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Zur Lesung auf dem Hafendampfer „Weltreise ohne Pass – Migrationsgeschichten gestern und heute“

 

„Oh, wir werden doch nicht ermordet.“ Überraschte Gedanken der Auswanderin Mary Antin zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In diesem Satz schwingt die ständige Angst der Migranten mit, ob man denn je heil am Ziel ankommen werde. So war es damals. So ist es auch jetzt noch.

Bei der Lesung „Weltreise ohne Pass – Migrationsgeschichten gestern und heute“ werden Texte vorgetragen – geschrieben von Auswanderern und über Auswanderer. Statt findet sie dort, wo viele dieser Geschichten enden, beginnen oder eine Zwischenstation haben: Am Hamburger Hafen. Eine Barkasse wartet inmitten von Eisschollen auf die Zuhörer. Auch eine Schulklasse kommt mit an Bord. Und eigentlich sollte das Schiff nun auch ablegen. Eigentlich. Die Eisschollen seien zu groß, erklärt man dem Publikum. Die Barkasse bleibe also dort, wo sie ist und die Orte, zu denen man ursprünglich fahren wollte, werde man beschreiben.

Reimer Dohrn beginnt zu lesen. Er fängt bei den Auswanderern an. Jene, die ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten wollten. So wie Mary Antin. Ihr Buch von 1913 heißt „Vom Ghetto ins Land der Verheißung.“ Hamburg ist nur die Zwischenstation der Jüdin von Galizien nach Amerika. Zum Zeitpunkt ihrer Auswanderung war sie neun Jahre alt. Genau wie Arian Talebian. Die Afghanin, seit drei Jahren mit unbegrenzter Aufenthaltsgenehmigung, floh 1999 mit ihrer Familie aus der Heimat. Ihre Geschichte hat sie mit 14 Jahren aufgeschrieben: „Weltreise ohne Pass.“ Abwechselnd mit Dohrn, der fremde Texte vorträgt, liest sie nun das, was sie erlebt hat, für das Publikum.

Und eines fällt eben auf, wenn man beide hört: Auswandern hat sich nicht viel verändert. Vielleicht die Transportmittel, oder auch die Ziele. Aber eins haben sie alle gemeinsam: Die Ungewissheit, ob man ankommt. Als sie gerade die Grenze vom Iran nach Tadschikistan überquert haben und ihre beiden Taxifahrer plötzlich in der Dunkelheit verschwinden, schreibt Arian Talebian von Todesangst: „Wir dachten jetzt laufen unsere letzten Minuten ab.“ Die Taxifahrer waren nur pinkeln. Osman Engin, türkischer Einwanderer, beschreibt in seiner Geschichte „Drei schwarze Oliven“, wie er die Kontrolle deutscher Ärzte in Istanbul übersteht. Schon eine simple Zahnkontrolle macht ihm Angst. Diverse Gerüchte werden unter den Gastarbeiterkandidaten gemurmelt. Man werde die Zukunft aus den Zähnen lesen. Ja das glaubt auch Engin, schließlich seien sie so fortschrittlich die Deutschen. Die müssten nicht mehr aus Händen oder dem Kaffeesatz lesen. „Wo wird man mich wohl jetzt hinstellen? Zu den Faulen?“ Nein, er kommt zu den Guten.

Selten werden die Migranten auf ihrer Reise besonders gut behandelt. „Ich schlafe oben, unten brüllen die Ochsen,“ schreibt Jörn-Jacob Swehn, ein Auswanderer aus Mecklenburg, der nach Amerika will. Zu dessen Zeit, dem 19. Jahrhundert, erklärt Reimer Dohrn, haben die Reedereien viel Geld mit denen verdient, die weg wollten. Bei der Hinfahrt wurden die Menschen transportiert, bei der Rückfahrt in den selben Decks die Ware. Arian erzählt von LKWs auf deren Ladeflächen sie sich zwängen mussten, übernachtet haben sie in der Kälte im Wald. Verschimmeltes Brot und sehr kalten Tee bietet man ihnen als Nahrung. Um nicht zu verhungern nehmen sie das gerne an. Immer wieder Gestank, Enge, kein Platz, um wenigstens zu sitzen und Hunger.

Während die Reise der meisten Migranten, aus deren Geschichten Dohrn liest, in Amerika endet, landet Arian in Hamburg auf einem der Flüchtlingsschiffe in Övelgönne, die es heute dort nicht mehr gibt. Als sie vor sechs Jahren ihr Buch schreibt, weiß sie immer noch nicht, ob sie bleiben darf. „Aber ich lasse mich nicht abschieben, wie eine Exportware! Wir sind auch Menschen“, liest sie vor. Heut bedroht sie keine Abschiebung mehr, aber ein sorgenfreies Leben führt sie trotzdem nicht. Die junge Frau mit dem schwarzen Schleier, der nur ihren Hinterkopf bedeckt, legt ihr Buch beiseite: „Mein Mann, mit dem ich seit kurzem verheiratet bin, ist in Abschiebehaft.“ Ihre Stimme beginnt zu zittern, der Kehlkopf macht zu. Man merkt, wie schwer es ihr fällt, nicht zu weinen. „Wo bleibt bloß diese Menschlichkeit, von der man immer spricht?“

Genau diese Frage stellt sich vielleicht auch der ein oder andere Zuhörer beim Verlassen der Barkasse, die immer noch an Ort und Stelle liegt, umringt von Eisschollen. 200 Jahre Ein- und Auswanderungsgeschichte wurden vorgetragen und in jeder einzelnen sind die Migranten immer wieder froh, dass sie überlebt haben.


Katharina Hamberger