Die Vernun
ft der Zuversicht

Rede von Dr. Carsten Brosda anlässlich der Eröffnung der Lessingtage des Thalia Theaters am 29. Januar 2023

Die Vernunft der Zuversicht

Rede von Dr. Carsten Brosda anlässlich der Eröffnung der Lessingtage des Thalia Theaters am 29. Januar 2023

 

 

Kid Kopphausen – Das Leichteste der Welt

Ich wurde geboren an einem Fluss

Und seitdem treibe ich dahin

Durch dieses Leben, das mich lieben will

Egal, was ich auch bin

Und also existiere ich und atme und finde

Das war gar kein schlechter Anfang (…)

Das Leichteste der Welt • Kid Kopphausen, Gisbert Zu Knyphausen, Nils Koppruch(spotify.com)

 

 

Sehr geehrter Herr Lux, Liebes Publikum,

 

„Das Leichteste der Welt“ heißt dieses Lied, das die beiden Songwriter Nils Koppruch und Gisbert zu Knyphausen vor zehn Jahren unter dem Bandnamen Kid Kopphausen veröffentlicht haben. Also in dem Jahr, in dem Nils Koppruch dann viel zu früh hier in Hamburg gestorben ist. Es ist eines der Lieder, die mich durch die Corona-Zeit getragen haben.

 

Ich habe damals im ersten Lockdown angefangen, Songzeilen zu twittern und den Hashtag #TruthInSong dazu zu stellen, einfach um daran zu erinnern, dass sich in der Kunst etwas Wahrheit und etwas Perspektive finden lassen. Manchmal mache ich das noch immer.

Gerade die letzten Strophen und ihre hymnische Beschreibung eines kulturellen Erlebnisses bekamen in den Wochen, in denen Theater und Konzerthäuser, Kinos und Clubs geschlossen waren, eine noch tiefere Bedeutung.

Sie machen spürbar, was damals fehlte: „…und alles gerät in Bewegung, der ganze Raum fängt an zu schwingen…“

 

Als alles stillstand, war das schon ein großes Versprechen. Das damals so zu hören, hat in mir die Zuversicht geweckt, dass die Dinge schon wieder in Bewegung geraten werden.

Warum das so war, konnte ich gar nicht genau sagen.

- Waren es die präzise gesetzten Worte?

- Das strategisch eingesetzte musikalische Crescendo?

- Oder einfach nur der Wunsch, dass es stimmen möge?

Woher kam in diesem Moment diese Zuversicht? Woher kommt die Zuversicht?

 

Darüber will ich heute sprechen. Ich muss gestehen, dass ich in den vergangenen Wochen nicht so ganz glücklich war mit dem Thema, das ich mir für diese Lessing-Rede ausgesucht habe. Denn kaum ein Wort ist aktuell häufiger in Politikerreden zu hören. Vielleicht hätte ich das schon ahnen müssen, als ich im Herbst Joachim Lux zugesagt habe, diese Rede zu halten. Denn natürlich fühlen sich viele aktuell herausgefordert, gegen die miesen Zukunftsaussichten anzureden. Und dafür gibt es Gründe.

 

Die Spielzeit des Thalia Theaters hat im letzten Sommer mit dem Stück „H – 100 seconds to midnight“ begonnen. Der Titel verweist auf den Stand der so genannten Doomsday Clock, mit der symbolisch die Zeit bis zum drohenden Weltuntergang angezeigt wird. In der vergangenen Woche wurde diese Uhr zehn Sekunden vorgestellt und steht jetzt bei 90 Sekunden vor Mitternacht. So nah vor dem Ende wie noch nie, seit sie zum Höhepunkt des Kalten Krieges erstmals gestellt wurde. Der Grund sind die russischen Aggressionen. Der brutale Angriffskrieg gegen die Ukraine, die menschenverachtenden Gewalttaten gegen unschuldige Zivilist*innen und die immer wieder kehrenden Drohungen gegen die Unterstützer der Ukraine machen es schwer, irgendwie zuversichtlich zu bleiben. Die staatlichen Verbrechen im Iran und die Demokratierückschritte in vielen Ländern der Welt verdüstern die Aussichten zusätzlich. Bei allen Schwierigkeiten, die wir in unserer Gesellschaft derzeit beklagen – verglichen damit geht es uns gut.

 

Und wir sollten dieses Bewusstsein nutzen, wenn wir versuchen, die vor uns liegenden Herausforderungen zu meistern und anderen dabei zu helfen, die Freiheit zu erringen. Natürlich ist Zuversicht schon immer ein politisch leicht zu beschädigendes Konzept. Sie ist die kleine Schwester der noch etwas großspuriger und manchmal auch entrückter daher kommenden Hoffnung. Aber wer sie beschwören will, kann auf eine Menge Vorbilder zurückgreifen. Barack Obama hat sogar ein Buch unter dem Titel „The Audacity of Hope“ [„Die Kühnheit der Hoffnung“] geschrieben, das dabei half, ihn ins Weiße Haus zu tragen. Für ihn ist Politik ein Projekt derjenigen, die den Mut und die Kühnheit besitzen, weiter darauf zu hoffen, dass es besser werden könne. Dass es aber eben nur dann besser werde, wenn wir auch kräftig daran glaubten.

 

Tatsächlich steht Hoffnung häufig am Anfang. Sie ist immer wieder die Voraussetzung dafür, den nächsten Schritt vorwärts zu gehen. Sie erhebt sich über die aktuellen Probleme und schafft einen Bezugspunkt in der Zukunft. Allerdings – und das unterscheidet sie von der Religion – einen diesseitigen. Wer hofft und zuversichtlich ist, setzt darauf, dass jede und jeder von uns die Kraft hat, das Andere und Bessere zu denken.

 

Der Philosoph Ernst Bloch hat 1954 in „Prinzip Hoffnung“ bereits auf der ersten Seite beschrieben, wie die Hoffnung zur gesellschaftsverändernden Kraft werden kann.

„Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern. Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses, noch gar in ein Nichts gesperrt. Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen…“

Hoffnung muss für Bloch also erlernt werden – nicht um sich aus der Welt zu flüchten, sondern um in ihr zu wirken. Wer hofft, ist ins Gelingen verliebt und nicht ins Scheitern, schreibt Bloch. Hoffen bedeutet schließlich, davon auszugehen, dass mehr möglich ist, als es den Anschein hat.

 

Auch bei Lessing, dem Namensgeber dieses Festivals, findet sich dieser Gedanke wieder – und zwar ganz prominent, direkt zu Anfang der berühmten Ringparabel in „Nathan der Weise“. Dort erklärt Nathan:

„Vor grauen Jahren lebt‘ ein Mann in Osten,

Der einen Ring von unschätzbarem Wert

Aus lieber Hand besaß.

Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte,

Und hatte die geheime Kraft, vor Gott

Und Menschen angenehm zu machen,

wer In dieser Zuversicht ihn trug. …“

Die geheime Kraft des Rings wirke demnach nur, wenn der Träger an sie glaube, wenn er den Ring also „in dieser Zuversicht“ trage...

 

Nathan verlangt hier einerseits das Vertrauen in eine Kraft, die sich nicht so recht begründen lässt, und andererseits die feste Annahme, dass etwas Gutes auch tatsächlich bewirkt werden könne. Dann könne der Ring sein Werk tun, und das Ansehen des Trägers bei Gott und Mitmenschen heben. In dieser Denkfigur steckt bei Lessing noch ein gerütteltes Maß an Gottvertrauen, ein Bezug auf eine Kraft, die mutmaßlich außerhalb dieser Welt ihren Ursprung hat. Sein aufklärerischer Impuls hat schließlich viel damit zu tun, den religiösen Glauben und die Vernunft zusammenzubringen. Auch wenn er darin schon an hiesigen Pastoren scheiterte…

 

Aber die Hoffnung steht mittlerweile auch ganz gut mit beiden Beinen in dieser Welt. Wer heute hofft, braucht keinen äußerlichen Bezugspunkt mehr, sondern glaubt vor allem, dass er die Dinge verändern, ja verbessern kann. Dass er selbstwirksam ist. Wie gesagt: Vor dem Fortschritt kommt die Hoffnung.

Doch, das beantwortet noch nicht die Frage, woher die Hoffnung kommt. Wo hat sie ihren Ursprung, wenn nicht in einer überweltlichen Quelle? Und wie lernt man das Hoffen? An dieser Frage verzweifeln heutzutage nicht wenige öffentlichen Redner*innen. Denn meist bleibt hier nur der Griff in die Werkzeugkiste der Predigerin oder in die Trickkiste des politischen Illusionskünstlers.

Und genau das haben wir in den zurückliegenden Wochen oft genug gehört. Entweder appelliert der Redner in einer schwierigen Lage eindringlich an die Zuhörenden, jetzt aber bitte mal schön zuversichtlich zu sein. Und setzt dabei auf rhetorische Figuren, die mächtig Eindruck machen sollen, aber dann doch oftmals etwas hohl klingen. Oder aber die Rednerin macht sich etwas mehr Mühe und führt Beispiele an, die zeigen, dass in der Vergangenheit Dinge gelungen sind, um daraus die Vorstellung abzuleiten, dass es auch in der Zukunft nicht schlecht ausgehen könne. Weil diese beiden Wege zur Hoffnung sich in der Regel schnell als Holzwege erweisen, sind auch die Episoden der Hoffnung in der Politik meist schnell wieder vorbei. Denn wer appelliert, der zeigt am Ende doch bloß, wie machtlos er ist. Und wer vom Sein aufs Sollen schließt, wird herausfinden, dass diese Begründung des Wünschbaren nicht wirklich lange trägt.

