Freiheit der Ande
rsdenkenden

 Religionen, Gewalt und Toleranz / Joachim Lux zur "Langen Nacht der Weltreligionen 2023"

Freiheit der Andersdenkenden

Religionen, Gewalt und Toleranz / Joachim Lux zur "Langen Nacht der Weltreligionen 2023"

 

Herzlich Willkommen zur „Langen Nacht der Weltreligionen“ Seit 2010, d.h. seit 14 Jahren findet diese nun bei gleichbleibend hohem Interesse statt.

Warum hat sich dieses Format auf Anhieb und auf Dauer beim Hamburger Publikum durchgesetzt? Warum interessiert sich eine durch und durch säkulare Gesellschaft mit Millionen Kirchenaustritten dafür? Das fragen mich insbesondere immer wieder protestantische Geistliche, die ihre schütter besetzten Kirchenbänke im Blick haben.

 

Die Frage ist weitaus weniger kompliziert als sie scheint. Wenn wir die Frage beantworten sollten, warum Menschen immer noch Märchen, Sagen oder Fantasy zu sich nehmen, wo wir doch in einem naturwissenschaftlich aufgeklärten Zeitalter leben, in dem es keinen Platz für Hexen, Teufel, Gnome oder scheintote Prinzessinnen gibt, würden wir antworten, dass es darum gar nicht geht. Sondern, dass in diesen Geschichten ein Weltwissen über die menschliche Psyche enthalten ist, von dem unsere Ahnen schon erzählten.

Ähnlich ist es mit den Religionen. Religionen sind die älteste kulturelle Praxis der Menschheit, ihre Weltsicht und ihre Dokumente sind Zeitzeugen, Zeugen der frühen Menschheitsgeschichte. Es sind Versuche tribaler Kulturen, sich zivilisatorisch zu organisieren, Strukturen zu finden und zu erfinden: Was ist Recht, was ist Unrecht? Welche Legitimität hat bzw. braucht das Recht? Wie kann oder sollte man Vergehen ahnden? Ist Gewalt erlaubt? Und wann? Wie definieren wir das Verhältnis zwischen Mann und Frau, wie das Verhältnis des Menschen zu Natur, Umwelt und zum Kosmos insgesamt? Kurz: sämtliche juristischen, verfassungsrechtlichen, ethischen, philosophischen, sozialen oder ökologischen Fragen liegen bereits hier auf dem Tisch. Und zwar lange, bevor es überhaupt so etwas wie Staaten oder Gesellschaft gab. Das finde ich faszinierend.

 

Faszinierend finde ich außerdem, dass es auf dem gesamten Erdkreis keine einzige Kultur gibt, die nicht solche religiösen Vorstellungen entwickelt hat. Es sind Versuche des Menschen, seinen Platz in einer Welt zu finden, die er nur teilweise versteht. Man kann auch sagen, seinem Gefühl von Heimatlosigkeit oder sogar Ausgeliefertheit – zum Beispiel gegenüber nicht begreifbaren Katastrophen – versucht er, ein Begreifen gegenüber zu stellen, das in der Lage ist, gegenüber der Welt ein Heimatgefühl aus zu lösen.

Soweit finde ich das alles sehr verständlich und sogar liebenswert. Ganz unabhängig davon, ob man persönlich zu Glauben oder Religiosität neigt.

 

Religionen sind noch aus einem weiteren Grund interessant: sie machen sich – sehr sehr realistisch – keinerlei Illusionen darüber, was a u c h zur Natur des Menschen gehört. Im Alten Testament bringt gleich der Sohn des menschlichen Urpaars Adam und Eva seinen jüngeren Bruder um. Kain, der erst dritte Weltmensch, ist der erste Mörder. Er begeht den Mord, weil Gott seiner Meinung nach seinen Bruder Abel vorgezogen hat. Ein Mord aus „mangelnder Wertschätzung“, wie man heute sagen würde. Die Sanktion durch die göttliche Autorität ist das sogenannte Kainsmal. Der Zweck ist ein doppelter: Der Mörder wird markiert und damit bestraft, aber er soll zugleich geschützt werden: er darf nicht getötet werden – es ist also der Versuch, den Zyklus von Schuld und Rache zu unterbinden – ein allererster Regelungsversuch.

In tausenden Geschichten zeichnen sich die Religionen immer wieder dadurch aus, dass sie mit hoher Klugheit Gefährdungen des Menschlichen beschreiben und auf der Höhe und auch Begrenztheit der jeweiligen Zivilisation lösungsorientiert immer wieder Vorschläge machen. So weit, so gut.

 

Das Problem: Menschliche Organisationen haben grundsätzlich ein Legitimitätsproblem. Legitimität braucht man, um Regeln des Miteinanders nicht nur gut zu finden, sondern sie auch durchzusetzen. Da geht es den Religionen nicht anders als heutigen Staaten und Gesellschaften. Deswegen berufen sich viele, wenn auch nicht alle Religionen auf eine göttliche, d.h. auf eine unfehlbare und absolute Ordnung. Dabei ziehen sie aber nicht in Betracht, dass das sogenannte „Göttliche“ eine Ableitung aus dem Menschen und dem Menschlichen ist. Deutlicher: hier erhebt sich das Menschliche zum Göttlichen und beansprucht letzte Wahrheiten. Diese Vermischung von zwei Sphären nennen wir heute toxisch. Sie hat die Menschheit in unendliches Leid geführt, mit Folter, Unterdrückung, Mord und Millionen Toten.

