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Laudatio von Matthias Günther auf Annette Paulmann

 

Laudatio von Matthias Günther auf Annette Paulmann anlässlich der Verleihung des Münchner Theaterpreises, 11. Juli 2017

 

Guten Abend meine Damen und Herren,


mein Name ist Matthias Günther, ich war neun Jahre Dramaturg hier an den Münchner Kammerspielen bei Frank Baumbauer und Johan Simons, seit zwei Jahren bin ich am Thalia Theater in Hamburg.

 

Liebe Jury,
was für eine großartige Entscheidung, was für eine großartige Wahl, den Münchner Theaterpreis 2017 Annette Paulmann zu verleihen.

 

Liebe Annette,
kürzlich traf ich dich – es war während des wunderbaren Festivals RADIKAL JUNG, das du seit vielen Jahren sehr kundig und klug gemeinsam mit C. Bernd Sucher und Kilian Engels kuratierst. Einige junge Theatermacher, mit denen ich jetzt in Hamburg arbeite, habe ich als Besucher auf diesem Festival kennengelernt: Antú Romero Nunes, Bastian Kraft, Jette Steckel oder Christopher Rüping. Annette, alleine dafür vielen Dank, für deine akribische Suche nach jungen Talenten im Pool des UNESCO-Weltkulturerbes Deutschsprachige Theaterlandschaft.

 

Meine Damen und Herren,
ich traf Annette Paulmann und wir sprachen über die „Odyssee“ von Homer. Ich war gerade in den Endproben für eine Bühnenadaption und Annette erzählte mir begeistert, dass sie gerade die Irrfahrten des Homers vorgelesen habe in Gauting, am Hasenbergl und anderswo. Dann empörte sich Annette – wie nur du, Annette, dich empören kannst – richtig zornig und hämisch lachend, wie unglaublich lächerlich diese leidenden Männer seien, Odysseus, dieser Jammerlappen, ständig müssen Frauen ihn aufpäppeln, er aber steht leidend am Strand. Überhaupt die Männer der Antike: lachhafte Helden! Und die Frauen halten den Spinnern den Rücken frei. Das müsste mal ganz neu erzählt werden, es bräuchte einen  Perspektivwechsel.

 

Ich dachte später, Annette, du müsstest eigentlich die griechische Mythologie aus Sicht von Pallas Athene erzählen. Als kolossalen Spottgesang: Pallas Athene, die Tochter von Zeus, ist die schillerndste Figur im konkurrierenden griechischen Götterhimmel. Schon ihre Zeugung und Geburt war bemerkenswert: Zeus, der Schwerenöter war in die Titanin Metis  verliebt, die sich allerdings nicht von Zeus beschlafen lassen wollte. Metis verwandelte sich in eine Fliege und wollte Zeus entfliehen. Er aber verschluckte sie und Metis wurde in seinem Leib befruchtet.

 

Die schwangere Metisfliege kroch in den Kopf von Zeus. Zeus bekam unerträgliche Kopfschmerzen, er hielt es nicht mehr aus. Was tun? Das Aspirin der Antike war ein gut geschliffenes Beil. Zeus wurde der Kopf gespalten und heraus sprang in voller Rüstung Athene. Eine echte Kopfgeburt. Merkwürdig, Entzückend und klug: Eine aus dem Nichts kommende Stimme mit hoher Intelligenz, ausgefeilter Rhetorik und später wesentlich verantwortlich für die Abschaffung des Racheprinzips zu Gunsten einer anständig gesicherten Rechtsprechung in der „Orestie“.

Das wäre es, Annette Paulmann erzählt die antiken Mythen aus Sicht der Pallas Athene: Paulmann Annette - Pallas Athene! Das passt, Annette Paulmann selbst kam ja auch aus dem Nichts. Plötzlich war sie da! Eine Schauspielerin merkwürdig, entzückend und klug gleich bei ihrem Debüt. Über Dreißig Jahre ist das her! Ich muss kurz ausholen: Damals Mitte der achtziger Jahre, ich war am Anfang meines Studiums,  wurde an meinem Theaterinstitut in Hildesheim viel über neue Theaterformen und Spielweisen diskutiert. Über die Relevanz von Klassikern. Über die Trennung von Text und Bewegung. Über chorisches Theater und mannschaftsdienlichen Individualismus. Das Referenzsystem, das Grundlage unseres Redens wurde, waren der Chor der alten Männer in Peter Steins Orestie-Inszenierung an der Berliner Schaubühne, Ariane Mnouchkines Shakespeare-Zyklus mit dem Théâtre du Soleil und die Arbeiten von Robert Wilson, weltweit. Dazu Heiner Müller, der Apokalyptiker mit Zigarre. Müller und Wilson galten als „state of the art“.