 

Was passiert, wenn sich die Hoffnung als trügerisch erweist, kennen wir alle aus vielen öffentlichen Debatten nur zu gut. Der Backlash der überzeugten Realist*innen kann furchterregend sein. Sie folgen einer technischen Vernunft der Kausalitäten. Sie wollen zählen und messen. Sie wollen Input und Output vergleichen. Sie wollen kontrollieren welche Folgen welches Handeln hat. Logik heißt für sie schlichtes, messbares Wenn-Dann. Jeden Konjunktiv, jede Uneindeutigkeit versuchen sie aus der Gleichung zu nehmen. Jede Zuversicht gilt ihnen als suspekt, ja als naiv. Als gefährlich blind. Abgeklärt skeptische und vermeintlich realistische Äußerungen sind für diese Realist*innen Ausweis besonderer Professionalität. Ideen einer besseren Zukunft werden als schwärmerische, ideologische Flausen verhöhnt. Es geht um Empirie und technische Lösungen, die nicht aufwändig begründet werden müssen, sondern messbar funktionieren. Das Ergebnis ist eine kalte Vernunft der Machbarkeit, die nur gelten lässt, was sichtbar ist. Sie soll davor schützen, sich allzu weit ins Offene zu wagen. Das Vermeiden des Scheiterns ist dann plötzlich noch wichtiger als die Aussicht aufs Gelingen. Oder aber rein technische Beschreibungen dessen, was wir als gelingend betrachten. Das ist kein politisches Phänomen allein, sondern eines, das unsere Gesellschaft insgesamt ausmacht.

 

Wer von Ihnen hat Ende 2020 während des zweiten Lockdowns den Netflix-Film „Don’t look up“ gesehen? Er erzählt die Geschichte zweier Astronom*innen, die einen riesigen Asteroiden entdecken, der in etwas mehr als einem halben Jahr die Erde zerstören wird.

Gemeinsam versuchen die beiden, Aufmerksamkeit für die Gefahr zu erzeugen – bei der NASA, im Fernsehen, bei der amerikanischen Präsidentin. Doch fast überall stoßen sie auf die Ignoranz von Menschen, die mit der Disruption nicht umgehen können – weil sie sie nicht denken, geschweige denn verstehen können. Und weil sie nicht so zueinanderkommen, dass sie sich gegenseitig aufklären könnten.

Die gesellschaftlichen Logiken prägen die Reaktionen auf je fatale Weise: Die TV- Moderator*innen suchen den unterhaltsamen Aspekt, spinnen Geschichten über die Forscher*innen und sparen sich eine tiefergehende Beschäftigung mit der Gefahr. In den sozialen Medien entstehen Verschwörungsmythen. Und die Präsidentin, bei der die beiden sogar einen Termin bekommen, hat vor den Wahlen Angst und schiebt das Thema auf die lange Bank. Als sie es dann doch braucht, um einen anderen Skandal zu verdrängen, entscheidet sie sich für eine vordergründig zuversichtliche Lösung, die allerdings lediglich den blinden Machbarkeitsillusionen technischer Intelligenz folgt. Ein Tech-Milliardär, der auf dem Himmelskörper seltene Erden entdeckt hat, schlägt ihr vor, den Meteoriten im All mit einer neuen Technologie aufzuspalten und so die Gefahr aus der Welt zu schaffen. Natürlich will er nebenbei auch noch die Billionenwerte an Rohstoffen ausbeuten. Die Wissenschaftler*innen warnen, dass jegliches Wissen darüber fehle, ob und unter welchen Umständen das gelingen könne, und deshalb andere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen seien. Die Politik aber setzt voll auf die technologische und profitversprechende Lösung. Kommt Ihnen das bekannt vor? Kurzum: Die gesellschaftliche Debatte bleibt aus, Technologische Versprechen schaffen trügerische Sicherheit und scheitern. Zum Schluss stehen sich zwei Lager gegenüber, die sich unter den Slogans „Don’t look up“ der US-Regierung und „Just look up“ der kritischen Wissenschaft versammeln. Es geht nicht mehr um gemeinsame Lösungen, sondern nur noch darum, was man wahrhaben möchte.

Auch wenn Sie den Film nicht gesehen haben, ahnen Sie es sicherlich bereits: Die Welt geht unter. Nur ein paar Superreiche retten sich auf einen anderen Planeten – nicht zwingend mit einem besseren Ergebnis.

 

Natürlich ist das eine saftige Farce. Aber der Film zeigt auch, was passiert, wenn sich technologische und gesellschaftliche Entwicklung zu weit voneinander entfernen. Wenn wir zwar im Technischen immer noch in Dimensionen des so genannten „Moonshots“ denken, also des großen Sprungs, der immense Möglichkeiten mit sich bringt, wenn wir uns aber gesellschaftlich gleichzeitig nicht mehr darum kümmern, intellektuell, mental und emotional diesen wachsenden Möglichkeiten hinterher zu kommen, sondern für jede Ablenkung, für jede Aufregung, für jede vermeintliche Eindeutigkeit so dankbar sind, dass wir unter den notwendigen Debatten hindurchtauchen. Aber diese technische Vernunft ist nicht so schlau, wie sie sich gibt.

 

Anfang Januar 2022 hat die Süddeutsche Zeitung ein langes Stück über die Zukunft des Thwaites-Gletschers in der Antarktis veröffentlicht. Ein wahrlich dystopisches Szenario. Wie ein Pfropfen halte die riesige Eismasse den Rest des Festlandeises davon ab, sich in den Ozean zu ergießen und den Meeresspiegel um mehrere Meter ansteigen zu lassen. Er schmelze bereits irreversibel. Die Katastrophe werde kommen. Gegen Ende des Textes schreiben die Autoren Christof Gertsch und Mikael Krogerus – und ich möchte das etwas ausführlicher zitieren, weil es so wichtig ist:

 

„Monatelang haben wir uns mit dem Rückzug des Thwaites-Gletschers in der Antarktis beschäftigt, und nach jedem Gespräch, mit jeder neuen Zahl, mit jeder Einsicht fühlten wi uns hoffnungsloser, weil all die Berechnungen und Modelle in der Summe sagen: Egal, was wir tun, es wird geschehen. Und das, was vor uns liegt, wird auf jeden Fall schlimmer sein als das, was wir kennen. Was wir in den Gesprächen aber auch lernten: Genau diese Art des Denkens lähmt unsere Fähigkeit, etwas zu tun, und lässt uns in eine Untergangsgeilheit abrutschen, die man in dem Satz fassen kann: Wenn wir nur aufhören zu hoffen, kommt das, was wir befürchten, bestimmt. Tatsächlich aber gibt es Hoffnung. Denn je besser wir den Thwaites-Gletscher verstehen, desto genauer können wir den Meeresspiegelanstieg vorhersehen, und desto besser können wir uns davor schützen. Der Thwaites-Gletscher ist nicht der Untergang der Menschheit, er ist ein Weckruf, dass wir unser Leben verändern müssen. Jetzt.“

 

Das ist der Satz, um den es geht: „Wenn wir nur aufhören zu hoffen, kommt das, was wir befürchten, bestimmt.“ Deswegen ist es ist nicht bloß ein politisches, sondern auch ein gesellschaftliches und kulturelles Problem, wenn es plötzlich so wirkt, als müsse man sich entscheiden, ob man zuversichtlich und hoffnungsfroh ein großes Ziel anstrebt oder bloß skeptisch und realistisch kleine Schritte vorwärts geht. Das muss kein Widerspruch sein. In Politik und Gesellschaft aber stellen wir uns immer wieder selber vor diese falsche Alternative.