Besonders blutig sind – Stichwort Kain und Abel – interkonfessionelle Konflikte derselben Religion wie im Dreißigjährigen Krieg zwischen protestantischen und katholischen Christen. Hier starben relativ zur Bevölkerungszahl mehr Menschen als im gesamten Zweiten Weltkrieg. Nicht minder brutal sind die innerislamischen Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten auf der arabischen Halbinsel, mit Bruderkriegen und Millionen von Toten. Ein Sonderkonflikt dieser Art betrifft die in der muslimischen Türkei unterdrückten ebenfalls islamischen Aleviten. Sie sind von den derzeitigen Erdbeben besonders betroffen. Aber auch innerkonfessionell war und ist man im Sinne der reinen Lehre nie zimperlich: Häretiker, sogenannte Hexen, Abweichler egal welcher Art wurden und werden gefoltert, vergewaltigt und ermordet, der Terror gegen die eigene Bevölkerung im Iran ist durchaus auch ein Spiegel früherer Vorgänge auch in Europa – wir sollten uns nicht allzusehr erheben. Besonders grausam ist – nochmals Stichwort Kain und Abel - auch der Kampf verwandter Religionen, man muss sich nur an die Kreuzzüge des Christentums gegen den Islam erinnern. Aber natürlich spielten beispielsweise bei der Vernichtung der Juden im 20. Jahrhundert immer auch religiöse Vorbehalte eine große Rolle. Denn immerhin hatten ja die Juden Christus ans Kreuz geschlagen usw.

 

Und natürlich gibt es auch den Kampf systemisch unterschiedlicher Religionen:

In Myanmar werden Menschen islamischen Glaubens, die zu der Volksgruppe der Rohinga gehören, von einer überwiegend buddhistischen Mehrheit systematisch verfolgt und unterdrückt, in China wird die Minderheit der muslimischen Uiguren kaserniert, gefoltert und unterdrückt, im chinesisch besetzten Tibet werden die Buddhisten unterdrückt. Und gleich zu Beginn unseres Jahrhunderts wurden im März 2001 von muslimischen Fanatikern in Afghanistan Jahrtausende alte Buddhastatuen zerstört. So könnte man immer weiter fortfahren. Eine besondere Spielart dieser religiösen Kämpfe ist schlussendlich religionsübergreifend noch der Kampf religiöser Fundamentalisten gegen den Säkularismus des 20. Jahrhunderts. Er hatte ein halbes Jahr nach der Sprengung der Buddhastatuen an NINE ELEVEN einen ikonographisch gewordenen Höhepunkt. Spätestens seither – in Wahrheit begann es natürlich früher - zieht sich der sowohl religiöse wie auch nichtreligiöse Fundamentalismus als starke konservativ identitäre Bewegung durch die allermeisten Gesellschaften. Und richtet neues Unheil an.

 

Ein einziges Schlachtfeld!!

Ja, sind wir noch zu retten?

Und: Sind Religionen noch zu retten?

 

Sehr geehrte Damen und Herren, ich sage es offen: Ich kann das uralte Gegenargument, das sei alles zwar schlimm, beruhe aber darauf, dass die Religionen für weltliche Zwecke missbraucht würden, nicht mehr akzeptieren.

Es gibt, da bin ich sicher, diese innerreligiöse Toxik, sie hat mit dem Wahrheitsbegriff, mit der Absolutheit zu tun.

Religionen sind offenbar Ideologien ähnlicher als ihnen lieb ist, sie sind Vorgänger der Ideologien: Sprengköpfe für die menschliche Gewaltbereitschaft.

 

Jetzt habe ich Ihnen möglicherweise den Abend verdorben, noch bevor er überhaupt angefangen hat.

 

Können wir also den möglicherweise großartigen Glutkern der Religionen bewahren? Lessing glaubte: JA!

Aber: WIE?

 

Ich würde mich gern weiter an Lessing halten dürfen und suche Gründe dafür. Vielleicht finden wir zusammen heute solche Gründe.

Deshalb hat diese „Lange Nacht“ auch den - Hoffnung zumindest ermöglichenden - Titel „Freiheit der Andersdenkenden. Religionen, Gewalt und Toleranz“.

 

Demokratien haben ihr Verhältnis zur absoluten Wahrheit übrigens anders organisiert: Sie haben sie abgeschafft. Gültig und wahr ist hier nur das, was in zugegebenermaßen anstrengenden gesellschaftlichen Prozessen stets aufs Neue ausgehandelt wird. Allerdings: ganz ohne absolute Wahrheiten kommen auch sie nicht aus. Ihr Gefäss sind beispielsweise die Charta der Menschenrechte oder staatliche Verfassungen, die nicht stets neu ausverhandelt werden. Die Menschheit hat immer wieder, und insbesondere im 20. Jahrhundert, erlebt, welche Katastrophen sich ereignen können, wenn sie sich über diese selbstgesetzten absoluten Regeln hinweggesetzt hat!

Unser Verhältnis zu absoluten Regeln ist offenbar deutlich komplizierter als es auf den ersten Blick erscheint…