In Hamburg stand im Oktober 1986 die „Hamletmaschine“ von Heiner Müller in einer Inszenierung von Robert Wilson auf dem Spielplan des Thalia Theaters in der Spielstätte TIK (Theater in der Kunsthalle). Nix wie hin. Was ich dann da auf der Bühne sah, war eine szenische Schule des Sehens für mich! Was für ein Theater. Zunächst dachte ich, der Abend sei eigentlich die Übersetzung von Malerei in stumme bewegte Bilder: Eine Frau im Scheinwerferlicht auf einem Drehstuhl. Rückenansicht. Eine andere Frau an einem blätterlosen Baum gelehnt. Und am eindrücklichsten: Drei Frauen an einem langen Tisch. Sie sitzen auf Stühlen, leicht zur Seite gekippt und kratzen synchron mit den Fingern der rechten Hand auf der Tischplatte. Später werden sie bei einem Taktschlag die linke Hand elegant zum Kopf drehen und sich am Scheitel kratzen. Ein Bild das sich einprägt. Das bleibt.

 

Eine dieser drei kratzenden und lächelnden Frauen, auf dem Theaterbild, das sich mir so eingeprägt hat, die ganz links ist Annette Paulmann. Sie sitzt am Tisch, sie kratzt sich am Kopf und lächelt.


Was bedeutet das?
Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte schreibt in der „Kurzen Geschichte des deutschen Theaters“: „Wenn in der Hamletmaschine (Hamburg 1986) eine Frau am Tisch sitzt, sich auf ihrem Kopf kratzt und lächelt, so bedeutet dies nicht, daß eine Rollenfigur - etwa Ophelia - am Tisch sitzt, sich auf ihrem Kopf kratzt und lächelt; es bedeutet lediglich, daß eine Schauspielerin am Tisch sitzt, sich auf ihrem Kopf kratzt und lächelt.“[1]

 

Klingt einfach - ist aber verdammt kompliziert. Wer spielt und was wird repräsentiert? Ist das Schauspiel oder Performance? Damals 1986 war Annette noch Schauspielschülerin. Annette Paulmann aus Ertinghausen. Wo bitte ist Ertinghausen? Wikipedia hilft: „Die kleine Ortschaft Ertinghausen liegt im südlichen Solling an der Sollingbahn, der Kursbuchstrecke 356 zwischen Uslar und Northeim. 30 Kilometer von Göttingen.“


Und unter der Überschrift Persönlichkeiten ist auf Wikipedia zu lesen:
„In Ertinghausen ist die Schauspielerin Annette Paulmann geboren.“[2] Die Eltern betrieben dort, in dem 120-Einwohner-Dorf am Ende einer Sackgasse einen idyllischen Gasthof und eine kleine Landwirtschaft. Der Gasthof hatte eine eigene Postkarte: Pension Paulmann! Es gab legendäre Feiern besonders Himmelfahrt, da haben viele Ehen ihren Anfang gefunden. Wer sein Dorf kennt, kennt die Welt.

 

Annette Paulmann kannte jeden, Erkundungen zur Präzisierung unterschiedlicher Typen für unterschiedlichste Rollenfächer, hier konnte es Annette als Kind ihres Dorfes genau beobachten. Am Northeimer Gymnasium Corvinianum spielte sie in der Theater AG, hauptsächlich, „weil sich dort“ wie Annette einmal in einem Interview sagte, „die Freaks versammelten, die Jungs mit den langen Haaren“.[3] Eigentlich wollte sie Konditorin oder Hotelkauffrau werden, aber der Vater bestand auf dem Abitur. Der Kuchen wurde weiterhin in der Freizeit gebacken. Übrigens einzigartig. Annette ist die beste Köchin und Konditorin der deutschen Schauspielerinnenzunft. Wer jemals von ihr bekocht wurde, möchte bleiben – wie Odysseus bei Kalypso! Zauberhaft!

