Rezensi
onen zu
Hererol
and

Schulbotschafterinnen und Schulbotschafter verfassen regelmäßig Rezensionen

 

 

Was soll man bloß schreiben zu einem Stück, was es geschafft hat einen Tag nach der Premiere nahe zu komplett ausverkauft zu sein?

 

Die Geschichte der deutschen Kolonialisierung des heutigen Namibias. Der Völkermord an den Nama und OvaHerero als performatives Erlebnis. Dieses Kapitel der Geschichte bleibt gerne unterm Teppich und wird auch im Geschichtsunterricht gekonnt vergessen.


Jetzt gibt es auf knapp zwei Stunden Theater den perfekten Crash-Kurs in deutsch-afrikanischer Geschichte. Das Team aus namibianischen und deutschen Schauspieler erzählt in kleinen Abschnitten und an verschiedensten Orten die Geschichte und ihre eigenen Erlebnisse.

Es lässt sich nicht viel dazu sagen, außer, dass es schlichtweg genial ist und gerne auch 4h hätte dauern dürfen. Mein Mitleid gilt denen, die nicht schnell genug gehandelt haben und jetzt kartenlos zu Hause sitzen, während andere dieses Meisterwerk schauen dürfen.

 

Paulo Sieweck, Corvey Gymnasium; Jg 12

 


 

In ihrer Rede zur Eröffnung der Hamburger Lessingtage, brachte die Aktivistin und Frauenrechtlerin Vandana Shiva auf den Punkt, wie die Kolonialpolitik des 19. und 20. Jahrjunderts sich heutzuztage immer noch in Afrika auswirkt: “poverty is not created by nature, but by exploitation.“ Sie stellt fest, dass zeitgenössische Probleme der Migration und Armut sich nur lösen werden, wenn wir einer Politik widersprechen, die die Tradition von Ausbeutung und Sklaverei in Ländern mit ihren Interventionen in Ländern des Globalen Südens fortsetzt.

 

Das Theaterstück Hereroland gründet sich auf ein gemeinsames Konzept des namibischen Regisseurs David Ndjavera seines deutschen Kollegen Gernot Grünewald. Grünewald gilt als ein Vertreter des Dokumentartheaters und die Inszenierung von Hereroland ist einer Geschichtsausstellung tatsächlich sehr ähnlich: In einer Installation sind Szenen einer deutsch - namibischen Siedlung um 1904 aufgebaut, die dem Zuschauer nach einem bestimmten Vorgehen präsentiert werden: Vor Beginn der Vorstellung erhält jeder Zuschauer einen individuellen Wanderplan auf dem die Orte eingetragen sind, an denen die jeweils fünfminütigen Aufführungen stattfinden. Insgesamt gibt es 116 verschiedene Möglichkeiten die Inszenierung zu erleben: An neunzehn Spielstätten präsentieren die Schauspieler eine Vielzahl von Ansichten, Geschichten und Haltungen und überlassen die Sortierung, Einschätzung und Bewertung dem Zuschauer. So verlässt jeder einzelne das Theater am Ende mit einem anderen Eindruck über die Aufführung.

 

Zusammen versuchen die Regisseure ein dunkles Kapitel der Geschichte beider Länder in der Öffentlichkeit zu beleuchten: der erste Völkermord der Geschichte, bei welchem die deutschen Kolonialtruppen 60.000 bis 80.000 Herero und Nama brutal ermordeten. Insgesamt fünf der Schauspieler und -Innen reisten für das Stück direkt aus Namibia an und bringen ihre persönlichen Erfahrungen und ihren Familienhintergrund in die Inszenierung ein. In Namibia sammelte das Team um David Ndjavera zusätzlich weiteres Recherchematerial und auch in Hamburg folgten die Ensemblemitglieder den Spuren der Kolonialvergangenheit. So entstand ein komplexes Gebilde aus Informationsquellen, die in der Inszenierung auf eine performative, sehr anschauliche Weise vermittelt werden: Indem sie in Tänzen, Videos und Schauspiel für die Sinne erlebbar gemacht werden. Die Zuschauer nehmen am Bühnengeschehen Teil, wenn sie z.B. aufgefordert werden in einem Café etwas zu essen, eine VR-Brille aufzusetzen, in ein Sprachrohr zu sprechen, ….

