbeit mit Theatro sti Sala / von Mario Banushi / 19. und 20. Januar, 20 Uhr, Thalia Gaußstraße

Akins T
raum

Gastspiel Burgtheater Wien, Österreich / vom osmanischen Reich von Akın Emanuel Şipal / Regie Stefan Bachmann / 26. und 27. Januar, 19 Uhr, Thalia Theater

Jungle B
ook reimag
ined

Gastspiel Akram Khan Company London, Großbritannien / von Tariq Jordan /inspiriert von Rudyard Kipling / Regie Akram Khan / 31. Januar, 1. Februar, 19 Uhr, Thalia Theater

Das Programm 2025

Festival-Pass

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Der Festival-Pass lohnt sich: Sie suchen sich 4 oder mehr Vorstellungen aus und erhalten  30% Rabatt. Und gratis dazu eine Stofftasche, gestaltet von Stefan Marx!

 

Erhältlich an der Tageskasse

Telefon +49 40. 32 81 44 44
theaterkasse@thalia-theater.de 

Stefan M
arx

Auch in diesem Jahr haben wir den Künstler Stefan Marx gebeten, sich mit Überzeichnungen zu Themen des Festivals einzumischen. Hier geht es zu seiner Website.

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