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arx-Sag
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Theater oder die List der Wiederholung

In einem wahrscheinlich 1928 geschriebenen Essay hat Ernst Bloch die alltägliche, gleichwohl rätselhafte Figur des Déjà-vu in den Horizont seines Denkens der Utopie gerückt . Im Déjà-vu sieht Bloch nicht die Wiederkehr von etwas Gewesenem, sondern ganz im Gegenteil: die ‚Begegnung’ mit etwas Nicht-Gewordenem; die Figurierung ungewordener Erlebnisse und Erfahrungen. Es sind, so Bloch, „solche zwischen Lippe und Kelchesrand.“ Nach diesem ebenso fragilen wie haarscharfen Bild eines Zwischen – zwischen Lippe und Kelchesrand, zwischen eben noch und noch nicht – erscheint das Déjà-vu als Gegenwärtigkeit eines Ungewordenen, als Erfahrung eines nie Erfahrenen Das utopische Denken nach Bloch ist, der Logik dieses Bildes zufolge, nicht auf ein fixiertes Ziel, sondern auf die Öffnung eines beweglichen Raumes des Zwischen gerichtet: zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht, zwischen Traum und Wachen, zwischen Bekanntem und Unbekanntem, zwischen Gewesenem und Ungewesenem zum Beispiel.

Wieso diese Erinnerung? Weil die Inszenierung der Marx-Saga am Thalia-Theater so einen mit dem déjà-vu angesprochenen beweglichen Raum des Zwischen öffnet. Und dieser Raum hat sowohl etwas mit dem Theater als auch mit ‚Marx’ zu tun.

In der Marx-Saga nämlich wohnen wir nicht nur einer Reihe von Impromptus über mehr oder minder bekannte Daten und Legenden der Marxschen Biographie bei, werden nicht nur einige Schlaglichter seiner Theorie aufgeblendet wie auch nicht der gnädigen Position des Danach – nach dem Niedergang der im Zeichen des Marxismus etablierten totalitären Regime und Staaten – in Form einer besserwisserischen, nostalgischen, launigen oder wie auch immer gefärbten Kritik gehuldigt wird. Nein, auf dieser Bühne geschieht etwas anderes. Ein anderes Theater: Weniger wird eine Geschichte über Marx dargestellt, vielmehr liegt die Dynamik dieser Darstellung darin, dass sie einen Abstand zu sich selbst als theatraler Darstellung in Szene setzt: In der Szene tut sich ein Spalt auf zwischen der theatralen Darstellung und dem, worauf sie sich bezieht: auf ‚Marx’. Die Szene also wird nicht von einem Spiegelverhältnis beherrscht, sondern sie lebt davon, dass sie zwischen der Darstellung und dem Dargestellten einen Hiatus ausstellt. Und dieser Hiatus, diese Unstimmigkeit in der Darstellung ist es, welche in das Geschehen ein Moment der Beweglichkeit, der Unruhe, der Frage und damit ein Moment des Lebendigen einführt.

Diese produktive Spaltung ist bereits im Bühnenbild, das eigentlich keins ist, realisiert: Es gibt nur die Brandmauer sowie offene Seitenbühnen. Es gibt also nichts wie einen großen dekorationslosen und kahlen Raum: Die Bühne als semantisch aufgeladener Theaterbezirk fällt aus, sie wird in diesem Sinne leer. Genau diese Leere aber, die durch den Abzug einer festen Bühnenbild-Rhetorik entsteht, ermöglicht die Hervorbringung einer anderen Räumlichkeit: einer beweglichen, die durch die von den Bühnenfiguren beschriebenen Bewegungen, den Positionen, die sie einnehmen und durch die Lagebeziehungen dazwischen zu Stande kommt. Ist damit der theatrale Raum nicht als vorgegebenes, durch eine dichte Semantik ausgestattetes und definiertes Gehäuse, sondern als ein beweglich-konstellatives Beziehungsgeflecht in Szene gesetzt, so ist damit ein präziser Konnex zu Marx hergestellt: Wenn nämlich die Marxsche Lehre ihren Fluchtpunkt in einer Theorie der Geschichte hat und wenn Geschichte bei Marx im Zeichen der Veränderbarkeit steht, dann wird dieses Moment im topologisch-theatralen Raum der Marx-Saga erfahrbar: In dem Maße, wie der Raum der Bühne sich durch die Beziehungen zwischen den symbolischen Positionen der Figuren herstellt, kommt ein dynamisches Moment ins Spiel, das Kontingenz, also etwas Zufälliges aber nicht Unmögliches, zulässt.

