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Die besessenen - Ein Gespräch mit Regisseurin Jette Steckel
Die Besessenen
von Albert Camus
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie Jette Steckel
Sie beschäftigen sich schon ein halbes Leben mit Albert Camus und haben einige seiner Dramen, aber auch den Roman „Der Fremde“ auf die Bühne gebracht. Was ist an seinem Denken so faszinierend?
Ich finde, es tut gut, wie Camus, ohne die menschlichen Widersprüche und Abgründe in Abrede zu stellen oder diese auch nur abzumildern, versucht, konsequent über Lebensformen nachzudenken, die das Menschenleben als höchsten Wert anerkennen. Was mich an unseren Gesellschaftsformen am meisten umtreibt, ist, dass sie den Wert des Menschenlebens alle unterschreiben, diesen aber dennoch direkt oder indirekt, z.B. durch Ausbeutung, unterwandern.
Camus wird im Moment, in Zeiten tiefgreifender und gleichzeitiger Krisen, viel zitiert. Seine Werke erleben ein Revival, man sucht in seiner Philosophie nach einem Umgang mit der Überforderung, Möglichkeiten, eine Haltung zur Welt zu finden.
Camus schrieb nach den beiden großen Weltkriegen. Die Drastik seiner Überlegungen mögen Ende des vergangenen Jahrhunderts, als wir glaubten, vieles hinter uns gelassen zu haben, weniger eingängig gewesen sein als jetzt – wo wir wieder vor sehr großen, weltpolitischen Entscheidungen stehen. „Die Frage ist, ob die Unschuld, sobald sie zu handeln beginnt, sich vom Töten nicht abhalten kann.“ Das ist ein Zitat von Camus. Kommen wir zu realistischeren Gesellschaftsentwürfen, wenn wir die unumgängliche Schuld anerkennen, die wir anhäufen, sobald wir zu handelnden Menschen werden? Zum Beispiel Waffenlieferungen: Wie geht die ethische Rechtfertigung, Mordinstrumente zu bauen und zu liefern? Letztlich müssen wir uns diese Antwort geben oder verdrängen, dass dieser Vorgang in absolutem Widerspruch zu unserem Grundgesetz steht. Also nachdenken: Widersprüche ausmachen, Absurditäten anerkennen, kämpfen für Überzeugungen bei gleichzeitigem Wissen, dass der Stein immer wieder den Berg hinab rollen wird, lächeln… – dabei hilft die Lektüre von Camus.
„Die Besessenen“ ist Albert Camus‘ Adaption von Fjodor Michailowitsch Dostojewskijs Roman „Die Dämonen“, bzw. „Böse Geister“. Was hat er mit diesem Stoff gemacht?
Ich sehe „Die Besessenen“ eher als eine Fassung der „Dämonen“ von Dostojewskij, als ein eigenes Stück von Camus. Seine Foki folgen naturgemäß seinem Interesse an den Figuren. Er legt also beispielsweise weniger Argumente in die Hände der Religion – aber an der Handlung ist nichts Grundlegendes verändert.
Es ist in jedem Fall ein großer, komplexer und schwer greifbarer Ausgangsstoff, dazu ein großes Ensemble, all das auf der engen Vorbühne. Welcher Reiz liegt in dieser Setzung?
Ja, man kann sagen, es ist eine „eierlegende Wollmilchsau“, die wir da gebären wollen. Aber letztlich ist geringer Raum nötig, um gute Gespräche zu führen. Um eine Geschichte zu erzählen, um sie zu erleben, ist Raum vielleicht schon eher relevant – aber wir haben ja die Phantasie, die hat kein Ausmaß. Das Hauptproblem ist die Endlichkeit der Nacht. Für den ganzen Roman bräuchte man Tage, für Camus’ Stück fünf Stunden; wir geben uns Mühe, noch schneller zu sein. Ob das nötig ist, sei dahingestellt – für den Theaterbetrieb schon [lacht]. Aber es ist eine interessante Herausforderung. Der Reiz könnte in einer großen, auch räumlichen, Verdichtung liegen, in der Spannung, die durch die Begrenzung entsteht.