 

Eine Geschichte, die angesichts dieses selbstgemachten Dilemmas in der Politik oft zitiert wird, ist die von Beppo Straßenkehrer aus Momo von Michael Ende. Auch in ihr geht es um die Frage, woher die Kraft zur Zuversicht kommt. Der alte weise Mann ist einer der beiden besten Freunde des Mädchens Momo. Jeden Tag muss er eine scheinbar endlose Straße kehren. Er erklärt Momo, dass das nur mit stoischer Gelassenheit zu schaffen sei. Wenn die Straße so lang sei, dass man glaube, sie nicht bewältigen zu können, dann dürfe man nicht den Fehler machen, auf das Ende zu schauen. Denn dann fange man an zu zweifeln und versuche sich zu beeilen. Man gerate aus der Puste und werde nicht fertig. Stattdessen rät er Momo: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten. … Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein. … Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht aus der Puste.“

 

Ich habe diese Geschichte auch schon erzählt, eindringlich die Kernaussagen des glücklichen Straßenkehrers betont: Nicht auf das Ende fokussieren, sondern beharrlich dem Dreiklang von „Schritt – Atemzug – Besenstrich“ folgen, um auch die schwierigsten und langwierigsten Aufgaben zügig zu bewältigen. Und es stimmt ja – in gewissen Situationen. Der Verzicht auf das Nachdenken über Ziel und Ende kann beim Vorwärtskommen durchaus helfen. Kurzfristig zumindest. Das Beispiel von Beppo Straßenkehrer steht beinahe exemplarisch für das, was man etwas hochgestochen einen „inkrementellen Politikstil“ nennt. Umgangssprachlich würde man von Durchwurschteln sprechen. Und dieses schrittweise Abarbeiten hat durchaus seine Vorteile: Man kann schnell reagieren, verliert nicht den Mut, sieht unmittelbar Erfolge und erledigt das, was man sich vorgenommen hat. Außerdem fällt es leicht, nachzuweisen, dass man etwas ordentlich gemacht und sich nicht bloß in irgendwelchen Wolkenkuckucksheimen verloren hat. Und doch ist die von Beppo eine der Geschichten, bei denen ich mich immer wieder frage, wie redlich es eigentlich ist, sie zu erzählen. Denn irgendwie ist der Analogieschluss zwischen dem stoischen Straßenkehrer und vielen Situationen nicht so wirklich zulässig. Schließlich weiß Beppo, wo er hinmuss, was zu tun ist und welche Mittel er dafür zur Verfügung hat. Aber so überschaubar sind viele Situationen nicht. Wenn einer der größten Gletscher der Welt schmilzt, dann ist es kaum möglich zu wissen, wie der Weg aussieht auf dem man damit umgehen kann. Und man weiß auch nicht, welche Mittel zur Verfügung stehen, wenn man es dennoch versucht. Hier könnte der zweite beste Freund von Momo einen Vorschlag formulieren.

Über ihn habe ich – anders als über Beppo – bislang in politischen Kontexten kaum gesprochen: Gemeint ist Gigi Fremdenführer, der „in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Beppo Straßenkehrer“ ist, wie Michael Ende schreibt. Der junge Mann schlägt sich mit allerlei Hilfsjobs durch. Am liebsten markiert er einen Fremdenführer, der den Tourist*innen im Dorf „das Blaue vom Himmel herunter“ erzählt und sich bei seinen Führungen so ziemlich alles ausdenkt. Darauf angesprochen verteidigt er sich offensiv: „Wer sagt Euch denn, dass die Geschichten in den gelehrten Büchern nicht auch bloß erfunden sind, nur weiß es vielleicht keiner mehr. Ach, was heißt überhaupt wahr oder nicht wahr? Wer kann schon wissen, was hier vor tausend oder zweitausend Jahren passiert ist? Wisst Ihr es vielleicht?

… Wieso könnt Ihr dann einfach behaupten, dass meine Geschichten nicht wahr sind? Es kann doch zufällig genau so passiert sein. Dann habe ich die pure Wahrheit gesagt!“

Im Buch Momo ist Gigi der fröhliche und gutaussehende Hallodri, der sich charmant durchzuschlagen versteht. Er kommt zumindest eine Zeit lang irgendwie damit durch. Im politischen Raum aber geriete seine Masche schnell zu nichts anderem als zu jenem populistisch postfaktischen Erzählen, das Donald Trump zur perfiden Meisterschaft gebracht hat. Zu jenem Auflösen aller Wahrheitsbezüge in einem endlosen Strom der erfundenen Behauptungen und Erzählungen, in dem am Ende alle Maßstäbe abhandenkommen, mit denen sich vielleicht noch überprüfen ließe, ob an den Geschichten etwas dran sein könnte. Michael Ende hat das genau im Blick, schließlich legt er seinem Gigi schon vor fast 50 Jahren eine Rechtfertigung in den Mund, die so klingt, als wäre sie erst gestern in ein Mikrophon gesprochen worden: Es sei alles nicht so schlimm, schließlich hätten die Leute doch „genau das bekommen, was sie wollten“, sagt Gigi und hat vermutlich nicht einmal unrecht damit.

 

Auf heute übertragen wirken die beiden von Beppo und Gigi verkörperten Herangehensweisen wie paradigmatische Alternativen bezüglich Form und Stil. Während die einen redlich, gewissenhaft und ein wenig langweilig Problem für Problem abarbeiten, erzählen die anderen bunte Geschichten, denen zwar jeder Bezug zur Wirklichkeit fehlt, die aber Spaß machen. Während die einen den Bürger*innen keine Emphase und keinen utopischen Überschuss zumuten wollen, verkaufen die anderen sie schlicht für dumm. Es braucht einen dritten Weg durch die falsche Alternativlosigkeit zwischen Beppos Stoizismus und Gigis Schwärmerei hindurch. Mitten hinein in das Spannungsfeld zwischen einer unzureichenden Gegenwart und einer bloß erfundenen alternativen Realität. Wer sich aber in dieses Spannungsfeld begeben will, braucht dann eben doch einen zuversichtlichen Blick in die Zukunft. Denn es ist ja durchaus bemerkenswert, dass sich Gigi Fremdenführer darauf verlegt, die Erinnerung an die Vergangenheit zu schönen, während Beppo Straßenkehrer versucht, komplett in der Gegenwart des Handelns zu bleiben. Beide drücken sich auf je ihre Weise davor, sich mit der Zukunft zu beschäftigen. So ist es in unseren gesellschaftlichen Debatten heute nicht selten auch.

 

Aber warum eigentlich? Warum drücken wir uns so oft vor der Zukunft? Warum haben Menschen solche Angst vor Veränderung? Warum glauben manche, dass sie ein Anrecht darauf haben, andere auch künftig schlecht zu behandeln, nur weil sie es in der Vergangenheit durften? Warum zum Beispiel haben manche Angst davor, dass andere ein Sternchen in einige Worte einfügen, um inklusiv zu sprechen? Solche Angst sogar, dass sie es ihnen verbieten wollen? Warum reagieren sie auf die Angst vor einem vermeintlichen Verbot mit dem Versuch eines tatsächlichen Verbots? Warum verwechseln so viele derzeit Freiheit mit kalter Rücksichtslosigkeit und Ich-Bezogenheit, statt sich darum zu kümmern, dass auch wirklich alle frei sein können in unserer Gesellschaft? Warum glauben sie, unfrei zu werden, wenn sie die Freiheit anderer respektieren? Warum meinen manche, dass man sich an dem, was ist, festklammern müsse, bis es ihnen in den Fingern zerbröselt, statt sich jetzt daran zu machen, das Neue gemeinsam zu entwickeln?

 

Ich bin kein Sozialpsychologe und will mich hier nicht in Mutmaßungen verlieren, aber es erscheint mir schon recht plausibel daran zu liegen, dass viele nicht ausreichend Grund zur Hoffnung sehen, sondern sich in die Angst flüchten. Noch geht es ihnen okay, aber sie spüren, dass sich das verändern könnte. Und sie wissen nicht, wie sie darauf reagieren sollen. Der Ausweg in Angst oder gar Wut wirkt dann manchmal einfacher als die Suche nach neuen Träumen. Es ist ja vielleicht auch wirklich einfacher, das Schreckensbild einer ungewissen Zukunft an die Wand zu malen. Entweder, um dann dafür zu plädieren, dass alles so bleiben könne, wie es schon immer gewesen ist. Oder um zu sagen, dass sich die Dinge so schnell es irgend geht ändern müssen, um den Schrecken doch noch aufzuhalten. Aber so funktioniert das nicht mehr.

Die Angst treibt uns nicht ohne weiteres zum Handeln. Vor allem auch deshalb nicht, weil ja nicht einmal mehr klar ist, ob die prognostizierte Apokalypse überhaupt eintreten wird. Die Dinge sind so sehr aus den Fugen geraten und so sehr davon abhängig, was wir selber als nächstes tun werden, dass sich selbst die Katastrophe nicht mehr sicher voraussagen lässt.

 

Die Kippunkte des Klimawandels zum Beispiel mögen zwar definiert sein. Wann und wie wir sie jedoch überschreiten, und vor allem, welche Konsequenzen das jeweilige Kippen hat, steht noch nicht endgültig fest. Deshalb klingen auch die Proteste der so genannten „Letzten Generation“ bei allem Verständnis so merkwürdig hohl. Kaum jemand teilt ihr Anliegen nicht. Kaum jemand würde widersprechen, dass wir den Umbau hin zu einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise schneller und konsequenter angehen müssen. Aber warum deshalb Kunstwerke angreifen? Warum die Emphase des drohenden Weltuntergangs beschwören? Wäre es nicht schlauer, die Komplizenschaft der Künstler*innen und Kreativen anzustreben und gemeinsam mit ihnen Lust auf das Neue, das Andere, das Bessere zu machen? Wenn selbst der Weltuntergang nicht sicher ist, kann man mit der Warnung vor ihm auch kaum mehr jemanden motivieren, sich besonders anzustrengen.

