SAILOR MO
ON - WE'RE FL
YING HIGH

Laudatio von Matthias Günther auf Anna Degenhard anlässlich des Thalia Freunde Preis in Memoriam Eva Bonacker 2022

Sailor Moon - We're flying high

Laudatio von Matthias Günther auf Anna Degenhard anlässlich des Thalia Freunde Preis in Memoriam Eva Bonacker 2022

 

(Regieanweisung. Matthias Günther betritt die Bühne. Er hat eine portable Soundbox dabei und wählt aus einer Playlist den Song „Never Let Me Down Again“ der englischen Synthie-Pop-Gruppe Depeche Mode. Er fängt an zu tanzen.)

 

Ich wollte gerne über Musik sprechen. Über Annas Lieblingsmusik. Anna hat eine große Liebe zur Musik der Achtziger Jahre. Sie ist ja 1987 geboren und da lief im Radio „Depeche Mode“. So wie jetzt. Depeche Mode „Never Let Me Down Again“. Und vielleicht sind schon damals bei ihr dieses Songs auf der Festplatte hängengeblieben. Also der Festplatte im Kopf. Jedenfalls später hat sie auch viel Radio gehört und immer wieder gerne Musik der Achtziger Jahre. Und vor ein paar Jahren hatte Anna einen Freund, der war ein ganz großer Fan von Depeche Mode. Und sie sind zusammen auf Partys gegangen. Auch im Nachtasyl des Thalia Theaters. DARE! ... the 80s club for gays + friends, Pop & Wave, Italo Disco, High Energy und Dance Classics zelebrieren und das feiern, was die Gay-Szene der 80er Jahre auf die Tanzflächen trieb. ERASURE, MADONNA, PET SHOP BOYS. Das war für Anna eine Offenbarung, sagt sie. Und deshalb habe ich sie nach ihren Lieblingsplatten gefragt. Und wie sie Musik hört. Also welches Abspielmedium. Streaming, CD? Und Anna sagt, sie hört Schallplatten. Anna kauft Schallplatten von jungen Bands die New Wave, Dark Wave, Postpunk machen, um die zu unterstützen. Schallplatten zu hören ist toll, sagt sie, weil sich das Musikhören verändert. Sie hört nicht einzelne Songs, sondern Alben. Und dabei entdeckt sie eine Dramaturgie. Das Album als Kunstwerk oder Konzept. Eine Schallplatte zu hören, ist konzentriertes Hören. So fängt es vielleicht an:

August 1987.

Es läuft im Radio der neue Song von Depeche Mode
„Never Let Me Down Again“
August 1987.
An einem Montag wird Anna Degenhard in Kiel geboren.
„We're flying high /  We're watching the world pass us by“

Wir fliegen. Hoch über Norddeutschland.
Und sehen die Welt an uns vorbeiziehen: Annas Welt.
Da unten ist Laboe! Kennst du Laboe?
Die Sonnenseite der Kieler Förde und da ist Heikendorf.

Da die ehemalige Künstlerkolonie,
dort lebte eine Gruppe von expressionistischen Malern.
Sie pinselten die Leinwände voll,
Wälder, Wiesen, Fachwerkhäuser
lichtdurchflutet.

Anna ist in Heikendorf aufgewachsen.

Es ist Herbst 1995.
Anna ist acht Jahre alt.
Jetzt sehen wir sie auf dem Nachhauseweg aus der Schule.
Gleich schaltet Anna den Fernseher ein.
Sie hat eine neue geheime Freundin, Bunny Tsukino.
Bunny ist eine wahnsinnig schusselige, verschlafene Heulsuse,
die schlecht in der Schule ist. Ein hoffnungsloser Fall.
Aber eines Tages begegnet Bunny Tsukino die sprechende Katze Luna,
die ihr erzählt, dass sie, Bunny, auserwählt ist, das Universum zu retten.
Mithilfe einer Zauberformel verwandelt sich Bunny in Sailor Moon,
eine Superheldin!
Sailor Moon. Mega.
Das war eine neue Erfahrung für Anna.
Sailor Moon wurde ihr „Childhood-Hero“, sagt Anna.
Sie spielte mit dem Gedanken sich selbst in Sailor Moon zu verwandeln.
Dazu bräuchte sie ein Kleid mit Matrosenkragen und angesetztem Satinröckchen und große, aufgesetzte Schleifen im Vorder- und Rückteil.
Nähen konnte die Anna schon früh.
Gelernt hat sie es von der Großmutter.

Kostüme kreieren und gestalten,
so kann sie sich bestens entfalten.
Genießt die Ruhe, die Zeit vergeht,
Endlich! Es ist fertig genäht.

Und weiter geht`s
Yeah!