 

Annette, du mußt die ANTIKE neu erzählen! Nicht vergessen. Die Antike – hat ja ganz unterschiedliche Quellen und Verweise, Variationen wie es den Helden erging und warum?

 

Über dich heißt es, ein Freund hätte dich Unschlüssige überredet, es doch mal mit der Aufnahmeprüfung an der Hamburger Schauspielschule (Hochschule für Musik und Theater) zu probieren. Andere Quellen behaupten: Der Grund war deine Eltern zu ärgern. Sie zu erschrecken. Der Versuch eines Aufstands. Nur reagierten deine Eltern ganz anders und sagten: „ unsere Kinder dürfen den Beruf wählen, den sie wollen.“

 

So hast du zum Klassiker gegriffen, einen Monolog der englischen Königin Elisabeth aus Schillers „Maria Stuart“ auswendig gelernt, bist mit hochgeschlossenen Blümchenkleid und Mutters Lodenmantel in die Aufnahmeprüfung, hast das Schicksal der schottischen Rivalin mit den Worten „ihr Haupt soll fallen“ besiegelt und eine Pantomime aufgeführt: Den imaginären Kopf Maria Stuarts hast du mit großer Geste, der Rivalin vom Rumpf gerissen und zu Boden geschleudert.
Das Theater der Grausamkeit!
Das war eigentlich die kluge und richtige Rückführung Schillers in das Elisabethanische Zeitalter, in die Theatralik Shakespeares.

 

Die Prüfer erkannten allerdings lediglich das komische Talent der Bewerberin aus der Provinz und nahmen dich auf in die merkwürdige Welt der Schauspielausbildung mit Selbsterfahrungs-Kursen, Psychoexerzitien und ständigen Improvisationsübungen. Es war nicht so ganz dein Ding, du mochtest mehr Fechten und Judo, also Rangeln. Fast warst du Heimwehkind schon auf den Weg zurück nach Ertinghausen.
Aber zum Glück gab`s Lück. Deinen Dozenten Heinz Lück, der hat dir am Beispiel der „Jungfrau von Orleans“ deine Kindheit erklärt, und du hast gedacht, „das ist doch aber komisch, Schiller hat gewusst, wie ich aufgewachsen bin.“


Und dann kam dieser Bildertüftler und Lichtvirtuose und Bewegungsartist Robert Wilson aus Texas. Er schloss dich an die „Hamletmaschine“, was enorm inspirierte. „Von ihm hast du alles gelernt“, sagst du, „über Präsenz, über Raum, über Zeit“. Jürgen Flimm holte dich  1987, noch vor deinem  Examen, mit einem festen Vertrag an das Thalia Theater.

 

Annette Paulmann spielte in der Eröffnungsproduktion der neuen Spielzeit in Wilsons „Parzival“ mit dem unglaublichen Christopher Knowles, jenem sonderbaren autistischen Wunderknaben, der in den siebziger Jahren das Wilson-Theater maßgeblich  befruchtete. Wilson traf Knowles 1973. Der 13 jährige Knowles gab Wilson ein Audioband mit dem Titel „Emily likes the TV“, darauf sprach Knowles Phrasen, Wiederholungen und Variationen  über Emily, die den Fernseher beobachtete. Wilson erkannte ein Muster und Rhythmus mit einer windschiefen Logik.  Er traf Knowles und trat  zusammen mit ihm auf. Wilson sagte:
Ladies and Gentlemen!
E E E
EM EE EM
EM EM
ENM ENMN ENMN ENM
EN EN
EML
EM EM EM
EML
EM EM EML EMNI EMNI
EMMLY EMN EM EM EMMLY
EMILY EMILY EMILY EMILY LIKES,
AND EMILY LIKES, AND EMILY LIKES THE TV. BECAUSE
Und der junge Knowles antwortete:
EMILY LIKES THE TV BECAUSE SHE WATCHES IT,
BECAUSE A…, BECAUSE B.
Sie gingen von der Bühne ab. Es gab Applaus.
BECAUSE A…, BECAUSE B.[4]