 

Man möchte ihnen das Buch „Macht“ von Karen Duve aus dem Jahr 2016 in die Hand drücken. Die Geschichte spielt im Hamburg des Jahres 2031. Olaf Scholz ist Kanzler eines feministischen Kabinetts. Und Sebastian Bürger kettet seine Frau, die ehemalige Umweltministerin im Keller an, schluckt Schönheitspillen, die mit 60% Wahrscheinlichkeit binnen zehn Jahren Krebs verursachen und isst nach Jahrzehnten des achtsamen Vegetarismus plötzlich nur noch Fleisch. Und das alles nur, weil die Welt aus den Fugen ist und der Weltuntergang bevorsteht. Wir brauchen dringend andere, bessere, zuversichtlichere Geschichten. Auch weil die alten einfach nicht mehr passen.

Aber eigentlich brauchen wir noch mehr. Darauf hat mich kürzlich die so kluge Journalistin Anna Mayr gebracht: Wenn wir wissen, dass die alten Träume nicht mehr Wirklichkeit werden können, dass es unwahrscheinlicher wird, das Leben in Sicherheit und Wohlstand zu leben, dass für unsere Eltern noch in Reichweite war, – dann brauchen wir neue Träume.

Wir müssen als Gesellschaft beantworten, wofür es sich denn in unserer Zeit zu träumen lohnt, sagt Anna Mayr. Und ich glaube, da ist mehr dran, als wir aktuell wahrhaben wollen. Denn wenn die Welt sich verändert und die alten Versprechen und Aussichten nicht mehr plausibel sind, müssen wir gemeinsam neue Fluchtpunkte unseres Denkens, Hoffens, und – ja auch! – Träumens definieren. Sonst werden wir zynisch.

 

Der große Aphoristiker Jean Paul hat zwar mal angemerkt, dass die Erinnerung das einzige Paradies sei, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Aber das bedeutet längst nicht, dass alles weiterhin bloß deshalb gültig ist, weil es gestern und vorgestern auch schon gültig war. Tradition alleine wird nicht mehr als Begründung dafür akzeptiert, dass etwas als wahr oder richtig angesehen werden kann. Sondern genau das müssen wir als freie Bürgerinnen und Bürger immer wieder miteinander vereinbaren – in öffentlichen Räumen. Auch deshalb greift es zu kurz, wenn wir Politik bloß als technisches Machthandeln oder Problemlösen begreifen. Politik braucht ebenfalls eine Vorstellung einer besseren Zukunft. Sie muss den Kopf heben und schauen, in welche Richtung sie geht, während sie den Besen über den Asphalt streift. Und sie muss eine Geschichte erzählen können, die Lust darauf macht, den Weg mitzugehen. Politische Diskussionen leben davon, dass wir darüber streiten, welche Vision wir für angemessener halten, wie sie zur gegenwärtigen Lage passt und wie wir sie verwirklichen wollen. In der Beschreibung einer solchen Zukunftsvorstellung liegt jedenfalls eine wesentliche weitere Quelle der Zuversicht. Ich halte es für ausgeschlossen, dass wir die kommende Wegstrecke und die Krisen, denen wir begegnen, bewältigen können, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wo die Reise denn hingehen soll. Wir müssen sagen können, warum wir die Entscheidungen treffen, die vor uns liegen.

Es geht also um beides: um eine realistische Analyse der Gegenwart und um eine idealistische Vorstellung der besseren Zukunft. Deswegen reicht es gerade heute nicht aus, bloß zu versprechen, dass man die kommenden Probleme schon irgendwie lösen werde – möglichst gerecht, möglichst freiheits- und solidaritätsstärkend. Sondern es braucht darüber hinaus reichende Ziele, die motivieren, sich auf den Weg zu machen. Weil sie erreichbar sind. Es braucht eine konkrete Utopie. Denn wir befinden uns tatsächlich mitten in einer Zeitenwende, wie Olaf Scholz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gesagt hat.

Allerdings umfasst diese Zeitenwende längst nicht nur außen- und verteidigungspolitische Aspekte. Sie ist viel weitreichender. Sie hat damit zu tun, dass sich die Versprechen der Aufklärung mittlerweile weitgehend eingelöst haben – und dass sie dabei die letzten traditionalen Gewissheiten aufgelöst haben. Nichts gilt mehr bloß, weil es gestern auch schon galt. Alles muss sich permanent neu bewähren. Die Krisen, die wir im Alltag spüren – ganz egal ob Finanzmärkte, Migration, Corona, Krieg oder Klima betroffen sind – sind längst nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Wer in einer Welt, die von derart fundamentalen Krisen gekennzeichnet ist, bloß die unmittelbar anliegenden Probleme lösen will, wird immer zu spät kommen und zu kurz springen. Es reicht nicht aus, sich darauf zu verlassen, dass man Ziel, Weg und Mittel zu kennen glaubt. So sind die Probleme nicht mehr, vielleicht waren sie es auch nie. Sich deswegen in Phantasiewelten oder Verschwörungstheorien zu flüchten und den Bezug zur schwierigen Realität gleich ganz zu kappen, ist aber auch keine bessere Alternative. Sie führt bloß zu unpolitischem Fabulieren mit gravierenden politischen Auswirkungen.

 

Natürlich ist es immer riskant, zu sagen, was sein sollte. In der Politik erst recht. Nicht nur weil der Abstand zur aktuellen Realität zu groß sein könnte, sondern auch weil sich auf der Strecke herausstellen könnte, dass der Weg deutlich länger und schwieriger ist, als zunächst versprochen. Manche Versprechen lassen sich vielleicht sogar gar nicht einlösen. Dann wird entweder das Versprechen als Augenwischerei kritisiert, oder aber die politischen Fähigkeiten erscheinen als unzureichend, weil das Ziel in weiter Ferne bleibt. Aber zugleich entsteht Zuversicht ja gerade erst dann, wenn wir uns demonstrativ zutrauen, solch ein Risiko einzugehen. Wenn wir uns selbst genug vertrauen, uns auch in noch nicht kartographiertes Gelände vorzuwagen auf der Suche nach dem besseren Morgen. Das klappt aber nicht alleine. Wir sollten uns gemeinsam und öffentlich auf die Suche nach dem allgemein Verbindenden machen.

 

Doch wie entstehen diese neuen Identität und Motivation stiftendenden Erzählungen? Und zwar gerade in Zeiten, in denen das vernünftige Erzählen zu einem Problem zu werden scheint, weil es immer seltener durchdringt und von lauter Emotionalisierung oder vehementen moralischen Positionen beiseite gedrängt zu werden droht? Diese Frage führt auf geradem Weg zu jener öffentlichen Sphäre, ohne die keine Demokratie denkbar ist. Zu jenem Raum, in dem sich das pragmatische Handeln und das visionäre Erzählen im gesellschaftlichen Austausch zu etwas Neuem verbinden lassen: dem Gespräch. In der Idee, dass wir einander mit Argumenten überzeugen wollen, dass wir Ansprüche auf Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit auch wechselseitig anerkennen müssen, dass wir in Gesprächen fähig sind, unsere Situation einzuschätzen und unsere Handlungen zu koordinieren, findet sich ein möglicher dritter Weg. Er liegt zwischen den allzu wohlfeilen moralischen Appellen an die Güte des Menschen und den abstrakten Theorien, die erklären, dass soziale Systeme bloß noch nach eigenen Logiken und von außen ungerührt vor sich hin operierten. Ein bisschen ist dieser Weg vergleichbar mit dem zwischen Beppo Straßenkehrer und Gigi Fremdenführer. Denn wer auf die Möglichkeit der Verständigung im Gespräch setzt, der sucht die „Einheit der Vernunft … in der Vielheit ihrer Stimmen“, wie der philosophische Vater dieses Gedankens, Jürgen Habermas, in einem Aufsatz schreibt.

Öffentliche Kommunikation wird so zu einer zentralen Grundlage demokratischen Miteinanders. Im gesellschaftlichen Gespräch wird Demokratie lebendig – im engeren Sinne auf der Suche nach allgemeinverbindlichen Entscheidungen, aber auch im weiteren Sinne hinsichtlich der Frage, welche Bereiche denn überhaupt allgemeinverbindlich und damit auch öffentlich koordiniert und geklärt werden müssen. Dieser Gedanke hat viele Quellen und Voraussetzungen. Die vielleicht elementarste lautet, dass wir danach streben, einander unbedingt als gleichrangig anzuerkennen und damit auch die Sprache durch unser Sprechen zu verändern. Dass also schon die Art, in der wir miteinander sprechen, konkrete Auswirkungen hat, weil sie prägt, wie wir einander begegnen und welchen gesellschaftlichen Raum wir gemeinsam gestalten.

