Heilung und Zers
törung – Theater und G
esellschaft

Joachim Lux aus Anlass des Boy Gobert Preis an Merlin Sandmeyer, 2019

 

Herzlich willkommen zur alljährlichen Verleihung des Boy Gobert-Preises!


Zwei Lieder werden hier in der Regel gesungen: das eine ist das Lob der Jugend und also der Zukunft. Ja! An die Zukunft zu glauben, ist in Zeiten, wo ein gewisser Katastrophismus herrscht, keine Kleinigkeit. Das zweite Lied heißt: Lob auf das Theater. Gesungen wird es von Fans und Enthusiasten – ein legitimer Akt der Selbstbestätigung derer also, die sowieso geneigt sind – wie Sie, unser Publikum, das sich vollkommen freiwillig in Theater begibt, schlicht, weil es sich sinnvoll anfühlt.

 

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Kultursenator, lieber Carsten Brosda, sehr geehrter Lothar Dittmer, liebe Stephanie Lubbe, für die Körber-Stiftung, lieber Burghart Klaußner für die Jury, lieber Matthias Günther als Laudator, lieber Merlin Sandmeyer,

 

warum fühlt sich Theater sinnvoll an? Gefühle können auch falsch sein. Je mehr wir in einer Welt leben, in der Fakten vernebelt werden, verspüre ich den Drang, die Naturwissenschaften zu befragen – eine Disziplin also, die wenig an vorgefasster Meinung interessiert ist, umso mehr aber an Forschung und Tatsachen. Deshalb werden Sie bei den Lessingtagen auf die indische Physikerin Vandana Shiva oder den Archäogenetiker und Direktor des Max Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte Johannes Krause stoßen. Was also sagt die Naturwissenschaft über das Theater? Was kann es? Kann Theater, kann Kunst, kann Spiel tatsächlich Erhebliches? Nur weil Aristoteles vor 3500 Jahren davon überzeugt war, muss das ja nicht stimmen! Wen könnte man heute dazu befragen? Beim Nachdenken fiel mir der Vortrag eines Arztes wieder ein. Er heißt Professor Michael Schulte-Markwort und ist ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am UKE. Vor einigen Jahren hat er behauptet: „Theater macht gesund. Und Theater hält gesund.“ Das fand ich erstaunlich, oder sogar kühn. Seine Beschreibung des strukturellen Wirkungsmechanismus des Theaters geht so: „Psychische Verarbeitung hat“, so der Arzt, „sehr viel mit Wiederholung zu tun. ‚Sag nochmal, wie das war, als das Kind im Kindergarten geweint hat‘ – Durch die wiederholte Erzählung gibt es die Chance, das Erlebte anders zu verarbeiten. Das ist ein zentraler Grund, sich Geschichten nochmal zu erzählen, anzusehen oder vorzuspielen.“ Wobei: es gehe nicht darum, dass die Probleme dieser Geschichten z.B. auf der Bühne gelöst werden müssen. Nein, es gehe um die Wiederholung. Deshalb – so der Arzt – „verbrauchen sich auch die großen klassischen Texte nicht, denn in ihnen werden große archetypische Menschheitsbegebenheiten wieder und wieder und noch einmal erzählt.“ Ich fragte skeptisch: „aber gilt das nicht für alle Erzählungen vom Nachbarschaftstratsch bis zum Film?“ Schulte-Markwort: „Nein, es ist ein großer Qualitätsunterschied, wenn man nur liest oder redet anstatt die Geschichte durch einen Stellvertreter spielen zu lassen. Das nennt man Externalisierung. Diese Externalisierung steigert die heilende Wirkung erheblich. Eine weitere Steigerung erfährt sie durch die Aufteilung auf mehrere Spieler, also durch das Drama. Das Liveerlebnis, das Haptik und Sensorik bedient, ist und bleibt – am besten in der Form von Drama und Theaterspiel – das Medium mit der höchsten Wirkung. Theater macht gesund. Und es hält gesund“.

 

Wenn Theater gesund hält oder macht, gibt es eigentlich keinen glücklicheren Beruf als den des Schauspielers! Denn er ist offenbar ein Agent der Heilung, der Aufhebung von Zerstörungen unterschiedlichster Art. Er agiert stellvertretend Konflikte und Rollen aus, und ist natürlich weder als Medizinmann noch als Wunderheiler unterwegs. Er will vor allem spielen, weswegen sich seine Wirkung idealerweise gewissermaßen ohne Absicht einstellt. Der Rest bleibt sein Geheimnis. Denn, sehr geehrte Damen und Herren: er ist nicht auserklärbar, er ist ein Künstler. Genauso wenig wie er sich selbst komplett auserklären kann, kann er, jedenfalls wenn er gut ist, den Menschen, die Figur, die er spielt, auserklären. Er bleibt ihr bestenfalls auf der Spur.

