Der Traum von de
r Unsterblichkeit
Persönliche Anmerkungen von Joachim Lux anlässlich der Langen Nacht der Weltreligionen 2022
Sehr geehrte Damen und Herren,
herzlich willkommen zur „Langen Nacht der Weltreligionen“! Auf den heutigen Abend freue ich mich ganz besonders. Warum?
Gestatten sie mir ein paar persönliche Anmerkungen: Seit meiner Adoleszenz beschäftigen mich zum Thema Leben und Tod zwei zentrale und für mich bis heute nicht auflösbare Gedanken:
Ich fand es immer faszinierend, dass auf dem Erdball mit Milliarden und Abermilliarden Lebewesen einzig der Mensch ein Bewusstsein von seiner Endlichkeit hat. Selbst wenn dies aus heutiger Sicht so exklusiv möglicherweise nicht stimmt, weil beispielsweise Elefanten, Schimpansen und Gorillas auch einen Umgang mit dem Tod pflegen, so ist das menschliche Bewusstsein von der eigenen Sterblichkeit doch auf jeden Fall von einer völlig anderen Qualität als im Tierreich. Ja, man könnte sagen: erst das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit macht uns zu Menschen.
Absolut exklusiv sind aber wohl die Bemühungen des homo sapiens um den Tod. Er wird immer und immer wieder dargestellt, um ihn zu überwinden. Das ist der resttheologische Kern der Tragödie im Unterschied zur vollkommen säkularen, nur dem Hier und Jetzt verpflichteten Komödie. Insofern ist, anders als man auf den ersten Blick glaubt, die klassische Tragödie paradoxerweise eine optimistische Gattung, sie hat eine Utopie, die Komödie mit ihrer vollkommenen Gegenwartsverhaftung und einem happy end dagegen letztlich pessimistisch. Denn es gibt dort keine Utopie, nichts, was über das unmittelbar naheliegende erhebend hinausweist.
In diesem Sinne hat Heiner Müller immer wieder gesagt, dass es ohne den Tod kein Theater geben könne. Insofern sei der Kapitalismus mit seiner ausschließlich hedonistischen Gegenwartsfixiertheit auf die Akkumulation von Waren der Totengräber dessen, was das Theater ausmacht.
Das sind jetzt ganz schön schwere Geschosse… und auch nicht meine Gedanken als junger Mensch, sondern aus späterer Zeit. Ich komme aber gern zu meinen Gedanken als junger Mann zurück. Als junger und im übrigen katholisch erzogener Mann musste ich wie viele religiös erzogene Menschen irgendwie den äußerst komplizierten Übergang vom Kinderglauben zum Erwachsenenglauben schaffen. Das ist für viele verdammt schwierig. Denn natürlich fängt man an, jungfräuliche Geburten, biblische Wunder, Auferstehungen oder Spaziergänge übers Wasser zu bezweifeln und man verweist all dies wie die bösen Hexen im Märchen, wie fliegende Luftgeister ins Reich der Phantasie. Kurz: man fängt an mit der Selbstaufklärung. Religion verwandelt sich von einer Glaubenswahrheit in einen Mythos, und der Mythos in menschengemachte Geschichten eines frühzivilisatorischen Prozesses. Das ist natürlich ein Frevel an der reinen Lehre. Diesen absolut notwendigen Frevel der Entmythologisierung der Religion hat der berühmte evangelische Theologe Rudolf Bultmann beschrieben und wurde dafür von den Kirchen heftig attackiert. Er starb, als ich mein Abitur machte. Noch meine Kinder haben auf einer katholischen Schule in Hamburg gelernt, dass die Wunder der Bibel keine Metaphern sind, sondern knallharte Realitäten, ebenso wie Auferstehung oder die Jungfräulichkeit Mariens. Sie haben uns, den Eltern, zurecht den Vogel für diesen Schmarren gezeigt.
Ein ähnlicher Schmarren könnte natürlich der Glaube an die menschliche Unsterblichkeit. Warum – könnte man leicht sagen – sollen diese 7 Liter Wasser plus ein paar chemische Substanzen und Knochenmehl, ja warum um alles in der Welt soll ausgerechnet dieses Konglomerat unsterblich sein? Nichts spricht dafür. Wirklich gar nichts.
