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Begegnung mit Karl Roßmann

Lessing hat in paradoxer Personalunion beides zugleich getan: ein Nationaltheater gegründet und ein Gegenforum geschaffen: die Kritik. Die „Hamburgische Dramaturgie“ ist ein klares Statement für Diskurs und Streitkultur und eine der Geburtsstunden des Journalismus. Im Sinne Lessings schafft das Thalia Theater so seine eigene kritische Öffentlichkeit.

„Um die Wahrheit zu sagen: Ich bin nicht so der Theatertyp“, lautet Stefan Beuses erster Satz seiner Peer-Gynt-Kritik in dieser Rubrik, und auch die darauffolgenden Grundsätzlichkeiten teile ich aufs innigste mit ihm. Aber eben als „Nicht-Theatermensch“ bin ich an dieser Stelle ausdrücklich von Auftraggeberin Christine Ratka, Thalia Theater, ja herausgefordert worden. Sprich „keine Theaterkritik im üblichen Sinne“ abzuliefern, sondern „die Beschreibung eines speziellen Aufblicks auf die Inszenierung, den Text“. Dies nur noch schnell vorweg. Als Banause kann man sich ja gar nicht genug gegen Blamagen versichern. (Wie wenig mag’s brauchen, zum Theaterkritiker zu werden, wenn man praktisch voraussetzungslos Außenminister wird?)
Aus quasi sportlichen Gründen hatte ich eine theaterbegeisterte und -versierte Freundin um Begleitung gebeten. (Um erneut die Wahrheit zu sagen: eine Dramaturgin.) Am 22. Oktober besuchten wir die Inszenierung von Kafkas „Ameri-ka“. Ich fand’s gut. Meine Begleiterin nicht.
Gesehen hatten wir beide, wie der Schauspieler Philipp Hochmair rund eineinviertel Stunden lang, überwiegend in einer Art transparenten Liftkabine agierend, solo einen theatralischen Extrakt jenes Romanfragments aufführte. (Zu den bühnentechnischen und -musikalischen Implikationen der Inszenierung könnte ich übrigens aber auch nicht ein Iota den höchst interessanten Beschreibungen und Gedanken hinzufügen, die Michael Maierhof an dieser Stelle in seiner Kri-tik mit dem Titel „Wiederholung und akustischer Raum“ darlegt.) Hochmairs Text besteht zu geschätzten 95 Prozent aus dem Wortlaut des Originals. Er schlüpft in alle die wichtigsten Figuren, die in Kafkas berühmten Buch vorkommen – jenem Buch, das etwa Eckhard Henscheid „für einen der zehn größten Romane der Weltliteratur“ hält, „für den vielleicht rührendsten“, dessen „wunderbaren Tonfall“ er rühmt.

Zur Vorbereitung hatte ich, nach ca. 25 Jahren zum zweiten Mal, „Der Ver-schollene“ (= ursprünglich „Amerika“) gelesen – und es wird unter Garantie kein weiteres Jahr dauern, bis ich es zum dritten Mal lese. Offenbar hat’s einfach seine Zeit gebraucht, bis ich reif genug war, Henscheids Urteil zu teilen. In Ermangelung von dessen bekannter kritischer Wucht und Wut bin hingegen ich generell zunächst zutiefst geneigt, Bearbeitern eines Stoffes gleichrangige Liebe dazu zu unterstellen.

Und vermochte mich vom ersten Augenblick an an der Vorstellung zu erfreuen. Ich empfand diesen vielfach verspiegelten, je nach Lichteinfall blickdichten oder transparenten, neonbeleuchteten zellen- und käfig- und zugleich irrgartenhaften Fünfkubikmeterkubus, in dem man prompt auf sich selbst zurückgeworfen wird, als schlichtes, aber einleuchtendes Vehikel, um die typischen kafkaesken Klaustrophobieschlachten des vergesellschafteten Individuums zu symbolisieren – zumal mit dem hübschen Effekt der Vorausdeutung auf Karl Roßmanns Liftboy-Karriere. Dies die eine zentrale Idee (gelungen, wie ich fand – zumal die Langeweile komplett ausblieb, mit der der enge Aktionsraum drohte: Hochmair holte Marschiermeilen und Tribunalsäle daraus heraus!); die andere: Kafkas Sprache mit wenigen, wohlbegründeten Ausnahmen unbearbeitet, unverfälscht zu übernehmen (in Hochmairs Interpretation ebenfalls gelungen, wie ich fand).

Da ich diese zentralen Ideen also schon nach der ersten Hochrechnung als geglückt empfand, vermochte ich auch den Details mit Wohlwollen zu begegnen: Ich empfand die roten Laufschriften big-apple-business-like; empfand den Ein-satz all der Kamera- und Videotechnik als reizvolles Sprachkontrastmittel zur Verdeutlichung des merkwürdigen kafkaimmanenten Paradoxons, daß Atavis-mus in gewisser Weise nicht auszurotten ist (jedenfalls solang sich der Mensch, allen Bemühungen zum Trotz, nicht endgültig selbst ausgerottet haben wird); empfand das Rilkepanthermäßige von Hochmair gut gemacht; empfand auch den veralteten Eifer des naiven Immigranten im Land der unbegrenzten Möglichkeiten als eher emblematisch triftig dargestellt denn als naiven Eifer veraltet dargestellt und so weiter und so weiter, und ich freute mich über unaufdringliche Clous – von dem, die subaltern-größenwahnsinnige Mentalität, wie sie der Portier im Hotel Occidental eine entwickelt, en passant mitsamt stiff upperlip marlonbrandoesk umzusetzen, bis hin zu dem, mit der Schlußgeste im Naturtheater von Oklahoma die der Freiheitsstatue zu zitieren und so eine eigene Klammer zu setzen, um das berühmte Fragment zu runden.

Es gäbe noch eine Menge hinzuzufügen, allein, kurzum: Ich applaudierte, weil insgesamt zufrieden bis angetan. Ich hatte keinerlei Schmerzen erlitten, sondern auf angenehme Weise den einen oder anderen kulturellen Muskel massiert bekommen. Meine liebwerte Begleiterin allerdings stellte mir beim Après-Theater eine in weiten Teilen andere Sichtweise vor und dar! Über die ich durchaus staunte und ins Grübeln kam, war sie doch locker nachvollziehbar und womöglich via Grundlage ihrer viel größeren Theater-Erfahrung nicht nur mindestens ebenso wohlbegründet, sondern womöglich noch besser, eben: scharfsichtiger und anspruchsvoller, deswegen aber noch lange nicht: arroganter, snobistischer o.ä.

Die hier weiter auszubreiten aber leider nicht der Platz ist. Denn sie würde die Beschreibung eines speziellen Aufblicks eines Nicht-Theatermenschen denn doch wieder in eine Theaterkritik im üblichen, emphatischen Sinne transformieren.

Wissen Sie was? Schnappen Sie sich eine/n versierte/n Begleiter/in bzw. einen Banausen und machen Sie sich selbst ein Bild! Oder gar zwei.

Frank Schulz, geboren 1957, lebt als freier Autor und teilzeitangestellter Redakteur in Hamburg. Veröffentlichungen u.a.: Kolks blonde Bräute (1991), Das Ouzo-Orakel (2006)


Frank Schulz