 

Knowles wurde einer der Protagonisten in Wilsons Inszenierungen – legendär „Einstein on the beach“ (1976), für die Knowles auch Teile des Libretto schrieb. Jetzt spielte er den Parzival am Thalia Theater. Die Aufführung erzählt die Geschichte des Parzival in Bildern, der Text schwebt darüber, es wird nichts illustriert, es sind ganz unterschiedliche Spuren, Tracks. Worte und Textzeichen werden zu Klängen. Der Abend ist wie eine Ballett-Aufführung ohne Spitzenschuh und Trikot, die Schauspieler scheinen leichtfüßig über die Bühne zu schweben, sie vollführen merkwürdige Prozessionen machen mit den Händen schnelle, flatternde Bewegungen genau getimt: Nach einer 1 Stunde und 19  Minuten umkreist eine Frau (Annette Paulmann) Parzival (Christopher Knowles), der flieht. Eine New Yorker Performer und Poet trifft auf die junge Schauspielerin. Annette Paulmann beginnt nun einen Text aus „des Knaben Wunderhorn“ zu sprechen.


Annette Paulmann sagt:

Hink Hink Hink
Hink Hink Hink Hink
Hinkel Hinkel Hinkel
Hink Hink Hink Hink
Hinkel Hinkel
Hinkelchen Hinkelchen Hinkelchen
Hinkelchen Hinkelchen Hinkelchen
MEIN
(…)

Hinkelchen, mein Hinkelchen von Frau Paulmann war legendär.
Einzigartig. Es wurde zur Blaupause für eine Reihe von Texten, die wir Hildesheimer Studenten später selber probierten:

wullubu subudu ullu subudu wullubu  tumbaba  umpf.

Um acht in die Schule, mit vierzehn konfirmiert,
um fünf Feierabend mit sechzig pensioniert, mit siebzig biste tot
es ist endlich soweit und damit liegst du dann noch gut in der Zeit,
gerade noch geschaft, gerade noch geschafft,
gerade gerade gerade noch geschaftt.

 

Du hattest es geschafft. Thalia Schauspielerin!

Nach einigen kleineren Produktionen kam dann Annette Paulmanns erster Auftritt in einer Jürgen Flimm Inszenierung, „Platonow“ (1989), der erste Schritt in die legendäre Truppe der berühmten Thalia Großschauspieler an der Hand von Hans Christian Rudolph, dem Platonow. Du spielst seine Ehefrau Sascha. Du weißt nicht, was tun? Flimm ruft auf der Probe: „Nun koomamal Mädchen!“ Aber du zögerst. Wie spielt man eine Ehefrau? Du kannst doch diesen wildfremden Mann jetzt nicht einfach um den Hals fallen. Da nimmt dich Hans Christian Rudolph an der Hand und gemeinsam kommt ihr auf die Bühne. Er hält in seiner Nähe immer ein Plätzen für dich frei. Er hilft dir – ganz wunderbar.[5] Erst später verstehst du, wie wichtig es auch für die Rolle war. Du beobachtest viel, auf Proben, aus der Seitengasse, beim Spiel. Die Allmähliche Verfertigung deiner Präzision und Schauspielkunst durch das Zusammenspiel mit deinen Kollegen. Im Platonow wird deine Tschechow-Kennerschaft gelegt, die eigentlich schon immer da ist, du kommst schließlich aus Ertinghausen.

 

So richtig ausformuliert, hast  du diese Qualität in „Onkel Wanja“ (1995), eine großartige Flimm-Aufführung mit Ignatz Kirchner, H.C Rudolph, Will Quadflieg und anderen. Ganz anders als Peter Steins legendäre Tschechow-Arbeiten an der Berliner Schaubühne mit den glühenden Seelen, sind diese Arbeiten wie aus Erde geknetet. Du als Sonja bist das, was man dir immer wieder zuschreibt – handfest, direkt, der klare Ton aus dem Bauch heraus und trotzdem so rätselhaft.

 

Das Rätselhafte, wie macht sie das, ist dein großes Geheimnis.


