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Man stirbt nicht mitten im fünften Akt

Vom Sommer 1988 bis Februar 1990 sah sich Ingmar Bergman seine bis dahin entstandenen Filme an, erzählt in seinem Buch Bilder (Stockholm, 1990) davon und teilt zu Nach der Probe (Efter repetitionen) u. a. mit:

„Ursprünglich dachte ich an einen Briefwechsel zwischen einem älteren Regisseur und einer jungen Schauspielerin. Ich begann zu schreiben, sah dann aber bald, dass das langweilig wird. Es wäre schöner, wenn man sie sehen könnte.
Offenbar habe ich beim Schreiben einen Schmerznerv angebohrt, oder wenn man so will: eine Quellader. Aus dem Unterbewusstsein schlängelten Lianen und seltsames Unkraut. Das Ganze wuchs an wie ein Hexenbrei. Auf einmal kam die Geliebte des Regisseurs, Mutter der jungen Schauspielerin. Sie ist seit Jahren tot, betritt aber trotzdem das Spiel. Auf einer leeren, unbeleuchteten Theaterbühne in den stillen Stunden zwischen vier und fünf Uhr nachmittags kehrt allerhand zurück.
Das Ergebnis war dann ein Stück kinematographierter Television, die vom Theater handelt." (Ü: R.B.)

Kein anderer Filmregisseur hat so kontinuierlich zugleich am Theater gearbeitet wie Ingmar Bergman. Von Anfang an (1938, im Kirchensaal der Stockholmer Stadtmission) bis zuletzt (Gespenster von Henrik Ibsen am Dramaten, 2001) inszenierte er, in jüngeren Jahren bis zu vier Aufführungen im Jahr; in Malmö, Helsingborg, Göteborg und Stockholm war er außerdem jeweils mehrere Jahre Intendant; die Drehbücher entstanden morgens, vor der Probe, gedreht wurde in den Theaterferien. Ein zumindest erstaunliches Pensum; weniger verwunderlich ist dann, dass seine Filme sich so häufig im geheimnisvollen Leben auf der Bühne und um sie herum bewegen.

Nach der Probe entstand 1983, nach der langen Zeit weit weg von Schweden, nach dem großen Epos über das Kindsein, Fanny und Alexander:

„Es gilt, an den Punkt heranzukommen, wie man den Epilog organisieren soll.“ (in Bilder, S. 228)

Gut zehn Jahre später, 1994, veröffentlicht er dann das Drehbuch (neben zwei weiteren) in einem kleinen Band mit dem Titel Femte akten, dt. Der fünfte Akt; im Faksimile steht handschriftlich auf dem inneren Deckblatt ein Motto:

"PEER: Weich von mir, Scheusal! Weg die Hand!
Ich will nicht sterben! Will an Land!
DER PASSAGIER: Getrost, mein Freund! Ich habe Takt; -
Man stirbt nicht mitten im fünften Akt. (Gleitet hinweg.) Schon längst hatte dieser Passagier, ein aufdringlicher Geselle, Peer mit seinem dunklen Gerede gereizt.
DER PASSAGIER: Die Leichen lachen. Doch nur gezwungen; Und die meisten bissen sich gern auf die Zungen – und nachdem er endlich „weggeglitten“, seufzt Peer, halb erleichtert, halb verächtlich:
PEER: Da kam’s heraus, trotz aller List! – Er war ein öder Moralist." (Ü: Christian Morgenstern)

Permanent und trotzig stellt sich Ingmar Bergman dem „öden Moralisten“, von allem Anfang an, 1938, mit seinem Werk, schon mit den ersten Schreibversuchen, aufbewahrt in einem Quartheft:

"Was soll man nur tun, wenn man ein Hirn hat wie meines?
Na ja, man dreht zu Hause in der kleinen Küche den Gashahn auf, und alles fliegt in die Luft. Buff! Nun bin ich aber nicht gescheit und öffne deshalb keinen Gashahn, weder in der kleinen Küche noch sonstwo.
Zuunterst in meiner närrischen Seele hege ich nämlich einen winzig kleinen hochmütigen Gedanken:
Vielleicht wird sich einmal – irgendwann einmal – etwas Helles, Schönes aus all dem Elend schürfen. Wie eine kleine, winzig kleine Perle aus einer großen, verflixten Muschelschale.
Und falls nun einmal etwas Schönes von mir kommen kann, dann habe ich meine Aufgabe im Leben erfüllt – und ich kann guten Gewissens in einem mir gegrabenen Grab schlafen.
Das wird schön sein. Wunderschön. Zuerst muß man aber arbeiten. An sich selbst arbeiten, meine ich. Für wen arbeite ich denn dann aber pausenlos? Ja, eben, das ist in Wahrheit des Pudels Kern."
(in Ingmar Bergman, Im Bleistift-Ton, Hamburg, 2002; Ü: R.B.)