Welche Erkenntnisse findet man sowohl bei Dostojewskij, als auch bei Camus in ihrer Beschäftigung mit der Bedingung menschlicher Freiheit, mit Macht und Gerechtigkeit – oder auch mit der Frage nach Erlösung?
Wir als Menschheit sind an einem Punkt angelangt, an dem wir anerkennen müssen, dass die Gerechtigkeit eine Beschneidung der persönlichen Freiheit fordert. Durch Überbevölkerung und Klimawandel entstehen Notwendigkeiten, die mit vielen Lebensweisen nicht vereinbar sind. Ich selber glaube nicht, dass es, zumindest der Mehrzahl der westlichen Menschen, möglich sein wird, dieser Forderung nachzukommen – womit ich nicht sagen will, dass ich den Versuch für zwecklos halte. Wir brauchen gute Ideen und Konsequenz.
Dostojewskij lässt in einem nicht spezifizierten Städtchen des vorrevolutionären Russlands unterschiedliche Entwürfe von Gesellschaftsutopien und Ideologien durch mehrere aktivistisch motivierte Figuren aufeinander treffen. Und scheitern. „Die Dämonen“ sind wie eine Miniatur des gesamten 20. Jahrhunderts, insofern ein fast erschreckend hellsichtiges Werk. Nun sind wir an einem Punkt, an dem die falschen Ideen erneut stark werden, Fehler drohen wiederholt zu werden, bei gelebter Erfahrung. Wir müssen gut nachdenken, um darüber hinaus zu kommen!
Mit dem Begriff der Erlösung bei Dostojewskij konnte Camus nichts anfangen, unterstelle ich. Wir werden nicht erlöst, sondern müssten uns schon selber erlösen, und Camus schlägt vor, als erste Prämisse das Menschenleben als Träger jedes Gedankens bedingungslos zu respektieren. Das hieße: weder Mord noch Selbstmord sind zu rechtfertigen. Eben auch nicht indirekt! Das wäre ein Anfang. Utopisch genug.
Der Protagonist Nikolai Stawrogin steht mit einer gewissen Indifferenz zwischen all den anderen Figuren, die auf ihre Weise „unlebbare Lebensprinzipien“ verkörpern. Ist er eine moderne Figur?
Stawrogin ist am ehesten Träger der Erlebniswelt, wie sie Camus entspricht. Er glaubt nicht an Gott, hat aber ein moralisches Empfinden. Das wiederum ist nicht kongruent zu seinen Handlungen. Er macht sich schuldig und stellt sich in Folge dessen die Frage, was ihn lenkt. Er macht die „absurde Erfahrung“, wie Camus sie nennt. Das heißt, er erkennt die Sinnlosigkeit des Lebens – und gleichzeitig, dass er selbst als Medium für diese Wahrnehmung notwendig ist. Er schafft aber nicht, was Camus sich wünscht: zu sehen, dass in der Erkenntnis der Sinnfreiheit die Freiheit liegt, selber Sinn zu stiften.
Im Stoff, der ja ursprünglich ein russischer ist, wird Russland als solches auch benannt, indem es zum Beispiel „reformiert werden muss“. Welchen Einfluss hat die gegenwärtige politische Situation auf den Umgang mit diesem Thema, gab es da auch eine Vorsicht?
Natürlich sind unsere Ohren derzeit stärker auf die Benennung Russlands sensibilisiert und russische Literatur fällt in einen anderen Resonanzraum, als vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Ich bin dennoch nicht der Meinung, dass russische Kultur grundsätzlich zensiert werden sollte. Gerade der Kanon der russischen Literatur darf und soll für sich stehen. Er kann auch eine Reibungsfläche sein. Die Frage ist doch, kann man das Zeitlose in den Werken, wie beispielsweise das in den Werken Dostojewskijs, bemühen und gleichzeitig die Folie der Gegenwart darüber legen? Ich würde sagen, ja. Davon abgesehen, können wir wissen, dass die Politik eines Landes nicht notwendig die Gesinnung seiner Menschen widerspiegelt. Wir können wissen, wie wichtig es für Menschen, die diese Politik ablehnen, ist, Gehör zu finden.