In Hamburg bist du die Schauspielerin der neunziger Jahre. Der Hauptgrund ist natürlich Robert Wilson, dein durchgeknalltes Käthchen im Freischütz-Musical „The Black Rider“ (1990) mit der Musik von Tom Waits. Du bekommst den Boy-Gobert-Preis und wirst Nachwuchsschauspielerin des Jahres.


Der Kritiker Benjamin Henrichs schreibt in der ZEIT:
„Die Sensation (der Aufführung) ist Käthchen, die Braut, die geniale Annette Paulmann. In ihren Grimassen, ihren wilden Schreien, ihren lieblichen Gesängen wird das tolle Musical zu einem wirklichen Märchen. In ihrem Spiel, in dem sich melodramatische Wucht und Mädchenzierlichkeit aufs wundersamste verbinden, in ihren Augen, in denen die Albernheit wohnt, aber auch der Schrecken, sieht man plötzlich die Abgründe am Wegesrand der Geschichte. Einer Geschichte, in der es um Leben und Tod geht, nicht bloß um den schnellen, triumphalen Theatersieg. Einmal singt Käthchen ein Liebeslied („I shoot the moon“). Sie hat Arme und Beine von sich gestreckt, und die Fingerspitzen und die Zehenspitzen tanzen in der Luft. (Und sie) kann schreien, als könnte sie Herzen zerreißen und Berge zersprengen.“[6]

 

Grandios.

 

Später spielst du bei Wilson „Alice“ (1992) eine Lewis-Carroll-Adaption mit Tom Waits Musik und „Time Rocker“ (1996) mit der Musik von Lou Reed. Musicals als Welttheater und weltweit auf Tour. An deiner Seite immer Stefan Kurt, ihr seid das witzige Traumpaar des Theaters. Irgendwann wird das Ganze zu sehr Routine. Die Flimm-Zeit geht in Hamburg zu Ende. Aber die Idee dieses Theaters wird bewundert. In Wien möchte der neue Burgherr Klaus Bachler ein Ensemble und Repertoire bauen wie das Thalia Theater. Du bist dabei. Nach 13 Jahren Hamburg kommst du nach Wien.

 

Ich mache es kurz. Es war Scheiße. Das ist wie mit der Liebe. Nach einer langen Beziehung ist Schluß und die neue Beziehung ist eine Übergangsbeziehung. Man küsst ein bißchen, ein bisschen fummeln, gucken wie es so läuft. Läuft nicht.

 

Und da du keine „Klebearsch-Schauspielerin“ [7] sein willst, wie du sagst, gehst du nach München. Neuanfang! Es ist nicht leicht die alten Qualitäten zurück zu gewinnen. Aber dann beginnt eine Zeit großen Glücks. Du triffst die richtigen Regisseure, die, was dir so wichtig ist, Dich voller Liebe und Vertrauen anschauen. Und du schaust genauso zurück und es gelingt Euch gemeinsam mit Deinen tollen Kolleginnen und Kollegen hier in den Kammerspielen, Theater zum Ereignis zu machen. Du schreibst Theatergeschichte. Es gibt einige Arbeiten, die zum Besten gehören, was man auf deutschsprachigen Bühnen jemals gesehen hat:

 

Deine Erfahrungen mit Wilson, Waits und Wanja, machen dich nun zur Spielmacherin in der grandiosen „Drei Schwestern“-Inszenierung (2006) von Andreas Kriegenburg. „Nach München, nach München“[8] schreibt nach Jahren des Schweigens der Kritiker Michael Merschmeier.

 

Du spielst Olga. Die älteste der drei Schwestern, du durchtanzt den Raum und alle anderen sind sprachlos. Denn der erste Akt gehört in dieser Inszenierung Olga: Sie macht sich die Stimmen der anderen zu eigen, sie geht mit deren Texten fremd, eine kaum zu stoppenden Suada als könne Olga die Gespräche der Vergangenheit aus dem Gedächtnis rezitieren. Und, Annette, du kannst das natürlich. Hast Platonow, Wanja und Drei Schwestern unter Flimm schon gespielt, hast alle Töne und Grimassen parat. Bist eben in voller Rüstung: Pallas Athene!