 

Kübra Gümüsay hat diese Voraussetzung der Verständigung jüngst in ihrem luziden Essay Sprache und Sein über das gesellschaftliche Miteinander in kultureller Vielfalt wunderbar zusammengefasst. Sie schreibt darin: „Freies Sprechen bedeutet die Emanzipation von einer Sprache, die uns nicht vorsieht – indem wir sie verändern, anstatt uns zu erklären, indem wir sie anders nutzen, um in ihr zu sein.“ Diese Verwobenheit von Sprechen und Handeln, der Umstand, dass beim Sprechen eben nicht nur Informationen von A nach B transportiert werden, sondern dass zugleich ein sozialer Raum entsteht, eine soziale Beziehung, die die Sprechenden und Zuhörenden aneinander bindet, ist eine der zentralen Annahmen, auf denen komplexe Gesellschaften ruhen. Es ist diese Annahme, aus der die demokratische Zuversicht wächst, dass die Dinge gestaltbar sind. Denn im öffentlichen Sprechen entscheiden wir auch, welche Angelegenheiten wir dem Markt oder dem Staat überlassen wollen und bei welchen wir gesellschaftlich ein Wort mitreden wollen.

 

Das öffentliche Gespräch einer Demokratie ist mehr als ein folgenloser Gedankenaustausch. Es ist vielmehr der Raum, in dem alles Politische entsteht und verhandelt wird. In einer modernen, offenen und vielfältigen Gesellschaft erzeugt vor allem die Idee gemeinsam zu gestaltender Angelegenheiten einen gemeinsamen Bezug. Die res publica, die öffentliche Sache, ist der Kristallisationspunkt politischer Bemühungen und damit auch des öffentlichen Gesprächs. Diese öffentliche Sache wird weder staatlich noch unternehmerisch definiert, sondern durch aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger. Genau an diesem Punkt wird es heute kompliziert. Und genau deshalb ist es so wichtig, die Bedingungen des Öffentlichen selbst zum Thema zu machen.

 

In einer Gesellschaft, die sich immer weiter ausdifferenziert in kleine einzelne Bereiche und in der die Außergewöhnlichkeit zum vielleicht wichtigsten sozialen Kapital geworden ist, wird es nämlich zunehmend schwieriger, noch ein Bewusstsein für das Allgemeine, das alle Betreffende zu sichern.

 

Soziolog*innen beschreiben diese Prozesse als funktionale Differenzierung oder als Hyperindividualisierung und zeigen, dass es keinen archimedischen Punkt mehr gibt, von dem aus sich das Ganze erfassen oder verändern ließe. Wer auf Instagram bemerkt wird und deshalb erfolgreich ist, hat es auch sonst leichter in unserer Gesellschaft – diese Annahme ist tatsächlich in den letzten Jahren sehr plausibel geworden. Sie bildet mittlerweile die Grundlage von Gesellschaftstheorien. Wie Scylla und Charybdis machen funktionalistische Gesellschaftsanalysen aus der Vogelperspektive und moralische Appelle an den Einzelnen den Weg eng, auf dem sich begründen ließe, warum es schlicht vernünftig sein könnte, zuversichtlich zu sein. Da kann man schnell zynisch werden. Hier hilft der Habermassche Theorieansatz tatsächlich weiter. Und zwar gerade weil er eben nicht moralisch appelliert, aber zugleich die Vorstellung des Wahren und Richtigen nicht aufgibt.

Seine Überlegungen fußen nicht auf der Aufforderung, auf eine bestimmte Weise zu handeln. Vielmehr rekonstruiert er, auf welcher Grundlage wir handeln, wenn wir sprechen. Dabei kommt Erstaunliches zum Vorschein: Wenn wir miteinander sprechen, dann unterstellen wir uns wechselseitig Vernunft und gehen davon aus, dass wir gemeinsam erfassen können, worüber wir reden. Anders hätte das Gespräch schließlich keinen Sinn. Es wäre bloß Zeit- und Kraftverschwendung, wenn wir davon ausgingen, dass der jeweilige Gesprächspartner uns ohnehin niemals Recht geben würde. Diese soziale Dimension öffentlichen Sprechens ins Bewusstsein zu rufen, stärkt die Fähigkeit einer vielfältigen Gesellschaft, ihre Belange selbst in die Hand nehmen und regeln zu können.

Denn was zwischen zwei Personen geht, kann auch in einer größeren und vielfältigeren Gruppe gelingen. Es widerspricht zudem der fatalen Annahme, dass alles bereits funktional festgelegt sei und es für die Einzelnen nur noch darauf ankomme, durch möglichst große kulturell-ästhetische Extravaganz aus der Masse hervorzustechen. Vielmehr entstehen demokratische Möglichkeiten, wenn wir uns einander zuwenden, einander zuhören, miteinander sprechen und gemeinsam vereinbaren, wie es weiter gehen soll. An diese Kraft muss man nicht appellieren, sie ergibt sich aus der konkreten Gesprächssituation.

Es ist wie bei Nathans Ring: Wer zuversichtlich die Unterstellung wagt, dass alle anderen auch verständigungsbereit seien, der erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es auch zu einer Verständigung kommt. Hier, genau hier, liegt die Vernunft der Zuversicht verborgen. Sie ist weder automatisch gesichert, noch kann sie durch Appelle gestärkt werden. Sie gewinnt Plausibilität einzig und allein dadurch, dass wir sie nutzen.

 

Der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma hat diese eigentümliche Kraft des Sprechens sehr plausibel mit einem Beispiel aus Thomas Manns „Der Zauberberg“ dargelegt. Reemtsma schreibt in seiner großen Auseinandersetzung mit der Gewalt in der Moderne: „Das Settembrinihafte der Aufklärung hat vielen missfallen, hatte aber einen guten Grund, der allen Sozialwissenschaften zugrunde liegt: Wer theoretisiert, schlägt nicht zu; eine Gesellschaft, die Leute dafür abstellt, über sie nachzudenken, gibt sich der Vorstellung hin, sie befinde sich in Zeiten, in denen das Denken helfe. Dass Naphta mitdiskutierte, gab Settembrini recht.“

Dieser letzte Satz hat es in sich. Der schiere Umstand, dass der Skeptiker der Vernunft versuchte, den überzeugten Aufklärer im Gespräch zu überzeugen, dass er Unrecht habe, verwickelt ihn in einen performativen Widerspruch. Wie kann man argumentieren, dass Argumente keinen Sinn hätten? Hier widerspricht die Form dem Inhalt so sehr, dass sie dem Argument der Gegenseite implizit Recht gibt. Thomas Mann verhandelt die Möglichkeiten der Aufklärung und des Gesprächs im Schatten des aufziehenden Ersten Weltkrieges.

 

In Zeiten eines neuerlichen Krieges im Herzen Europas, der uns aktuell abverlangt, viele alte Gewissheiten über Bord zu werfen, lohnt die neuerliche Lektüre. Denn die Gedanken der Aufklärung bleiben aktuell. Die Dispute zwischen dem schwärmerischen Aufklärer Settembrini und seinem mehr als skeptischen Antipoden Naphta aber auch ihr Nachhall beim eigentlichen Protagonisten des Romans, dem jungen Ingenieur Hans Castorp, lassen sich als Beweis der Kraft der Kommunikation lesen. Die Vernunftansprüche der Aufklärung belegen sich hier durch praktische Anwendung quasi selbst. Die Kontrahenten versuchen nämlich, ihre Konflikte eben nicht über das Faustrecht, sondern durch geistige Auseinandersetzung beizulegen. Und schon lange bevor er sich verbal mit Naphta duelliert, lässt der pädagogisch ambitionierte Settembrini kaum etwas unversucht, um die praktische Intelligenz des Ingenieurs Hans Castorp um einen aufgeklärten Humanismus zu erweitern.

Hier findet sich, wenn Sie so wollen, der Versuch, die technische Intelligenz um die wesentlichen Dimensionen des Sozialen und Kulturellen zu erweitern. Der Umstand, dass in dem Roman so viel und so weit ausgreifend geredet wird, gerinnt so zum Beleg, dass dieser kraftzehrenden Tätigkeit von „unserer redseligen Spezies“ (Jürgen Habermas) ein Sinn zugeschrieben wird. Kommunikation dient eben nicht nur dem Austausch von Informationen und Meinungen, sondern schafft gleichermaßen im Akt des Sprechens und im nicht minder bedeutenden Akt des Zuhörens die Grundlage einer sozialen Beziehung.

Wenn Reemtsma schreibt, dass Settembrini Recht behielt, weil Naphta mitdiskutierte, dann meint er damit nicht den Gehalt der getätigten Aussagen, die konkret meist auf erbitterten Widerspruch stoßen. Vielmehr geht es um die Unterstellung, dass Kommunikation gelingen könne. Reemtsma schreibt auch, dass es trotz aller Probleme nicht darum gehen kann, immer dramatischer an die Settembrinis und Naphtas unserer Zeit zu appellieren, dass sie bitte vernünftig miteinander umgehen und verständigungsorientiert miteinander sprechen mögen. Wie sollte man sie auch mit solchen Appellen wirkungsvoll erreichen? Die Fortsetzung des aufklärerischen Gesprächs entscheidet sich weiterhin allein in der gesellschaftlichen Praxis. Wer die Vernunft der Zuversicht stärken will, der muss sie aus dem alltäglichen Sprechen unserer Zeit heraus erneut rekonstruieren. Nur so kann aufgezeigt werden, welche Bedingungen es braucht, damit trotz aller stets bleibenden Zweifel unterstellt werden kann, dass die Sprechenden bereit und fähig zur Verständigung sind. Dass es plausibel bleibt, dem „Mut der Erkenntnis und des Ausdrucks“ (Thomas Mann) Ausdruck zu verleihen.

