Richard Sennett: Open Cities. Eröffnungsvortrag zu den Lessingtagen 2015
Am 25. Januar eröffnete der renommierte Kultursoziologe Richard Sennett die Lessingtage 2015 mit einer Rede über das Verhältnis zwischen der Gestaltung einer Stadt und sozialen Spannungen. Er stellte dem Begriff der Grenze dem der Abgrenzung gegenüber: Ein Zellmembran z.B. würde durch seine äußere Hülle die Zelle schützen, wäre aber trotzdem durchlässig. Ebenso wären die Gebäude und die Infrastruktur in einer idealen Stadt so gestaltet, dass unterschiedlichste Gruppen ihre Interessen wahren könnten, aber trotzdem permanent in Kontakt miteinander seien. So könnten Konfliktherde zwar nicht gänzlich befriedet, Eskalationen aber minimiert und dauerhaft Toleranz geschaffen werden.
Übersetzung der Rede (leicht gekürzt)
Ich bin sehr froh, in Hamburg zu sein, um über die Lessingtage zu sprechen. Im Geiste Lessings möchten wir natürlich, dass in Europa eine friedliche Beziehung zwischen all den verschiedenen Menschen möglich ist, die hier leben.
Ich möchte heute mit Ihnen über das Problem der Toleranz sprechen, da ich denke, dass darüber sehr viel Unsinn erzählt wird: Unsinn in dem Sinne, dass Toleranz ein Zustand des Friedens sei, in dem Menschen in einer Art Gleichgewicht miteinander leben.
Dabei handelt es sich meiner Meinung nach um eine Illusion. Es ist eine Illusion, dass Zusammenleben ein Leben in einem Zustand der Friedlichkeit bedeutet. Deswegen hat der Titel "Aufruhr" mich dazu veranlasst, über dieses Thema zu sprechen; nicht im Sinne von Unruhen oder Gewalt, sondern in dem Sinne, dass es ein beunruhigender Zustand ist, mit Menschen zusammen zu sein, die anders sind als man selbst. Mit diesem beunruhigenden Zustand müssen wir unseren Frieden machen. Ich persönlich denke, dass wir Reibungen als etwas Positives ansehen müssen, nicht als etwas Negatives. Das bedeutet, dass wir Reibungen zwischen den Menschen trotz Verstörungen als etwas betrachten müssen, das uns anregt, unsere Lebensweise zu überdenken.
Heute spreche ich über einen kleinen Teil dieses großen Problems, nämlich: Wo kann man einen Raum finden, in dem Menschen diese Verschiedenartigkeiten und dieses unangenehme, anregende, destabilisierende, und unsichere Selbstempfinden erleben können? Ich denke, dieser Raum kann in einer bestimmten Art von Stadt gefunden werden.
Ich würde an dieser Stelle gerne aus Immanuel Kants großartigem Essay zum Thema Frieden von 1784 zitieren. Dort gibt es einen sehr prägnanten Ausdruck: „Das krumme Holz, woraus der Mensch gemacht ist.“. Ein wirklich offener städtischer Raum ist voller Menschen, die wirtschaftlich, ethnisch, politisch, sexuell und in ihren Lebensweisen verschieden sind und zusammenleben. Sollte diese Gekrümmtheit begradigt werden? Albert Speer war sicherlich dieser Meinung. Er versuchte, die Straßen, Parks, Büroräume und Häuser der deutschen Städte, vor allem in Berlin, in eine einzige Form zur pressen. Heute gibt es andere Kräfte, die diese Begradigung vorantreiben, vor allem eine immer weiter ansteigende wirtschaftliche Ungleichheit, die vormals uneinheitliche Wohngegenden voneinander trennt. Unsere Städte werden heterogener, aber nicht gemischter.