 

Wie du gemeinsam mit deinen Schwestern, Mascha und Irina, Sylvana Krappatsch und Katharina Schubert, die Männerwelt zu erotischen Verfolgungsoffensiven animierst, wie ihr alle überlebensgroße Puppenköpfe mit traurigen, schmerzgeweiteten Augen aufsetzt, euch zu einer Balkan-Rockband formiert und Tschechows elegische Jammerparade in ein Endzeittraumspiel verwandelt, ist erschütternd wie höchst amüsant zugleich.

 

Es ist ein unglaubliches Vergnügen eine solche  Arbeit  zu sehen und ein noch größeres Vergnügen dabei zu sein.

 

Kafkas Prozess (2008) war meine erste Arbeit als Dramaturg von Andreas Kriegenburg und eine unserer schönsten Arbeiten hier in München überhaupt: Das Bühnenbild alleine war schon die Theaterkarte wert. Kriegenburg hat es selbst entworfen. Ein Blick aus der Vogelperspektive in ein Pensionszimmer – an einer vertikal gekippten Drehbühne, ein Superkarussell, fast schon eine Art Fahrgeschäft für das Münchner Oktoberfest. Gleichzeitig auch eine Art Big-Brother-Auge. Wie bei Kafkas Literatur gibt es auch hier eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten. Geeinigt haben wir uns auf eine: Traumlogik. Dazu schnelle Dialoge und radikales Körpertheater in Slapstickmechanik an der Steilwand: Buster Keaton als in die Welt geworfener Josef K. eine Choreografie des Stolperns und Rutschens, Und ihr Schauspieler: Walter Hess, Sylvana Krappatsch, Lena Lauzemis, Oliver Mallison, Bernd Moss, Katharina Schubert, Edmund Telgenkämper und natürlich Du, Annette Paulmann, ihr wart das K.-Kollektiv: Acht identisch maskierte Köpfe: glatt gescheitelte, Kafka-braune Kurzhaarschnitte über blassen Gesichtern mit schmalen Oberlippenbärtchen. K., die multiple Persönlichkeit, aus der sich alle anderen Figuren im schnellsten Wechsel ergeben. Ein Höhepunkt, (das „Hinkelchen, mein Hinkelchen“ der Münchner Zeit) war dein 20minütiger nicht enden wollender Beratungs-Wortschwall des Malers Titorelli, der K. die unterschiedlichen Möglichkeiten, die K. habe seinen Prozess durch wirkliche Freisprechung, die scheinbare Freisprechung oder die Verschleppung zu Ende zu bringen, scheinbar zu Ende zu bringen oder zu verschleppen. Das dauerte so lange, das die Sätze noch unterwegs waren, mit Einschüben sich widersprachen, sich verschleppten, bis sie sich dann doch einem Satzzeichen näherten einem Komma, um nach weiteren Umdrehungen dann doch zu punkten. Punkt.

 

Die Kritikerin Barbara Burckhardt: schrieb in Theater Heute:
„Wer in den Kammerspielen war, wird den «Prozess» nicht mehr lesen können, ohne sich an das große, kippende Auge zu erinnern, durch das acht K.s stolperten, im freien Fall der Fantasie.“[9]  

 

Ja, Annette was nun? Klar das Lämmchen!

Ganz am Ende der Ära von Frank Baumbauer 2009 wollte Luk Perceval eigentlich das „Käthchen von Heilbronn“ inszenieren, das überließen wir dann doch dem Dieter Dorn auf der anderen Straßenseite und Luk fand seinen Autor: Hans Fallada! Mittlerweile hat er drei Romane für die Bühne adaptiert. Am Anfang stand: „Kleiner Mann – was nun?“

 

Annette Paulmann und Paul Herwig als Lämmchen und Pinneberg berichten von ihrem unaufhaltsamen Abstieg nach der Weltwirtschaftskrise. Sie erzählen alles, solange sie noch erzählen können, denn es ist klar, die Geschichte von Lämmchen und Pinneberg wird irgendwann nicht mehr erzählt werden, sie sind die großen Verlierer, wenn die Nationalsozialisten die Macht ergreifen.

