Türen in die G
egenwart

Joachim Lux über Kirill Serebrennikovs "Barocco"

Mit der schillernden Schönheit des Barock feiert Kirill Serebrennikov die Einzigartigkeit des Individuums und das Feuer der Hoffnung.

Mit der Barockmusik ist es, als wäre man in einem anderen Universum«, sagt Kirill Serebrennikov. Der russische Regisseur brennt für Musik, Oper, Schauspiel, Film und Tanz, mehr noch aber brennt er für das alle Gattungen überschreitende und verschmelzende Gesamtkunstwerk – in Opern- und Schauspielhäusern oft erträumt, doch kaum je zu sehen. Mit »Barocco« hat er genau dies umgesetzt: »Barocco« ist Musiktheater pur – und zugleich Schauspiel, Film, Tanz. Das Stück entstand 2018 für das Moskauer Theater Gogol Center, dessen künstlerischer Leiter Serebrennikov damals war, als ein Manifest für die Freiheit der Kunst, für die Schönheit des Menschen, für den Widerstand gegen die Unterdrückung der Freiheit. Doch schon die Proben mussten ohne ihn stattfinden, ebenso die Uraufführung zu Weihnachten 2018 – der Regisseur saß im politisch begründeten Hausarrest. Dennoch: »Barocco« war umjubelt und stets ausverkauft. Mehrere Versuche, die Produktion nach Hamburg einzuladen, scheiterten, zunächst an der Pandemie. Schließlich wurde Serebrennikov als Leiter des Gogol Centers abgesetzt und das Theater in seiner bisherigen Form aufgelöst.
Mittlerweile hat der Regisseur aus Protest gegen den russischen Angriff auf die Ukraine Russland verlassen; seither lebt der heute 53-Jährige in Berlin und Hamburg, derzeit als Artist in Residence am Thalia Theater. Dort wird er »Barocco« nun gemeinsam mit seinem musikalischen Leiter, Daniil Orlov, weiterentwickeln.

GRAUE WIRKLICHKEIT UND DIE VERHEISSUNG DER MUSIK

Damals in seinem Moskauer Hausarrest hatte Serebrennikov unvermutet die Schönheit und den Schmerz des Barock für sich entdeckt – eines Zeitalters, welches das Individuum, seine Besonderheit und zugleich seine Todesnähe feierte. »Die Barockmusik war für mich etwas Neues, ganz anders als all die Spielarten der schwermütigen russischen Romantik«, sagt er. »Für mich ist sie sehr zeitgemäß, da gehen Türen zu meiner Gegenwart auf. Die Art, wie hier Emotionen ausgedrückt werden, erschien mir plötzlich vielschichtiger, ambivalenter als die nicht selten etwas simplen Handlungsverläufe traditioneller Opern – fast vergleichbar mit unserer heutigen Zeit. Seit der Postmoderne verknüpfen und überlagern wir gern mehrere Bedeutungsebenen, und die Barockmusik ist ähnlich komplex. Man kann mit dieser engelsgleichen Musik über den Tod nachdenken, über den Schmerz, über
Vergeblichkeit und zugleich über die Schönheit von allem. Das Barockzeitalter und seine Musik stehen mit diesen Widersprüchlichkeiten und Uneindeutigkeiten für die grundsätzliche comédie humaine.«
Auf die Frage, was es für ihn bedeutet habe, in der Isolation einer kleinen Wohnung irgendwo in Moskau monatelang nur noch Barockmusik zu hören, antwortet Serebrennikov überraschend praktisch und erzählt, wie er die Arien über einen USB-Stick gehört, wie er recht schnell die Idee zu einem Gesamtkunstwerk entworfen habe, obwohl sein Theater eigentlich gar kein Geld gehabt hätte. Hat ihn diese Musik glücklicher gemacht? »Glück oder Unglück, Traurigkeit oder Freude – das sind nicht die Kategorien. Ich glaube, dass mir diese Musik zwischen der grauen, hässlichen Wirklichkeit, mit der ich mich in den letzten Jahren auseinandersetzen musste, und der Flucht in die Phantasmagorie den Zugang zu einer ›dritten Welt‹ geschenkt hat, zu einer Welt der Kunst und der Freiheit. Das hat mir sehr geholfen.«