Die beliebteste Wohnform ist heutzutage die sogenannte „Gated Community". Das ist es, was Menschen wollen, wenn sie die Wahl haben. Kant würde es nicht gefallen, was in heutigen Städten geschieht. Er schrieb, um das Zitat von gerade aufzugreifen: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Nach diesem Grundsatz sollte ein guter Bürger einen Nachbarn, der sich von ihm unterscheidet, akzeptieren, ohne den Versuch zu unternehmen, ihn zu begradigen. Kant glaubte daran, dass unterschiedlichste Menschen friedvoll zusammenleben können. Er malte sich sogar aus, dass Menschen in einem krummen Raum mit all seinen Winkeln, Seitenstraßen und unerwarteter Erfahrungen vielleicht sogar Gefallen daran finden könnte. Er verschrieb sich dem Ideal einer Gesellschaft, die in der Lage ist, Komplexität zu leben. Wörter wie "multikulturell" oder "inklusiv" sind für mich abgenutzte Klischees. Ich frage mich, ob ein Zustand der Begegnung physisch hervorgerufen werden kann. Das bedeutet: Gibt es eine Möglichkeit, Städte so zu gestalten, dass Raum für Begegnung entsteht?
Dazu werde ich Ihnen einen kleinen Einblick in mein Buch „The Open City“ geben, in dem ich die Voraussetzung einer solchen Stadt beschreibe: Ich gehe davon aus, dass eine Stadt Randzonen zwischen zwei Räumen braucht. Dabei unterscheide ich zwischen zwei Arten von Randzonen: Die Grenze und die Abgrenzung. Dies beschreibt zwei grundlegende Blickwinkel darauf, was passiert, wenn eine Randzone zwischen Räumen besteht. Unser Problem ist, dass wir heutzutage mehr Abgrenzungen schaffen, geschlossene Räume. Wir haben es verlernt, Grenzen zu schaffen. Dieser Gedanke kam mir vor ungefähr 15 Jahren, als ich begann, am MIT zu lehren und in die Gesellschaft von Naturwissenschaftlern geriet. Ich machte die Bekanntschaft einiger Biologen, die sagten, dass dieser Unterschied zwischen einer offenen Grenze und einer geschlossenen Abgrenzung auch in der Natur existiert - allerdings in einer ganz bestimmten Art und Weise.
Schauen wir uns einmal den Unterschied zwischen einer Zellmembran und einer Zellwand an. Eine Zellmembran lässt einen Austausch zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Zelle zu, der allerdings sehr selektiv ist. Eine Zellwand hingegen behält so viel wie möglich in ihrem Inneren; sie ist eine starre Grenze. Im Gegensatz dazu ist eine Zellmembran auf eine ganz spezielle Weise offen: Sie ist sowohl durchlässig als auch beständig. Wenn wir an Offenheit denken, denken wir an eine offene Tür, durch die man einfach hindurchläuft. Das halte ich im Hinblick auf menschliches Zusammenleben nicht für realistisch. Offenheit bedeutet, dass es auch Spannungen gibt, die man offensichtlich sehen kann, in der Spannung zwischen Durchlässigkeit und Beständigkeit. Die Zellmembran versucht, so viele Nährstoffe wie möglich aufzunehmen, und gleichzeitig alle benötigten Dinge im Innern zu halten. Es ist die Spannung zwischen Durchlässigkeit und Beständigkeit, die Offenheit hervorruft, und nicht die Abwesenheit von Spannung - das ist ein natürliches Phänomen.
Im Gegensatz dazu möchte ich anhand des Lebensraumes des Tigers in Asien ein Beispiel einer Abgrenzung geben. Tiger schaffen Abgrenzungen, indem sie ihr Revier markieren. Dieses Revier ist dann eine No-Go-Area, ein Raum, der es anderen verbietet, einzudringen. Das Entscheidende ist: Es ist ein Raum geringer Aktivität. In der Ökologie besteht der Unterschied zwischen einer Grenze und einer Abgrenzung also darin, dass eine Grenze ein Raum hoher Aktivität zwischen den Tierarten darstellt, eine Abgrenzung hingegen einen toten Raum. Ich stelle die These auf, dass dieses Prinzip sich auf menschliche Umgebungen übertragen lässt: Wenn man Menschen unter verschiedenen Bedingungen zusammenbringt, schafft man Leben; wenn man sie trennt, bedeutet das, dass man letztlich die Stadt absterben lässt.