 

Diese Arbeit ist besonders. Sie unterstreicht – wie auch schon Kriegenburgs „Prozeß“ - die künstlerischen Möglichkeiten von einem Ensemble. Man kennt sich gut und kann sofort mit großem Vertrauen in die Arbeit einsteigen und sich um die Rolle kümmern. In einem ihrer seltenen Interviews sagt Annette Paulmann: „Mit Paul (hat sich) ganz schnell die Situation eingestellt: Annette – Lämmchen, Paul – Pinneberg. Das habe ich ganz selten so erlebt“, sagt sie, „einen Kollegen, den ich einfach anfassen, knutschen, umarmen darf, wo man sich gar nicht darüber unterhalten muss, dürfte ich da vielleicht mal ein bisschen oder so ... Er ist so zugewandt und ehrlich, dass es ganz leicht ist, mit ihm zu spielen. Und er ist kein Egozentriker, er begreift den Beruf nicht als Therapie. Das ist ein Geschenk.“[10]

2010 erhielten sie gemeinsam im Rahmen des Berliner Theatertreffens den 3sat-Preis für ihre Darstellung als Lämmchen und Pinneberg und von der  Kritikerjury der Fachzeitschrift Theater heute wurden die beiden zur Schauspielerin und zum Schauspieler des Jahres gewählt.

 

Obwohl der Theaterkönig Frank Baumbauer geht, bleibt das Ensemble der Münchner Kammerspiele zusammen. Johan Simons kommt. Wir haben noch eine Menge zu erzählen. Die Spielweisen werden unterschiedlicher: Ein paar beispielhafte Arbeiten:

Annette Paulmann in Alvis Hermanis „Ruf der Wildnis“, einem ziemlich schrägem Rechercheprojekt  nach Jack Londons Roman. Die Schauspieler erfinden und spielen Figuren auf der Bühne, auf Grundlage von Interviews mit Leuten, die sie in München kennengelernt haben. Annette spielt Elvira, die nach Frühschwangerschaft und gescheiterter Ehe später auch noch ihren Sohn verliert und in der Liebe per Annonce kein neues Glück findet. Sie hat Marienerscheinungen und wie alle anderen Kollegen auf der Bühne einen Hund dabei. Im Fall von Annette ist es ihr eigener Hund Karlotta, den sie seit der Wiener Zeit als treuen Begleiter hat. Zum ersten Mal sind die beiden zusammen auf der Bühne.

In Johan Simons Sarah Kane-Trilogie spielt sie den zynischen Arzt Tinker, der seine Patienten mit Drogen versorgt und dann in sadistischen Experimenten ihre Liebesbereitschaft auf die Probe stellt. Das Ganze als überdrehtes Kindertheater. Sie als rothaarige sommersprossige Lucy aus Charlie Brown. Mal wieder ein Fall für das Theatertreffen.

In Simons Inszenierung von „Dantons Tod“ spielt sie den mächtigen Revolutions-Makler St- Just, der wie eine Inkarnation der Marianne durch die Versammlung schreitet und am liebsten die ganze Menschheit zur Rettung der Revolution aufs Schafott schicken würde, gleichzeitig aber die Menschenrechte verkündet. Eine echte verdrehte Denkbewegung.

 

In Pucher großformatigen Theater-Videowelten spielt sie mit Brigitte Hobmeier und Wiebke Puls „Die Zofen“ in schönster Sado-Maso-Darkroom-Eleganz.

Und natürlich immer wieder die Arbeiten mit Andreas Kriegenburg: ein selbsterfundener tangoinfizierter Liebesreigen „Alles nur der Liebe wegen“ und natürlich in Schillers „Maria Stuart“ als Königin Elisabeth, nicht im hochgeschlossenen Blümchenkleid und Mutters Lodenmantel, sondern mit hohem Ton – den Vers als Form akzeptierend – mit höchster Präzison mit konsequenter Haltung in dem unnachahmlichen Paulmann-Sounding.