Diese bewegliche Raumordnung macht sinnfällig, dass sich heterogene Elemente begegnen können. Steckt im Wort ‚Begegnen’ auch das dramatisch-konflikthafte ‚Gegen’, so treffen auf- und gegeneinander Figuren aus verschiedensten geschichtlichen Zeiten und gesellschaftlichen Milieus, unterschiedliche Erzählweisen und Erzählebenen, unterschiedliche ideologische Haltungen sowie Klänge und Medien. Diese jede Chronologie und jedes chronologische Erzählen aussetzende Rhythmik aus Zusammentreffen und Streuung bewirkt, dass die Titelfigur ‚Marx’ nicht im Zentrum des Geschehens steht. Im Gegenzug zu einer totalitären politischen und ästhetischen Adaptation bleibt die Mitte, ganz konkret: die Mitte des Bühnenraumes, fast immer leer. Sie wird nicht durch ‚Marx’, besetzt. Nicht wird die Lücke durch ‚Marx’ gefüllt, sondern umgekehrt: Das Spiel besteht im Aufriss der Szenen, im Aufriss von Lücken als einem möglichen Spielraum zur Produktion neuer Anordnungen und Prozesse.

Das Theater-Stück Die Marx-Saga ist die Dramatisierung (Christiane Pohle, Malte Ubenauf) eines Romans gleichen Titels von Juan Goytisolo (Übersetzung Thomas Brovot). Damit stellt sich das Stück als Über-Setzung von einem Medium in ein anderes dar. Eine Über-Setzung ist eine Form der Wiederholung, und es ist die Wiederholung, welche die Inszenierung ausstellt. Wie aber tut sie das? In dieser Inszenierung zeigt sich, dass der Wiederholung ein Sprung inhärent ist: ein Sprung zwischen der Erscheinung des Einen und der des wiederholten oder gedoubelten Anderen. So ist etwa die Figur des Clowns (Bruno Cathomas) gleichsam das Double des Jokers aus einem Batman-Film: Wie dieser der Legende zufolge als Kind so ernst gewesen sei, dass ihm der Vater deshalb die Mundwinkel aufgeschnitten habe, damit er immer lächelt, so nimmt der viel über den Kapitalismus bramabasierende Clown der Marx-Saga mit seinem geschminkten Mund die Züge eines Doubles dieser Figur des Bösen an. Zugleich aber klafft mit der gedoubelten Figur eine Differenz zwischen den zwei Erscheinungen auf.

Diese Differenz ist eine List, die im Aufriss der Wiederholung beide Erscheinungen fragwürdig macht. Und diese Art der Wiederholung hat etwas zu tun mit dem Komischen und der Komödie. Komödien lieben die Wiederholungen, indem sie uns die Fragwürdigkeit der Erscheinung ‚selbst’ zeigen. So bilden der Autor, der von Anfang auf der Szene ist (wunderbar gespielt von Tilo Werner) und Karl Marx (wunderbar gespielt von Josef Ostendorf) ein Gespann, das sich durch Verdoppelung und Differenz auszeichnet. Denn nicht nur erinnern der dünne Autor und der füllige Marx an Komikerpaare wie etwa Dick und Doof, sondern das Double gibt der ganzen Inszenierung einen Zug ins Komödiantische. Hatte Marx in seiner Schrift Der achtzehnte Brumaire seinerseits Komödie durch das Strukturmerkmal der Wiederholung gekennzeichnet, so ist das Theater der Marx-Saga von Komödiantischem durchwirkt. Wenn die List der Wiederholung darin besteht, dass sie in die Wiederholung eine Differenz einführt, dann untergräbt sie, diese List, nicht nur die unheimliche Figur des Doppelgängers, sondern auch die des Fetisch, zu dem Marx in totalitären Ästhetiken erstarrt ist. Vielmehr zeigt sie uns, dass der Wiederholung auch immer etwas Unbekanntes entgeht, sie zeigt uns den Spalt und die Lücke, ein ungreifbares Reales, als produktives Moment. So kommt es in diesem Theater der Marx-Saga wirklich zu Bildern, die wir nie sahen. Und das ist, wie beim déjà-vu, ein Ge-Lücke: Denn im Wort ‚Glück’ steckt, wenn auch versteckt, die Lücke.

Prof. Dr. Marianne Schuller, Institut für Neuere deutsche Literatur und Medienkultur der Universität Hamburg


Marianne Schuller