In den Zwischenräumen zwischen vernünftig Sprechenden entsteht die Kraft des Öffentlichen als demokratische Ressource. Der Maßstab unserer Vernunft liegt weiterhin zwischen uns und ist nur sprechend zu ermessen. Wenn sich die Kraft des Öffentlichen in der Praxis bewährt, dann sollten wir an den Bedingungen dieser Praxis arbeiten. Das ist gar nicht so einfach. Denn wer Gesetze schreibt oder Organisationen gründet, die freie öffentliche Kommunikation gewährleisten sollen, der greift immer auch in die Freiheit des Sprechens ein, weil er Bedingungen definiert.

 

Die Soziolog*innen sprechen deshalb lieber etwas tastend von so genannten institutionellen Vorkehrungen, als Voraussetzungen dafür, dass wir uns dann frei entscheiden können, öffentlich über das Wesentliche und uns alle Angehende zu sprechen. Ich will einige Beispiele für diese Vorkehrungen geben.

Es geht erstens um die Kompetenzen, die wir in unserer Gesellschaft für wichtig halten. Schauen Sie sich nur an, worauf wir derzeit besonderen Wert legen, wenn es um die Bildung unserer Kinder geht. Da geht es um technisches und naturwissenschaftliches, um mathematisches und informatisches Wissen. Die Forderung nach mehr Ausbildung in den so genannten MINT-Fächern ist seit Jahrzehnten zum Mantra geworden. Wir wollen alle die Hans Castorps stärken. Ich muss Ihnen gestehen, ich kann es nicht mehr hören. Zumindest so lange nicht, wie wir uns zeitgleich darüber aufregen, dass unsere Demokratie ins Rutschen gerät, dass Vertrauen in unsere gesellschaftlichen Institutionen erodiert und dass wir immer häufiger die Kreativität und die Leidenschaft vermissen, die es bräuchte, um neue Wege zu beschreiten.

In der jüngsten PISA-Studie gab es ein Ergebnis, das ich erschreckend fand. Es hat viel damit zu tun, dass wir heute überall in unserer Gesellschaft viel Wert darauf legen, zu vermitteln, was ist, aber weit weniger Wert darauf legen, auch gemeinsam zu diskutieren, was sein könnte. 15jährige Schüler*innen sind gefragt worden, ob sie folgender Aussage zustimmen: „I can do something about the problems of the world.“ Im Durchschnitt haben rund 60 Prozent der Befragten in den OECD-Ländern diesem Satz zugestimmt. In Portugal, dem OECD-Spitzenreiter, waren es mehr als 74 Prozent, in Taiwan sogar über 80 Prozent. Und in Deutschland? Hier waren es so wenig Jugendliche wie nirgendwo sonst: Gerade einmal 40,9 Prozent glauben, dass sie etwas machen können, das die Probleme der Welt lindert. Diese Zahl ist dramatisch. Denken Sie an den Appell der Klimaforscher*innen bezüglich der drohenden Gletscher-Katastrophe in der Antarktis: Wenn wir nicht mehr hoffen, dass wir etwas verändern können, dann kommt das, was wir befürchten ganz bestimmt.

Wir müssen als Gesellschaft beantworten, wofür es sich zu träumen lohnt. Nur dann können wir daran arbeiten, diese Träume wahr werden zu lassen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir nicht nur lernen, wie unsere Natur und Umwelt funktionieren, sondern dass wir uns auch immer wieder vergewissern, was wir selber wollen und was wir tun können. Welche Wirkung wir in der Welt haben – im Guten und im Schlechten.

Doch nach der Stärkung dieses Wissens ruft kein Wirtschaftsverband, ja meist noch nicht mal ein Elternabend. Es hängt an der Politik die Relevanz kultureller und sozialer Bildung gegen Widerstände zu verteidigen. Denn es ist wichtig, dass wir uns bewusst machen, was uns selbst ausmacht, wozu wir fähig sind und was wir schaffen können, wenn wir uns gemeinsam auf Sinnsuche begeben und gemeinsam handeln. Denn am Ende entscheidet nicht bloß das technisch Machbare darüber, wie wir miteinander leben wollen, sondern das gemeinsam Vereinbarte, Gewollte und Angestrebte. Auch das braucht Fähigkeiten und Fertigkeiten, die wir lehren und lernen können. Die dafür notwendige, oft kommunikative, Kompetenz braucht es – ein Bewusstsein für die Kraft der Verständigung und für die Möglichkeiten, gemeinsamen Sinn zu schaffen. Deshalb geht es zweitens darum, wie wir die Institutionen unserer öffentlichen Kommunikation so gestalten, dass genau das wieder stattfinden kann. Natürlich kommt öffentliche Debatte nur zustande, wenn unterschiedliche Meinungen oder Lageeinschätzungen aufeinanderprallen. Aber das ist der Anfang. Wie wir Kommunikation danach so gestalten, dass wir versuchen, einen common ground zu finden, wie wir sicherstellen, dass nicht die abweichende Meinung an sich schon zum Ausschluss aus dem Gespräch führt, wie wir Medien, seien sie journalistisch oder algorithmisch strukturiert, so aufsetzen, dass sie uns helfen, öffentliche Dinge zu besprechen – das ist essenziell.

Und daran scheitern wir gerade in geradezu epischem Ausmaß.

 

Wir leisten es uns, dass die Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in den Keller rauscht. Wir erleben Verantwortliche in Medienkonzernen, die versuchen, sich das Bewusstsein für den doppelten Charakter ihrer Produkte als Wirtschafts- und Gemeinschaftsgut auszutreiben und bloß noch auf die Quartalsergebnisse zu gucken. Und wir erleben, wie – sagen wir es freundlich: sozial extravagante – Multimilliardäre, ihre finanzielle Macht nutzen, um sich Plattformen nach eigenem Gusto umzubauen. Mit freier Kommunikation hat das wenig zu tun. Und das, obwohl zu Beginn eines jeden Gesprächs die zuversichtliche Unterstellung steht, dass wir uns verständigen können. Die technischen, und erst recht die digitalen, Medien können herausragende Instrumente der Verständigung in unserer Gesellschaft sein. Aber damit sie auch so wirken können, ist es wichtig, dass wir sie auch gesellschaftlich entsprechend kompetent nutzen, dass wir verhindern, dass sich einzelne Glaubensgemeinschaften nur selbst bestätigen oder das gesellschaftliche Diskurse ins unterhaltsame „Der-Gegen-Die“ ausweichen.

Medien geben uns die Möglichkeit, das gesellschaftliche Gespräch auch in einer großen Gruppe und über Grenzen hinweg zu führen. Sich darum zu kümmern, dass das gelingt, ist eine der zentralen politischen Aufgaben unserer Zeit.

 

Drittens wird es darum gehen, dass wir anders Politik machen. Das Setzen auf die technische Kompetenz allein reicht nicht aus. Gerade in Krisenzeiten geht es um Sinn – und den erreichen wir nur, wenn wir grundsätzlicher und ambitionierter werden. In Worten und in spürbaren Taten. Wir Politiker*innen wissen nur zu gut, dass es uns die Öffentlichkeit meist nicht verzeiht, wenn wir uns weit aus dem Fenster lehnen und Zukunftsbilder entwickeln, die unerreichbar scheinen. Aber wir erfahren auch, dass sich dieselbe Öffentlichkeit über die vermeintliche Inspirations- und Mutlosigkeit des politischen Geschäfts aufregt. Es geht nicht ohne Risiko. Politik braucht den Mut zur Vision und zur Zuversicht.

Und sei es nur, um unsere oftmals ebenso mutlose und schlecht gelaunte Gesellschaft aus ihrer Schockstarre zu befreien. Um diejenigen wachzurütteln, die schon am Montag mit hochrotem Kopf und erregungsbereit in die Woche starten, weil sie davon ausgehen, dass eh alles schlimmer wird. Und die nur nach einem Wutventil suchen – und es dann auch sicher finden, damit sie von „Gender-Gaga“, „Cancel Culture“ oder „Diversity-Quatsch“ faseln können. Mit Appellen erreichen wir die nicht. Sie schaffen sich schließlich mit den Anlässen ihrer Empörung genau die Sicherheit, die es nicht mehr gibt, die sie aber anscheinend so dringlich vermissen. Wir brauchen eine neue Grundsätzlichkeit.

Es geht doch längst nicht mehr bloß darum, an einzelnen Schrauben zu drehen, sondern darum, das Ganze unseres Miteinanders zu besichtigen und neu aufzustellen. Sich anspruchsvolle Ziele zu setzen, über sie zu sprechen und konkret in ihrem Sinne zu handeln – das ist keine weltfremde Spinnerei, sondern eine humane Notwendigkeit. Denken Sie zurück an die Aussage „Wir schaffen das moderne Hamburg“. Wenn Sie so etwas zum Leitspruch des Senates machen, dann können Sie sich danach nicht aufs Verwalten konzentrieren. Dann muss etwas folgen – und zwar in allen Bereichen des städtischen Lebens. So eine Vorstellung zeigt Ihnen, wo das Ende der Straße ist. Und sie zwingt Sie dazu, den nächsten Schritt zu gehen. Sie macht die Zuversicht konkret und greifbar, ohne sich in sich selbst zu erschöpfen. Aber sie verlangt eben auch, dass Sie grundsätzliche Perspektiven aufzeigen können und verfolgen.