BAROCK ALS PRINZIP: DIE FEIER DES BESONDEREN

Ich wende ein, dass man angesichts seiner damals politisch wie persönlich bedrückenden Lage die Hinwendung zur Künstlichkeit des Barocks eher bizarr und exzentrisch
finden könnte. Nach einer kurzen Stille holt Serebrennikov etwas aus: Das Wort barocco stamme aus dem Portugiesischen und bezeichne eine Perle mit unregelmäßiger Form; sie passe nicht auf eine Schnur, sei eigenartig, schief, ein bisschen verrückt, wie ein interessanter Fehler – und beanspruche dennoch, im Zentrum zu stehen. So sei der Mensch in seiner Seltsamkeit. Er lasse sich nicht in Systeme einordnen, widersetze sich allem, was zu viel Kontrolle über sein Leben verlangt, ja, er sei – warum leugnen, was doch wahr ist – in diesem
Sinne exzentrisch. So gesehen sei »Barocco« nicht nur ein Zeitalter, sondern ein Prinzip – ein Prinzip des Individualismus, wie es Gilles Deleuze entwickelt habe, gültig von Tiepolo über Andy Warhol bis hin zu David Bowie oder Grace Jones’ »Pride«. Wir fragen uns, was Monteverdi oder Vivaldi dazu sagen würden, verlieren uns ein wenig in Debatten über
das Ornamentale und über Oscar Wilde, und kommen dann doch zum Kern zurück. »Es geht um den Kampf darum, einzigartig sein zu dürfen. Das ist der Kampf gegen ein System der Unterdrückung, wie ich es erfahren habe«, sagt Serebrennikov. »Im Barock versucht jeder Mensch, der eine ungewöhnliche, eine abweichende ›Perle‹ ist, sich selbst als jemand zu behaupten, der ein Recht auf seine besondere Existenz hat, kurz: Es geht um Macht.«

DAS FEUER DER HOFFNUNG UND DER ZERSTÖRUNG
 
Die Feier des Lebens beinhaltet aber auch die des Todes. Die Moskauer Aufführung zeigte eine berühmte Szene aus Andrei Tarkowskis Film »Nostalghia«: Da verbrennt sich ein Verrückter zu Beethovens »Freude, schöner Götterfunken« – eine ungeheuerliche Szene. Serebrennikov: »Das Motiv des Feuers spielt in der Inszenierung tatsächlich eine große Rolle. Buddhistische Mönche haben sich in Vietnam 1963 selbst verbrannt, um einen Diktator zu vertreiben (sie waren erfolgreich), Jan Palach hat sich 1969 auf dem Prager Wenzelsplatz verbrannt, um gegen die Invasion der Sowjetunion zu protestieren (und ist
gescheitert). Manche Menschen möchten offenbar lieber sterben, als sich selbst aufzugeben, und ertragen dafür große Schmerzen. Feuer ist Schmerz und Schönheit zugleich, es ist zerstörerisch und Vorschein von etwas Neuem. Ich will in ›Barocco‹ davon erzählen, wie Menschen ihr Leben riskiert haben, weil sie die unverwechselbare Einzigartigkeit des Menschen nicht aufgeben wollten. Deshalb ist es für mich ein musikalisches Manifest.«

Der Form nach hingegen ist »Barocco« eine Oper ohne feststehendes Libretto, ein Musiktheater, das an einer Schauspielbühne herauskommt, ein Abend mit Arien des Barockzeitalters, eine Aufführung mit singenden Schauspielern, mit dem Opernstar Nadezhda Pavlova, die noch nie an einer Schauspielaufführung beteiligt war, aber bei den Salzburger Festspielen die Donna Anna gesungen hat, mit Tänzern, einem Barockmusik spielenden Streichquintett, einer Band aus dem Hier und Heute, einem Pianisten etc. pp. – ja, was ist es eigentlich?

»Die Form des Abends ist tatsächlich ungewöhnlich«, sagt Serebrennikov. »Ich wollte ein Gesamtkunstwerk schaffen, das aber zugleich ein Pasticcio ist, bei dem viele verschiedene Einzelteile etwas Neues ergeben, das es zuvor so noch nicht gegeben hat.« Pasticcio, wende ich ein, klingt edel, ist aber, um ins banal Wörtliche abzudriften, schlicht ein Auflaufgericht der mediterranen Küche. Zugegebenermaßen schmeckt im Auflauf oft vieles besser als einzeln zubereitet, dennoch: Ist das nicht respektlos im
Umgang mit dem Werk der Komponisten? »Nein«, sagt der musikalische Leiter und Pianist Daniil Orlov, der am Moskauer Konservatorium und am Bolschoi studiert hat: »Das Genre des Pasticcio gibt es nicht nur schon lange, es ist sogar im Barockzeitalter entstanden. Und es existiert bis heute. Berühmt dafür ist etwa der Dirigent William Christie mit seinem Barockensemble Les Arts Florissants – er kombiniert Verschiedenes und schafft sehr organisch etwas faszinierend Neues.«

Für Hamburg entwickeln Kirill Serebrennikov und Daniil Orlov »Barocco« nun weiter, Themen fortschreibend, neues Material hinzufügend, anderes weglassend: »Es ist seither so viel passiert, und es ist natürlich etwas anderes, das Stück für ein westeuropäisches Publikum weiterzudenken. Aber das grundsätzliche Thema bleibt: Das Feuer, das Licht bringt und wärmt, aber auch Altes zum Verschwinden bringt – es lässt mich nicht los.« Vor vier Jahren aus Protest gegen die Unterdrückung entstanden, ist »Barocco« zugleich eine Feier der menschlichen Möglichkeiten und ihrer Unzerstörbarkeit. Und es erzählt heute, in einer neu verfinsterten Welt, von Menschen, die im Feuer verbrennen, die selbst zur Flamme werden, um eine mögliche Zukunft zu erleuchten.


Joachim Lux