Schulabschluss.
Wir sind im Jahr 2008.
Abitur auf dem Heinrich-Heine-Gymnasium in Heikendorf

„Are you ready to go?
Are you ready to go?
If you want it, you've already got it
If you feel it, it must be real.“
singt Madonna (4 Minutes)

Und Anna fragt sich:
„Was vom Tablett des Lebens will ich mir nehmen?
Vielleicht Mode. Modedesign.“

Okay.
Sie macht eine Mappe und geht zur Mappenberatung.
Mappenberatung an der HAW:
Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg

Und die Mappenberaterin an der HAW sagt:
„Frau Degenhard! Wenn ich mir ihre Mappe so angucke,
dann glaube ich Kostümdesign passt viel besser zu Ihnen.“
Da hat Anna sich mit der Mappe bei Kostümdesign beworben.
Und. Treffer.


Sie studiert Kostümdesign bei Reinhard von der Thannen.
Ein Kostümbildner, der bis heute vor allem in der Oper tätig ist. 2010 in Bayreuth besucht die Kostümdesignklasse die Generalprobe von Hans Neuenfels Inszenierung der Oper „Lohengrin“. Lauter Ratten bevölkern die Bühne. Kostümbildner Reinhard von der Thannen steckt den Chor in Rattenkostüme. Versuchslabor statt Mittelalter. Schon bei den Proben sind geladene Zuschauer außer sich, bei der Premiere gibt es Protest und Radau. MEGA. Das war eine neue Erfahrung für Anna. Kostüm als ganz eigenständige Kunst, die etwas sichtbar macht. Mein lieber Schwan! Nicht Provokation, sondern Verdeutlichung.

Und Anna segelt los in eine Reihe von Projekten und Produktionen mit Studierenden der Theaterakademie Hamburg.
Wechselseitige Erhellung von Regie, Schauspiel, Bühne und Kostüm. Theater ist keine zeitlose Kunst, sondern erwirbt seine Berechtigung durch inhaltliche und ästhetische Erneuerung. Anna geht auf Reisen. Gastassistenzen führen sie an die Volksbühne Berlin und an das Schauspiel Frankfurt, wo Tabea Braun im November 2014 für ein Projekt von Schorsch Kameruns „Frankfurter Rendezvous – Musikalische Vollversammlung auf dem Willy-Brandt-Platz“ verrückte Kostüme erfindet. Unter vielen merkwürdigen archaischen Figuren fällt ein goldener Opernsänger auf. Ein spazierender Goldklumpen vor der Europäischen Zentralbank. Die Inspiration stammt aus dem Buch „Wilder Mann“ von dem Fotografen Charles Fréger, der auf der Suche nach der mythologischen Figur des Wilden Mannes durch die Welt gereist ist und die Verwandlung des Menschen zum Biest anhand merkwürdiger Kostüme und Uniformen aufzeigt. Das Buch gehört heute zu Annas ständiger Bibliothek, genau wie ein weiteres Buch, das ihr Tabea Braun zur Premiere der Frankfurter Arbeit geschenkt hat, einen Kunstkatalog von der Fotografin und Künstlerin Cindy Sherman mit fotografischen Selbstporträts und Selbstinszenierungen in verschiedenen Kostümierungen. Cindy Sherman sagte einmal: „In meiner Arbeit bin ich anonym. Wenn ich mir meine Bilder ansehe, bin ich das nicht – es sind keine Porträts. Ich kann in meiner Kunst verschwinden.“ „Diese Frau“, sagt Tabea Braun, „gehört einfach dazu. Du musst ein Buch von Cindy Sherman besitzen.“ Und für Anna wird es zur Inspiration. Sie erweitert ihr Repertoire und beginnt selbst mit Fotografischen Porträtmalereien zu experimentieren. Daraus werden zwei großartige Ausstellungen: 2016 „Vom Hermelin zum Handtuch“ und 2020 „Vom Hermelin zum Hoodie“. Die Titel sind Programm: Anna inszeniert fotografische Portraits, die sich an Gemälden der Renaissance orientieren und diese teils explizit, teilweise auch nur vage nachbilden. Mit Hilfe simpler Umformung und Zweckentfremdung zeitgenössischer Kleidung der Modelle, ist das Arrangement für den Betrachter erst auf den zweiten oder dritten Blick durchschaubar.

(Regieanweisung: Herr Günther legt sich einen Thalia-Beutel auf den Kopf. Er sieht ein bisschen aus wie die Amme in „Romeo und Julia“.)


Ein bisschen sehe ich aus wie die Amme in Romeo und Julia.
Ich stehe hinter der Gardine und lausche.

Romeo sagt: „Dein Vogel will ich sein“,
Antwort Julia: „Ich deiner auch. Doch meine Liebe würd erwürgen dich.“


„Ach, Shakespeare“, sagt Anna. Als es noch Videokassetten gab, einst in der digitalen Steinzeit, hatte sie eine Kopie von Baz Luhrmanns „Romeo und Julia“.


Action, Popkultur, Kitsch, moderne Kostüme.
Ein Stück wie ein Videoclip. MTV. MEGA.
Das war eine neue Erfahrung für Anna.