 

Diese drei Beispiele – kommunikative Kompetenz, öffentliche Vermittlung und politische Grundsätzlichkeit – zielen auf die kommunikative Praxis der Verständigung zwischen freien Bürgerinnen und Bürgern. Sie zeigen Alternativen zur technischen Vernunft von Beppo Straßenkehrer, Alternativen zu dem Glauben, dass man nur wissen müsse, wie es zu gehen habe und dann schon alles gut werde.

Aber es gibt noch einen vierten Aspekt, den es braucht, wenn wir über die Voraussetzungen der Zuversicht sprechen. Und der antwortet direkt auf die Strategie von Gigi Fremdenführer. Es geht um unsere Kraft, eine gemeinsame Vorstellung des Künftigen nicht nur zu entwickeln, sondern auch zu erzählen. Es geht um Storys und Narrative. Die werden uns kaum gelingen, wenn wir weiter hektisch von Dystopie zu Dystopie stolpern und uns vor drohenden Katastrophen gruseln. Dann wenden wir uns ab, geben die Hoffnung auf und lassen uns treiben. Ist ja eh alles egal… Ich bin daher fest davon überzeugt, dass wir Utopien brauchen. Hier entfaltet sich übrigens die besondere politische Kraft der Kunst. Denn auch sie kann utopische Vorstellungen eines besseren Morgen konkret werden lassen.

 

Die Kunst kann Momente schaffen, in denen es möglich ist, über den Tag hinaus zu denken. Das Theater als der leere, der zu füllende Raum steht beinahe beispielhaft für diese Fähigkeit, Neues zu schaffen. Es kann nicht bloß „zum Unterricht die Toten“ erscheinen lassen, wie Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie schreibt. Sondern es kann eine Zukunft imaginieren, die nicht ist, aber doch sein könnte – darin liegt die künstlerische Kraft, die so dringend gebraucht wird. Und sie ist allen Kunstformen zugänglich.

Für den großen Lyriker Peter Rühmkorf beispielsweise war das Gedicht „ein utopischer Raum, in dem freier geatmet, inniger empfunden, radikaler gedacht und dennoch zusammenhängender gefühlt werden kann als in der sogenannten ‚wirklichen Welt‘.“ Und für den Autoren des „Prinzips Hoffnung“, Ernst Bloch, ist Musik „die utopisch überschreitende Kunst schlechthin“. „Die Beziehung zu dieser Welt macht Musik gerade gesellschaftlich seismographisch“, schreibt er, „sie reflektiert Brüche unter der sozialen Oberfläche, drückt Wünsche nach Veränderung aus, heißt hoffen.“

 

Die Band Tocotronic formuliert es auf ihrem aktuellen Album ähnlich: „Aus jedem Ton spricht eine Hoffnung / Transformation aus jedem Klang / Aus jedem Ton spricht eine Hoffnung / Auf einen Neuanfang“ Ob Lockruf, Klage oder Jubelgesang – Musik verbindet sich für Bloch immer mit einer Erwartung für die Zukunft. Folgen wir diesem Gedanken, ist Musik sinnliche Manifestation des Utopischen. Demnach ermöglicht sie uns für die Dauer eines Stücks oder eines Konzerts in einer Utopie zu verweilen. Diese kann musikalisch kritisch, melancholisch, zuversichtlich oder tröstlich formuliert sein; sie kann sich in der Klangsprache, in der kompositorischen Diktion oder in den Inhalten artikulieren.

Entscheidend ist eine Erfahrung, die außerhalb des eigenen Denk- und Erlebnishorizonts liegt. Letztlich gilt das für alle Kunst: Gesellschaftliche Erschütterungen finden in ihr einen Widerhall, der das Bewusstsein wachhalten und Veränderungen anstoßen kann. Dadurch lassen sich die Dinge neu arrangieren und ordnen. Weltsichten werden in Frage gestellt, Wahrheiten erkennbar, Unordnung möglich, wo alles schon klar erscheint. Vor allem aber kann die Kunst, die Dinge anders spielen, als sie aktuell sind. Sie schafft es, alternative Versionen von Gegenwart und Zukunft zu erzeugen – nicht um zu behaupten, dass es so ist, sondern dass es so sein könnte.

 

Ich habe hier in diesem Saal zum 175. Geburtstag des Thalia Theaters Theodor W. Adorno mit seiner berühmten Definition „Kunst ist Magie befreit von der Lüge Wahrheit zu sein“, zitiert. Damals wollte ich angesichts der zahllosen Angriffe auf die Wahrheit, die wir weltweit in der Politik erleben müssen, darauf hinaus, dass es etwas Drittes zwischen Lüge und Wahrheit gibt. Aber die Bezüge sind eigentlich noch vertrackter, als ich damals wahrhaben wollte. Denn die Magie der Kunst erhebt ja schon den Anspruch, dass es so sein könnte, während sie gleichzeitig das ihr innewohnende fiktionale „Als-Ob“ ganz deutlich zu verstehen gibt.

Die Magie, von der Adorno spricht, strebt danach, Wirklichkeit werden zu können. Und in der Tat ist es so, dass Kunst nicht den Anspruch auf Wahrheit im Sinne eines unmittelbaren Abbildes erhebt. Zugleich aber zeigt sie uns mögliche künftige Wahrheiten und lässt uns spüren, wie sie sich anfühlen könnten. Das ist die wahrscheinlich größte gesellschaftliche Kraft, die die Kunst, deren heutige Freiheit auch ein Kind der Aufklärung ist, entfalten kann. Sie erzeugt ein Bild des Möglichen und nährt die Zuversicht, dass die Wirklichkeit dem folgen könnte. Und doch beginnen unsere Geschichten keineswegs immer beim Möglichen, sondern recht oft beim Wirklichen.

 

Und das muss gar nicht mal schlecht sein, wenn wir an die Spannungsfelder zwischen Sein und Sollen denken, in denen neue Ideen wachsen. „Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist“, hat Ferdinand Lassalle in dem Brief geschrieben, mit dem er vor 160 Jahren 1863 den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gründete. Ein starkes Statement, aber auch eines, das genau gelesen werden will. Denn in ihm steckt ein Widerspruch. Während Lassalle zuerst sagt, dass die politische Aktion im Aussprechen bestehe, präzisiert er noch im gleichen Satz, dass sie damit beginne. Das aber ist ja durchaus ein großer Unterschied. Was ist, lässt sich nämlich vermutlich nur beantworten, wenn man sich unmittelbar einer zweiten Frage zuwendet. Warum? Weil das gilt, was wir uns vorhin bereits anhand der Habermasschen Überlegungen genauer angesehen haben. Wir wollen wissen, warum etwas so ist, wie es ausgesprochen wird. Jede Behauptung braucht Gründe, um akzeptiert zu werden. ‚Sagen, was ist‘ kann immer nur den Anfang markieren, nicht aber das Ganze einer politischen Aktion. Wenn wir zurückschauen, wie wir Menschen begonnen haben, uns über unsere Welt zu verständigen, dann wird das schnell deutlich. „Aus einem ‚Sagen, was ist‘ wurde auf einmal ein ‚Sagen, was war‘ und ein ‚Sagen, was sein könnte‘. Und irgendwann berichtete man von Dingen, die nicht in oder vor der Höhle existierten und passierten, sondern weit entfernt. Man sprach tatsächlich ungestraft von Säbelzahntigern, die gar nicht da waren, vermutlich um sich schon einmal mental zu wappnen, bevor man ihnen eines Tages wirklich begegnete.“ So beschreiben Samira El Ouassil und Friedemann Karig in ihrer Studie „Erzählende Affen“ die Kommunikation steinzeitlicher Stammesgesellschaften. Und sie entdecken hier einen Kern des Humanen.

 

Geschichten versetzen uns in die Lage, uns die Welt zu erschließen und uns auf Dinge vorzubereiten, die noch nicht sind. Wir bauen Informationen in Geschichten ein, um ihnen Sinn und Kontext zu geben und sie so besser zu verstehen. Das gilt nicht nur für das Verstehen von Vergangenheit und Gegenwart, sondern erst recht und ganz besonders im Blick nach vorn. Und das zumal in einer Zeit, in der es gar nicht mehr unbedingt um ein Höher, Weiter, Schneller, um einen linearen Fortschritt geht, sondern in der vielleicht zunächst einmal nur die Anpassung, wie der Soziologie Philipp Staab schreibt, also das gemeinsame Überleben in widrigen Zeiten, zum neuen Leitmotiv werden könnte, weil wir erst einmal wieder festen Boden unter den Füßen bekommen wollen.