Ein eklatantes Beispiel für eine Abgrenzung in der Stadt habe ich einmal bei einem haarsträubenden Helikopterflug in São Paulo gesehen. Auf der linken Seite einer Mauer war eine Favela, auf der anderen Seite eine extrem reiche Hochhaussiedlung. Jedes Stockwerk dort hatte einen Swimmingpool auf dem Balkon. Die Swimmingpools überblicken die Favelas und die Favela blickt direkt auf die Swimmingpools. Wenn Leute fragen: „Warum gibt es so viel Gewalt in São Paulo? Warum kommen die Menschen dort nicht miteinander aus?“, dann zeige ich ein Foto aus diesem Helikopterflug. Dies als Eindruck davon, was ich mit dem Unterschied zwischen Grenze und Abgrenzung meine.
Wie kann man hingegen durchlässige Grenzen wie eine Zellmembran auch im städtischen Raum schaffen? Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus Kopenhagen nennen, dass ich meinem Freund Jan Gehl zu verdanken habe. Mitten in der Altstadt von Kopenhagen gibt es ein Heim für Alzheimerpatienten. Viele Menschen, die Alzheimer haben, werden nach draußen in die Cafés gebracht - das ist Durchlässigkeit - anstatt versteckt zu werden. Es besteht also eine durchlässige Beziehung zwischen innen und außen. Es ist nicht besonders angenehm für die Touristen - und ich kann das sagen, weil ich schon dort gesessen habe -, wenn man in diesem Café neben drei Menschen im fortgeschrittenen Stadium von Alzheimer sitzt, aber es ist Realität. Es ist ein Zustand, dem Wahrheit innewohnt.
Ich möchte zum Abschluss dieser Beispiele etwas über Liminalität sagen. Der Zustand dieser Randzonen, wie ich Sie Ihnen beschrieben habe, ist ein liminaler Raum. Dazu würde ich Ihnen gerne etwas von William James erzählen, dem ersten großen Psychologen. Er beschrieb Ende des 19. Jahrhunderts den sogenannten Scheinwerferblick des Bewusstseins: Wenn wir uns einer Sache bewusst sind, richten wir einen Scheinwerfer darauf und blenden Dinge an den Rändern aus dem Fokus unserer Aufmerksamkeit aus. James’ Meinung nach ist das die Art und Weise, wie wir uns auf etwas konzentrieren. Liminalität ist hingegen psychologisch und psychophysisch ein anderer Zustand. Es ist wortwörtlich peripheres Sehen. Wie Sie vielleicht wissen, ist das konische Sichtfeld im menschlichen Auge ein 60-Grad-Kreis, in einem Halbkreis sind es dementsprechend 30 Grad. Nach der Meinung von James richten wir unseren Blick nur auf das Zentrum, aber für Stadtplaner stellt sich die Frage: Was bemerkt man noch am Rand seines Sichtfeldes? Das bedeutet Liminalität für uns. Es bedeutet, dem gesamten Sichtfeld Aufmerksamkeit zu schenken, statt nur dem Zentrum. Das ist ein Grundprinzip, das vom Psychologen D. W. Winnicott ausgeführt wurde und sich damit beschäftigt, auf welche Weise wir peripher sehen.