 

Huch! Jetzt hüpft ein Kanarienvogel über das Papier.
Er will in die Laudatio und was zwitschern.
„Das Theater ist der Ort, wo Wirklichkeit und Fiktion aufeinandertreffen, und es ist also der Ort, wo beides seine Fassung verliert in einer heiligen Kollision.”
Wer sagt das denn? Wolfram Lotz der Autor.
Anna kennt diesen ganz besonderen Sound von Wolfram Lotz durch ihre Arbeit als Gastassistentin im Thalia Theater in der Gaußstraße: 2014 „Eine lächerliche Finsternis“.
Der Kanarienvogel will jetzt ein Lied singen.
Ein Lied für Anna. Er öffnet seinen Schnabel:

A-N-N-A

Lass mich nicht im Regen fliegen
Ich will dich jetzt wiederkriegen
A-N-N-A
Du bist hinten wie vorne
A-N-N-A

                                              
Wolfram Lotz ist genervt:
„Aber Kanarienvögel singen gar nicht,
die krächzen und kieksen nur entsetzlich.
Und so kommt einem dieses Krächzen vor wie Gesang, aber
das ist es nicht, es ist das Krächzen eines fedrigen Klümpchens, das voll ist mit Vogelscheiße!“


(Regieanweisung: Der Kanarienvogel fliegt beleidigt davon und Anna bleibt am Thalia Theater und wird nach Studium, Bacelor und Master 2016 feste Kostümassistentin.)

Im Sommer 2017 macht sie ihr erstes eigenes Kostümbild für das Thalia Theater: „Das Ende von Eddy“ in der Regie von Alek Niemiro mit Steffen Siegmund und dem Musiker Tom Gaza. Erste offizielle Anprobe und erste Ansagen: „Da vielleicht ein Knopf am Hemd und die Hose etwas kürzer.“

Das war eine neue Erfahrung und es war der Beginn einer Reihe eigener Arbeiten und dann begegnet sie am Ende ihrer Zeit als Assistentin Aleksandra Pavlović und Charlotte Sprenger, die im Januar 2019 mit der großartigen Arbeit „Vor dem Fest“ von Saša Stanišić sich mit einer eigenwilligen Spielform und Theaterästhetik präsentieren. Die Arbeit hat Anna verblüfft, so wie die beiden gearbeitet haben, das war neu für sie. Der Umgang mit dem Stoff, also dem Text, den Stoffen, also den Kostümen, Vorhängen, den Materialien, den Farben und Formen. Es war für Anna eine einzige Inspiration. Ärzte sprechen von Inspiration, wenn sie die Einatmung meinen. Umgangssprachlich steht Inspiration für einen produktiven Einfall, die unerwartete Erkenntnis.

Wolfram Lotz schreibt:
„Das Theater ist ein Ort auf der Welt. Und die Welt ist so, wie sie ist und das nennt man Wirklichkeit.“

Und manchmal gibt es in der Wirklichkeit und im Theater den richtigen Zeitpunkt. Und mitten im Systemfehler Corona, fragen Charlotte und Aleksandra, ob Anna die Kostüme für die neue Inszenierung in der Gaußstraße machen könnte. „Die Politiker“ ein Theatergedicht von Wolfram Lotz. Hast du Zeit und Lust? Das Theatergedicht ist ein Gemisch aus Mantra und Wechselrede, ein scheinbar assoziativer Gedankenstrom, der aber doch zum Punkt kommt, zum Doppelpunkt: Es geht um uns! Sind wir die Politiker? Ein Auszug:

„Die Politiker die Politiker die Politiker die Politiker die Politiker –
Die Politiker gehen die verschneiten Abhänge hinab
ich sehe sie aus der Entfernung
Was haben sie vor?
Who cares!“

Die Produktion „Die Politiker“ wird für Anna ein leuchtender Punkt in ihrem Leben, sagt sie. Das Theatergedicht von Wolfram Lotz erlaubt dem Kostüm sehr viel. Am Anfang hat Anna einen Pool von Bildern und Figuren, die sie immer mehr konzentriert und den einzelnen Schauspieler*innen zuordnet. Immer im Gespräch miteinander. Immer ganz nah dran. Was passt zu wem? Und wer sind die Politiker? Und so begegnen wir auf der Bühne merkwürdigen Gestalten. Sie sind androgyn, queer, sexy, eine Magical Mystery Tour – Politiker wie sie uns im Bundestag eher selten begegnen. Sie sprechen, sie singen, sie tanzen. Und Toini Ruhnke trägt ein ganz besonderes Kostüm in der Aufführung: Sie ist Sailor Moon. Die Superheldin aus Annas Kindheit. Mega!

(Regieanweisung. Matthias Günther wählt aus einer Playlist den Song „It’s my Party“ von Lesley Gore. Es wird gefeiert.)