 

Wer die Veränderung zum Besseren will, ist jedenfalls gut beraten, Geschichten zu entwerfen, in denen sich ausprobieren lässt, wie die Alternative zum Existierenden gedacht, beschrieben und erzählt werden kann. Gerade weil diese Alternative eben (noch) nicht sichtbar ist, braucht es Geschichten, in denen sie zumindest spürbar wird. Dieser utopische Überschuss unserer alltäglichen Storys ist genau das, was es braucht, damit wir tatsächlich „eine Horde Affen“ sein können, „die innerlich Theater spielt“. Mit diesen Formulierungen beschreiben El Ouassil und Karig die kaum zu überschätzende Wirkung fiktionaler Erzählungen auf unser Verständnis der Welt, in der wir leben, und der besseren Version, in der wir leben wollen. Diese erzählenden Affen sind heute aber längst nicht mehr darauf angewiesen, dass andere für sie Geschichten schreiben, von denen sie sich überwältigen lassen. Der „homo narrans“ ist vielmehr durch die technischen Möglichkeiten digitaler Plattformen selber zum Autor seiner eigenen Geschichten geworden, kann Storys über sich und seine Weltsicht ungefiltert produzieren und veröffentlichen. Die Vielstimmigkeit unserer vielfältigen Gesellschaft wächst sich dadurch zum bisweilen kakophonischen Chor aus.

Orientierung ist nur zu haben, wenn es gelingt, durch die Vielfalt hindurch zu gemeinsamen neuen Erzählungen einer bunten Gesellschaft in einer bisweilen anstrengenden Welt zu gelangen. Das gelingt nur, wenn wir nicht länger versuchen, lauter zu sein als die anderen, sondern wenn wir uns einander zuwenden und anfangen, die Geschichten der anderen zu hören. Und wenn wir unsere eigenen Geschichten sorgsamer und einladender erzählen.

 

Jede Politik, die nicht nur bewahren will, was ist, sondern die verändern will, weil sie eine Vorstellung davon besitzt, was sein könnte, ist auf eine solche Erzählung angewiesen, wenn sie Bürger*innen davon überzeugen will, den gemeinsamen Weg zu gehen. Das ist nicht selbstverständlich, sondern durchaus voraussetzungsreich. Gerade weil es nicht bloß gut durchdeklinierte abstrakte Vorstellungen der notwendigen Policys braucht, sondern zugleich auch die motivierende Kraft guter und überzeugender Storys eigener Vorstellungen von Gesellschaft. In diesen alltagskulturellen Geschichten, im Freiheitspathos großer Rocksongs, im Gerechtigkeitsstreben sozialrealistischer Dramen, in den Gemeinschaftserlebnissen in Kinos und Theater und in vielem, vielem mehr entstehen neue Vorstellungen von dem, was möglich sein kann.

 

Nehmen Sie nur die Songs von Bruce Springsteen, mit denen ich mich in den vergangenen Monaten viel beschäftigt habe: In seinen Liedern reichen die Ödnis der kleinen Stadt, ein Auto, ein Mädchen namens Wendy oder Mary und ein irgendwo beginnender Highway aus, um ein Gefühl von Freiheit zu transportieren, das tiefer geht, als die klügsten und abgewogensten philosophischen Traktate. Viele Songs leben von den Beschreibungen der sozialen Enge und dem Traum, all dem entfliehen zu können, indem man ins Auto steigt, den Motor anlässt und aufs Gaspedal tritt. Ein paar Takte auf dem Klavier, darüber das Sehnen der Mundharmonika – so beginnt Springsteens wahrscheinlich dringlichster Song „Thunder Road“ von 1975.

Eigentlich passiert danach nicht viel. Er steht mit seinem Auto vor dem Haus seiner Freundin und versucht sie zu überzeugen, einzusteigen und wegzufahren. Da ist schon in dieser Geste nichts Heldenhaftes, nichts Großartiges, bloß die Chance, es anderswo besser zu haben und besser zu machen. Das Leben in die eigene Hand nehmen und verändern zu können. „Well now, I’m no hero, that’s understood / All the redemption I can offer, girl, is beneath this dirty hood / With a chance to make it good somehow / Hey what else can we do now?”, singt er Mary zu. Ihr Kleid flattert dabei im Wind. Sie sei keine Schönheit, aber das sei für ihn in Ordnung. Wie ein großes Versprechen klingt diese Aufforderung nicht, und das, obwohl der Sänger später noch beteuert, dass sie nur noch diese eine Chance hätten, dass der Himmel am Ende der Schienen läge und dass sie die Geister der Vergangenheit, die alten Freunde, die Erinnerung an die Schule und all die Trostlosigkeit nur hinter sich lassen könne, wenn sie bei ihm einsteige. „Tonight, we’ll be free, all the promises will be broken.” Und dann kommen doch noch spektakuläre Perspektiven: Der Himmel und das gelobte Land lägen auf der Strecke und seien erreichbar. Aber konsequenzenlos werde das nicht sein.

Wer sich entscheidet, muss damit rechnen, dass das Ganze etwas kostet, dass die Freiheit eben nicht zu haben ist, ohne auch Verantwortung für die Entscheidungen zu übernehmen, die sie ermöglicht und die sie ermöglichen. “The door’s open, but the ride ain’t free”, lockt und warnt er zugleich.

Doch was wäre die Alternative? Das langsame Betrauern verlorener Träume, eitle Gebete oder die Einsamkeit? Aus dieser gefährlich wohligen Melancholie auszubrechen, ins Ungewisse, ins nicht Absehbare, ins Gestaltbare – das bietet er ihr an. Er wird gehen, seine Gitarre dabei, seinen Wagen als Sicherheit. “This is a town full of losers and I’m pulling out of here to win”. Ob er sie überzeugen kann, erfährt der Hörer nicht. Für den Moment vielleicht. Aber sie weiß doch bestimmt, was er später in „Born To Run“ zugeben wird: „The highway’s jammed with broken heroes“.

 

Wieder und wieder hat Springsteen solche Situationen mit wenigen Andeutungen wirkmächtig aufscheinen lassen. Doch oft mussten sich seine Helden dann doch wieder in den Alltag einfädeln und durchschlagen. Weil die Verhältnisse sie dazu zwingen, und weil eben geheiratet und gearbeitet werden muss, wenn die Freundin schwanger wird wie in „The River“ von 1980 oder weil die Heimatstadt am Ende emotional stärker war als das Versprechen der Freiheit da draußen.

 

Vor ein paar Jahren hat Bruce Springsteen einen opulenten Gesprächsband mit Barack Obama veröffentlicht, in dem sich die beiden auch ausführlich über die Fluchtphantasien seiner frühen Songs unterhalten. Man erfährt, dass Springsteen selbst erst mit 24 den Führerschein gemacht hat und vorher getrampt ist, um die Freiheit der Straße zu spüren. Vor allem aber bin ich an einem Gedanken hängen geblieben, den Springsteen eher beiläufig formuliert: „You find the freedom in a life of limits, which is something I didn’t believe in until I experienced it myself. I said I’m freer now than I was when I thought I was free. When you get to the point where you really want to find your freedom, you’ve got to find a place to stand and let them grow.”

 

Freiheit erreicht man nicht, indem man dauerhaft davonläuft, irgendwann muss man sich entscheiden, stehen bleiben und den Träumen eine Chance geben. Das ist die Essenz dieser Beobachtung, die Grenzen des Lebens ermöglichen die Freiheit. Deshalb ist es so wichtig, dass wir sie richtig setzen. Durch individuelle Entscheidungen, aber eben auch durch gesellschaftliche Vereinbarungen.

Und was in diesen Erzählungen immer hängen bleibt – bei allen Schwierigkeiten die diese konkreten Entscheidungen machen: Wir haben es selber in der Hand. Wir können alles jederzeit neu und anders machen. Und natürlich können wir auch scheitern. - “The door’s open, but the ride ain’t free”.

 

Diese Songs sind nur Beispiele für die vielen Geschichten, die uns umgeben. Hören wir hin. Saugen wir sie auf, erzählen wir sie weiter und reden wir über sie. Wie oft passiert das hier im Haus. Erst im Saal und dann in den Foyers. Schon sind wir mitten drin in einem Gespräch über die Zukunft und der ganze Raum fängt an zu schwingen. Wir führen solche Gespräche, weil wir zuversichtlich sind, dass sie uns weiterbringen, weil wir Lust auf Austausch zwischen unterschiedlichen Weltsichten haben, weil wir davon ausgehen, dass die Vernunft tatsächlich in der Vielheit ihrer Stimmen liegt. Weil wir spüren, dass es nicht vernünftig ist, die Welt in den schwärzesten Farben zu malen. Weil wir spüren, dass es vernünftig ist, zuversichtlich zu sein. Wie hieß es im eingangs gespielten Song an einer Stelle so schön prosaisch: „Jeder Tag ist ein Geschenk, er ist nur scheiße verpackt“.

 

Aber: Wir können das hässliche Papier runterreißen und gemeinsam das Beste aus diesem Geschenk machen.

Wir können uns tatsächlich die Frage stellen, wovon wir künftig träumen wollen.

 

Und: Wir können so vernünftig sein, zuversichtlich zu bleiben. Wir können die Welt neu denken. Wenn wir gemeinsam auf die Suche nach Antworten gehen, dann werden wir welche finden.

 

 

Schönen Dank für die Aufmerksamkeit!