 

Die historischen Ereignisse in Deutsch-Südwestafrika von 1904-1908 und die aktuelle Situation Namibias sind in dem sinnlichen Erleben der Mini-performances vermischt. So erzählt ein namibischer Landwirt, dass sich aktuell mehr als die Hälfte des Landes in privater Hand befindet und den Nachfahren der deutschen Siedler gehört. Der persönliche Bericht aus seiner aktuellen Lebenssituation gleicht das Informationsdefizit vieler Zuschauer aus und ist berührend, weil er deutlich macht, wie die Folgen der Kolonialisierung sich heute auf die Leben junger Afrikaner*innen auswirkt.

 

Zum Beispiel erfährt der Zuschauer, dass die Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert Verträge mit Namibia abschlossen, unter denen das Herero- und Namavolk den größten Teil ihres Weidelandes verlor. Auch, dass die Viehzucht der namibischen Bevölkerung seit jeher als grundlegende Quelle der Versorgung dient. Heute nun sei die Viehhaltung längst keine lukrative Tätigkeit mehr, sie reiche nicht einmal aus, um die eigene Versorgung sicherzustellen und generiere erst recht kein ausreichendes Einkommen: Nach Jahrzehnten der Ausbeutung, Überweidung und dem Import von Pestiziden und genmanipuliertem Saatgut ist der Boden in Namibia heute unfruchtbar. Diese Informationen machen deutlich, wie die koloniale Eigentumsverteilung die Einwohner Namibias noch heute in die Armut zwingt.

 

Es ist frustrierend, dass die Beziehung Deutschlands zu den Ländern des Globalen Südens immer noch ausschließlich in einem kapitalistischen Eigeninteresse besteht, mit dem die Ausbeutung in diesen Ländern fortgesetzt wird. Unser gegenwärtiges Bemühen sollte sich darauf richten, lokale Strukturen zu fördern und eine stabile und nachhaltige Wirtschaftsbeziehung mit Afrika langfristig zu ermöglichen. Die Inszenierung übermittelt viele, unterschiedliche Informationen auf recht geballte Art und wirkt zunächst teilweise auch überfordernd, gibt aber den Anlass sich weiter mit den brisanten Themen auseinanderzusetzen. Die koloniale Vergangenheit muss diskutiert werden, damit eine positive Beziehung zwischen beiden Ländern und Kulturen entstehen kann und ein Umdenken möglich wird.

 

Insbesondere zu dem gemeinsamen Diskurs auf persönlicher Ebene ruft die Inszenierung die Zuschauer auf: Zum Ende erhält das Publikum die Möglichkeit, dem Ensemble Fragen zu stellen und sich mit den Schauspielern in Kleingruppen über das Stück zu unterhalten. Es wird nach den Möglichkeiten „einer gemeinsamen Zukunft“ gefragt und danach, ob es zukünftig eine Beziehung zwischen Afrika und Deutschland geben wird, die sich in einem gemeinsamen Interesse verwirklicht.

 

Zunächst ist dafür noch ein intensiver Dialog über die Vergangenheit notwendig. Denn die deutsche Regierung erkannte die Verbrechen im Jahr 2016 zwar als Völkermord an, erklärte sich bisher aber weder zu einer offiziellen Entschuldigung noch zu den Entschädigungszahlungen bereit. Es ist an uns, den Dialog zu fordern und zu aktiv selbst suchen, damit sich das Verhältnis beider Länder langfristig bessern kann. Mit der Inszenierung von Hereroland am Thalia Theater ist dafür vielleicht der Grundstein gelegt worden, zumindest ist der Gesprächsbedarf enorm und der Diskurs bereits entfacht.

 

Die Lessingtage am Thalia Theater eröffnen vielfach Räume um sich interkulturell und international über die Frage auszutauschen, in was für einer Welt wir leben wollen und was es aktuell zu bewirken gilt, um diese Utopie gemeinsam zu verwirklichen. Die Inszenierung von Hereroland kann als ein Versuch der geschichtlichen Aufklärung gesehen werden; der Aussprache beider Völker und als ein Anlass, um die gegenwärtige Beziehung beider Länder im Positiven zu entwickeln. Dabei hat das Stück an keiner Stelle etwas Anklagendes, sondern benennt mutig die sensiblen Themen und lädt die Zuschauer ganz persönlich dazu ein, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. In diesem Sinne ist Hereroland ein gelungenes und sehr sehenswertes Theaterstück!


Reflektion über Hereroland im Rahmen der Lessingtage am Thalia Theater von Ira Wichert, Schülerbotschafterin des Helene Lange Gymnasiums in Hamburg