Die Hauptfigur in dem kleinen Spiel Nach der Probe heißt mit Vornamen Henrik (!) und trägt den, ganz und gar nicht schwedischen Familiennamen Vogler; möglicherweise sind die Voglers in Bergmans Filmen so etwas wie eine alte Theaterfamilie, es sind jedenfalls mehrere. In dem Schwarzweißfilm Das Gesicht (Ansiktet; 1958) trifft man zunächst den Magnetiseur Albert Emanuel Vogler (Max von Sydow) und seine Begleitung, eine androgyne Gestalt, Manda/Aman Vogler (Ingrid Thulin), aus dem Jahr 1864. Sie reizen, fordern, faszinieren, mit ihrer Fremdartigkeit, mit ihrer Stummheit, Masken, die sie abnehmen, wenn sie unter sich sind (nach der Probe, sozusagen). In Persona (1965) verstummt die Schauspielerin Elisabeth Vogler (Liv Ullmann) als Elektra, mitten in der Vorstellung. Genau genommen ist aber schon der ganze Film verstummt, bevor er überhaupt begonnen hat, wenn man nämlich sieht, wie „der durchsichtige Filmstreifen (…) durch den Projektor“ rast, und am Schluss erkennen muss, dass man der Vorführung eines verbrannten Films beiwohnte – unendliche Ironie! Während des, vom Geist E.T.A. Hoffmanns beseelten, Films Die Stunde des Wolfs (Vargtimmen; 1966) erwacht die einstige Geliebte des Malers Johan (Max von Sydow) im Leichenhaus von den Toten – unter höhnischem Gelächter der Dämonen bietet Veronica Vogler (Ingrid Thulin) dem treulosen Freund ihre Liebe.

Nach dieser Repetition wirkt der jüngste Vogler wie in der Tat aufgewacht. Seine junge Hauptdarstellerin war unter einem Vorwand (Takt!) nach der Probe noch einmal auf die Bühne gekommen, um mit ihrem Regisseur allein zu sein; nach ein paar Ansätzen zum Plaudern über dies und jenes, nach dem bedrohlichen Ernst des Erscheinens der höchst lebendigen verstorbenen Rakel, folgt auf eine kokette Lüge (ein Ungeborenes betreffend) mit anschließendem Eingeständnis:

"ANNA Und nun bin ich also hier. In deiner Hand. (Lächelt)
VOGLER Und ich in deiner. (Reglos)"

Das ganze Theater hört auf für einen kostbar zarten Moment der Blöße – es wäre schön gewesen, hätte man ihn in der Hamburger Aufführung sehen können; er war gestrichen.

Wenn es blutet, ist das ein scheußliches Gefühl, dann spielt man nicht. (in Bilder, S. 54)

1986 inszenierte Ingmar Bergman zum vierten Mal Ein Traumspiel von August Strindberg (1986), mit Lena Olin (der Anna in Nach der Probe); links, am Bühnenportal, der Dichter (Mathias Henrikson), rechts DIE HÄSSLICHE EDIT (der übersehene Mensch?) und zwischen ihnen der Traum. Unvergessen.

P.S. Keine Anekdote:
Vor einer Aufführung von Lessings Emilia Galotti, 1988, am Dramaten in Stockholm sagte ein Zuschauer zum andern: Das Stück ist aber nicht von Doris Lessing!

Im 2. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie konstatiert Gotthold Ephraim Lessing am 5. Mai 1767

„der Tod löset alle Verwirrung am besten,"
(auf dem Theater, wohlgemerkt!), und eine Anekdote (?) fällt ihm ein:
„In einem (…) Trauerspiele, wo eine von den Hauptpersonen ganz aus heiler Haut starb, fragte ein Zuschauer seinen Nachbar: ‚Aber woran stirbt sie denn?’ – ‚Woran? Am fünften Akte!’ antwortet dieser. In Wahrheit; der fünfte Akt ist eine garstige Staupe, die manchen hinreißt, dem die ersten vier Akte ein weit längeres Leben versprachen. –"

Renate Bleibtreu, Herausgeberin und Übersetzerin, lebt in Hamburg


Renate Bleibtreu