Ich denke, dass man Räume schaffen kann, in denen Menschen die Möglichkeiten einer durchlässigen Membran-Randzone erleben können; Räume, in denen verschiedenartige Menschen physisch zusammengebracht werden. Würde dies dazu führen, dass die Menschen interagieren? - Nicht unbedingt. Aber es würde zumindest das physische Umfeld dafür geschaffen werden, dass Menschen überhaupt erst interagieren können. Ich halte das für ausgesprochen wichtig. Die meisten Erfahrungen, die wir in Städten machen, sind stumm. Es geht nicht darum, jemandem beim Kauf eines Stückes Kuchen oder einer Flasche Milch die UN-Charta der Menschenrechtserklärung vorzulesen. Aber die Menschen verhalten sich stumm gegenüber Menschen, die andersartig sind, obwohl sie sich in einem physischen Raum mit ihnen befinden. Ihre Erfahrungen des Zusammenlebens sind körperlicher Natur, nicht verbaler. Und Stadtplaner haben meiner Meinung nach versagt, wenn es darum geht, einen Raum körperlicher Erfahrung zu kreieren, in dem das Erfahren der Bewegung eines anderen, ob er nun eine Burka trägt, wie er sich bewegt, wie er neben einem steht auch zu einem Erlernen des Zusammenlebens führt, wie beklemmend das auch immer sein mag. Die Pegida-Anhänger sind zum Beispiel Menschen, die in einer der Gegenden Deutschlands mit dem niedrigsten Ausländeranteil leben. Es hat mich nicht sonderlich überrascht, dass diese Menschen, die nur sehr wenig Kontakt mit Muslimen haben, denken, Muslime seien alle Bombenleger. Das rührt daher, dass sie schlicht und einfach nicht physisch zusammen sind.
Stadtplanung muss grundlegend neu strukturiert werden: Es sind genau die Randzonen, auf die wir in der Stadtplanung unser Hauptaugenmerk richten sollten. Beispielsweise sollten wir Schulen in den Randzonen von Gemeinden platzieren statt in deren Zentrum. Auf der anderen Seite sollten wir es wie die Menschen in Kopenhagen machen und diejenigen, die an dieser furchtbaren Krankheit sterben, in die Stadt aufnehmen, anstatt sie zu isolieren. Wir müssen auch Randzonen als natürliches Umfeld betrachten. Dieser Lebensraum ist nicht immer ein schöner Ort, aber es ist ein wahrhaftiger Ort. Ich glaube, genau da sollte die Entwicklung von Städten ansetzen.
Ich würde gerne noch einmal Kant zitieren, da er häufig als Argument für eine kosmopolitische Haltung angeführt wird. Bitte führen Sie sich vor Augen, dass die ursprüngliche französische Bedeutung des Wortes "cosmopolite" für Diplomaten verwendet wurde. Sie sollten mit Leichtigkeit von Ort zu Ort gehen, von Kultur zu Kultur, und dabei nicht mit dieser verwachsen, sich nicht in diese eingliedern. Im 19. Jahrhundert stand dieser mentalen Mobilität die Vorstellung physischer Mobilität gegenüber. Unter einem Kosmopoliten verstand man jemanden, der sich mit Leichtigkeit in der gesamten Stadt bewegen konnte, wie der baudelaire’sche Flaneur, der die diversen Stadtszenen aus der Distanz beobachtet. Dieser Kosmopolit war jemand, der sich trotz der Distanz zu Hause fühlte, jemand, der - in den Worten von Henri Lefebvre - das Gefühl hatte, ein Recht auf die gesamte Stadt zu haben.
Der Vorteil einer solchen Haltung ist, dass man aufhört, ein Leben voller Fantasievorstellungen über die anderen zu führen, wie es die Anhänger von Pegida tun. Sie haben Fantasievorstellungen über Muslime, weil sie niemals mit welchen in Berührung kommen. Meine Vorstellung einer durchmischten Stadt besteht im Kern darin, die Randzonen aufzubauen, anstatt Gemeinschaften zu konzentrieren, so dass die Menschen in der ganzen Stadt zusammenleben können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.