Dieser Exit in den reinen Materialismus war mir aber schon als junger Mensch eine zu preiswerte Abkürzung ins Nichts. Und ich fragte mich, wie die Völker der Welt – und nicht nur das Christentum – über die Frage der Unsterblichkeit nachdenken. Wenn man sich mit dieser Frage beschäftigt, dann stellt sich relativ rasch heraus, dass die Menschen in wirklich allen Kulturen und Religionen der Welt Vorstellungen über ein Leben nach dem Tod entwickeln. Ja, sie treiben sogar einen enormen Aufwand in berührend vielen Facetten. Es besteht offenbar eine große Not bzw. ein unglaubliches Bedürfnis, die eigene Sterblichkeit, gegen die aber dennoch kein Kraut gewachsen ist, zu besiegen. Dieser Aufwand an Phantasie und Kreativität hat mich tief beeindruckt und begleitet mich seither. Menschen stemmen sich im Zivilisationsprozess - und die Ausbildung der Religionen ist ja so ein erster Zivilisationsprozess – mit Macht gegen ihre eigene Vergänglichkeit. Wie wir ja auch heute bereit sind, beinahe jeden Preis zu zahlen und die gesamte Welt lahm zu legen, um für den Fortbestand unserer Gattung angesichts einer tödlichen Bedrohung zu kämpfen.
Plötzlich ist das Thema unserer eigenen Sterblichkeit wieder da. Und damit auch der Widerstand dagegen.
Vielleicht ist es in Wahrheit so, dass wir herumtricksen. Tiere leben ohne Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit nur im hier und jetzt. Das wollen wir auch. Wenn wir uns die Unsterblichkeit suggerieren, erfinden wir uns auf einem Umweg die Tierähnlichkeit: Denn wir wähnen uns unsterblich, wie die Tiere. Der Gedanke hat eine gewisse philosophische Ironie.
Irgendwie versuchen wir uns aus zu pendeln, in einer Doppelstrategie.
Auf der einen Seite: Der berühmte aus dem Mittelalter stammende ikonographische Satz „media in vita in morte sumus“ – „mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“, der die „vanitas“, die „Vergänglichkeit“, beschreibt, ist natürlich unerschütterlich richtig.
Auf der anderen Seite: Als vor nicht allzu langer Zeit meine betagte Mutter starb, hatte sie sich gewünscht, die Beerdigung als Feier der Auferstehung zu begehen. So konnten die Trauergäste am Grab wählen: sie konnten eine Schaufel Sand auf den hohl klingenden Sarg werfen – ganz im Sinne des alttestamentarischen „Bedenke Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst“ (AT, Buch Genesis) - oder im Sinne des Auferstehungsgedanken Blütenblätter streuen.
Die meisten haben sich für letzteres entschieden, ich auch.
Ob die Unsterblichkeit ein Traum ist, eine Phantasie, ein Glauben, eine Scharlatanerie, eine Überlebenshilfe – wir wissen es nicht. Fest steht doch zumindest, dass wusste schon Ovid in seinen Metamorphosen, dass aus etwas nie nichts werden kann.
Wir freuen uns auf jeden Fall, wenn unsere Nachfahren über uns sprechen, und wir wenigstens im Gedächtnis dieser Sterblichen unsterblich sind. Wir wollen nicht nicht sein.
Angenommen aber, wir müssen uns tatsächlich vom „Traum der Unsterblichkeit“ verabschieden, weil sie eben doch nur ein Traum ist, dann müssten wir doch versuchen, die Unendlichkeit in die gelebte Gegenwart zu holen, um die erbarmungslos limitierte Zeit zu dehnen. „Carpe diem“ – genieße den Augenblick“ wäre dann die Losung. Kein Verzicht zugunsten eines späteren Irgendwann, sondern jetzt und hier. Der Regisseur Kirill Serebrennikov, der gerade am Thalia gearbeitet hat, sagt als überzeugter Buddhist jüdischer Herkunft: „Every day is an empty stage“ – natürlich stimmt auch das nicht, wir schleppen ja viel herum, aber es ist doch eine Variante auf die Utopie der eigenen Unsterblichkeit, eine Dehnung der Zeit, nicht nach hinten hin, sondern im Hier und jetzt: im konkreten Augenblick.
Zum Abschluss: Als Wolf Biermann vom Thema der diesjährigen „Langen Nacht der Weltreligionen“ hörte, schickte er sein Lied „Elegie 86“, die ich gern auszugsweise zu Gehör bringe:
Jesus der große Schmerzensmann
Am Kreuz, in Glanz und Wunden
Er hatte seine Schau im Tod
Und alle Welt sah seine Not
Und als die Leut drei Tag danach
Sein leeres Grab gefunden
Und keinen Leichnam fanden
Da warn sie froh. Da wussten sie:
Der Mensch ist auferstanden
Es gibt ein Leben nach dem Tod!
(…)
Ach, dass es danach noch was Schönes gibt
Ist tröstlich in unserer Lage
Wie gut! und doch, da bleibt uns noch
Die kleine – die große – die Frage
(das wüssten wir gern noch daneben!)
Ob’s sowas gibt – wir hättens gern:
- auch vor unserm Tode ein Leben!