 

Es war eine der letzten Arbeiten der Simons-Intendanz. Für viele von uns waren die goldenen Münchner Jahre vorbei. Eine Truppe muss irgendwann weiterziehen oder sich verstreuen. Aber wenn sich viele verstreuen, können auch einige bleiben, weil ein neuer Intendant kommt und wie jetzt hier an den Kammerspielen ein ganz neues aufregendes Theater probiert wird, das viele aufregt, weil sie sich eben aufregen wollen und müssen. Das sind neue Erfahrungen. Und du, Annette, stehst weiter hier auf der Bühne. Verlässlich, loyal und einfach großartig. Natürlich warst du mit der neuen Truppe schon wieder beim Theatertreffen. Wir haben die Arbeit gerade gesehen: „Mittelreich“ und du hast wie der Kritiker Georg Kasch schreibt, „für einen der intensivsten Schauspiel-Momente des Festivals gesorgt. Innerhalb von Sekunden wird aus der tatkräftigen Mutter ein Pflegefall. Wie im Zeitraffer krümmt sich ihr Rücken, verkrampfen sich die Hände, hängt der Kopf schräg herunter. Dennoch strahlt ihre Figur eine Würde aus, ein Leuchten.“[11]

 

Ja Annette, du leuchtest!

Ich freue mich, dich immer mal wieder auf der Bühne zu sehen. Ich bin gerührt und den Tränen nahe, wenn du als Warja in Stemanns „Kirschgarten“ deinen Lopachin verpasst: Wenn du und Peter Brombacher nebeneinanderstehen, dann erzählt dieses Nebeneinanderstehen eine große Theatergeschichte, einen Roman, deine Geschichte mit den vielen Regisseuren und Schauspielern, die dir begegnet sind, die größten waren dabei. Hier eine kleine Auswahl von denen, die ich noch nicht genannt habe: Elisabeth Schwarz, Jörg Holm, Christian Grashof, Alexander Lang,  Katharina Thalbach, Peter Stein, Sven Eric Bechtolf, Peter Simonischek, Jürgen Gosch, Yoshi Oida, Andrea Breth, Dimitier Gottscheff, Jossi Wieler, Stefan Kaegi, Karin Henkel, Sebastian Nübling, David Marton, Wolfgang Pregler, Hans Kremer, Andre Jung, Stefan Bissmeier, Hildegard Schmahl, Gundi Ellert, Benny Claessens, Kristof van Boven, Stefan Hunstein, Thomas Schmauser, Jochen Noch, Steven Scharf, Stefan Merki, deine ganzen neuen Jetzt-Kammerspielerinnen und Kammerspieler und zuletzt einer der allergrößten: Christoph Marthaler. „Tiefer Schweb“ – einfach großartig. Manchmal lohnt es sich, zu bleiben!

 

Liebe Annette, ich gratuliere Dir zum Münchner Theaterpreis 2017 und verneige mich vor Dir, meiner Pallas Athene.

 

[1] Erika Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen und Basel 1993, S.427.

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Ertinghausen

[3] Kunst statt Kuchen: Die Schauspielerin Annette Paulmann avanciert zum Star des Hamburger Thalia Theaters, DER SPIEGEL 25.7.1994

[4] Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.): Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen, Bielefeld 2014, S.23.

[5] Minu Shareghi, Fredi Böhm: Annette Paulmann, Hamburg 1997, S.14 und  S.27-29.

[6] Benjamin Henrichs: Der bunte Reiter. Robert Wilson triumphiert – und verkauft, DIE ZEIT 6.4.1990.

[7] Michael Laages: Die neue Klassengesellschaft? Wo München leuchtet. Theater heute Jahrbuch 2005.

[8] Michael Merschmeier: Strenges Glück. Eine Wiederentdeckung der Zuschaulust – Anmerkungen aus Anlass des Berliner Theatertreffens. Theater heute Mai 2007

[9] Barbara Burckhardt: Bewegungen in Kopf und Darm. Andreas Kriegenburgs «Prozess» – eine Kafka-Aneignung, Theater heute November 2008.

[10] Silvia Stammen: Ein gutes Gefühl. Annette Paulmann und Paul Herwig als Lämmchen und Pinneberg in Luk Percevals Langzeit-Moritat «Kleiner Mann – was nun?» nach Hans Fallada an den Münchner Kammerspielen sind das Paar der Saison. Theater heute Jahrbuch 2010.

[11] Georg Kasch: Meisterin des Unscheinbaren. Schauspielerin Annette Paulmann betätigt sich bei den Autorentheatertagen als Jurorin, BERLINER MORGENPOST 14.06.2017.