 

Wenn das Theater also tatsächlich etwas zur Heilung beitragen kann, wie der Arzt sagt, dann meint er ja das Publikum, die Gemeinschaft, uns, die wir uns hier versammeln! Offenbar führt der Umstand, dass man im Theater in einer Gemeinschaft vieler Unterschiedlicher auf der dennoch existierenden Basis von etwas Gemeinsamem individuelle wie auch gesellschaftliche Prozesse nachstellt und also tatsächlich live etwas zusammen erlebt, zu einem Akt der Heilung. Das ist in einer Gesellschaft, in der wir es derzeit auf allen Ebenen mit unglaublichen Zerstörungen zu tun haben, wirklich interessant. Es gibt offenbar tatsächlich die Möglichkeit, ein gemeinsames „Wir“ gegen Singularitäten, Segregation und Extravaganzen verschiedenster Art in Stellung zu bringen. Das Theater ist also eine erfolgreiche Übung in Konfliktfähigkeit und Konfliktbewältigung und schafft damit eine zentrale Voraussetzung für auch gesellschaftlich tragfähige Lösungen.
Es gibt also tatsächlich gute, weil medizinische Gründe, optimistisch das Theater zu feiern und an seine Zukunft zu glauben.

 

Es kommt aber noch etwas anderes dazu, wovon wenigstens kurz die Rede sein muss. Theater und Kunst im Allgemeinen ist nicht nur Mimesis des Wirklichen, sondern es repräsentiert zugleich eine andere Welt, ja eine Gegenwelt. Gegenwelt zu was? Versammlungen der Zivilgesellschaft wie heute sind auch ein leiser Aufstand von Qualität und Niveau, von Kunst und Kultur gegen einen Boulevard aus Niedertracht, Verblödung und Skrupellosigkeit, der viele von uns tagtäglich von Neuem anwidert. Man hat seit geraumer Zeit den Eindruck, dass wir Opfer einer strategisch bewusst herbeigeführten Erosion sind. Ihre zentrale Waffe ist die permanente Niveauunterschreitung. Sie schreddert sämtliche ästhetischen, ethischen und politischen Kategorien und gibt sie zum Abschuss frei. Durchgesetzt wird in dieser, ja ich wähle diesen Begriff, Kulturrevolution, die nicht nur eine Revolution der Kultur ist, sondern weit über diese hinausgeht, der Primitivismus des vermeintlich Populären – ich erinnere nur an das halbnackte Rambo-Popstar-Posing der Präsidenten der beiden zentralen Weltmächte.
Unter diesen und anderen Einflüssen sind viele Gemeinschaften und Organisationen, Parteien, Staaten und Demokratien, auf dem besten Wege, sich selbst von innen zu zerstören und zu zerlegen.

 

Mehr Befund braucht man nicht, um zu begreifen, dass Kultur und Kunst unverzichtbar sind.

 

Wie sieht es mit dieser Gegenwelt der kultur eigentlich in Hamburg aus? Da es sonst niemand tut, sage ich es: Gut! Ich bin dankbar dafür, dass ich in Hamburg einen Pianisten wie Igor Levitt hören kann, ich bin dankbar dafür, dass ich dabei sein kann, wenn Kurentzis in der Elbphilharmonie Beethoven dirigiert, ich freue mich, dass Kampnagel jetzt saniert werden wird, dass es mit dem Schauspielhaus und dem Thalia zwei Häuser auf Augenhöhe gibt, ich bin dankbar für großartige Ausstellungen wie derzeit im Bucerius Kunstforum, ich bin dankbar für politisch engagiertes Theater wie zum Beispiel bei der gestrigen Premiere von Wajdi Mouawads „Vögel“, und ich freue mich natürlich, dass heute vor vollbesetztem Haus ein junger Schauspieler des Thalia geehrt wird.
Das ist alles sehr erfreulich, und ich hoffe, dass die Kulturpolitik über die Wahl hinaus so bleibt!

Kennen Sie die Parole „Welt, bleib wach“? Mir gefällt sie gut. Ausgerufen hat sie die vor 100 Jahren hier im Haus entstandene Thalia Buchhandlung anlässlich ihres Jubiläums. Sie appelliert an das große Ganze, nämlich an die Welt, an uns, die wir sie gemeinsam beleben. Die Parole behauptet, dass „Wachheit“ dann eintritt, wenn man die Kulturtechniken nutzen, die wir haben. Dazu gehört das Lesen eines Buches ebenso wie Musik, wie Tanz oder eben Theater.

 

Das Theater kann als gemeinschaftsstiftender Ort gegen Zerstörung anschreien, mal laut, mal leise. „Heilen“ kann es sie, bei allem Respekt, natürlich nicht. Das wäre eine Überforderung. Aber es kann uns ermutigen etwas zu tun. Die Rolle des Arztes am Gesellschaftskörper müssen wir schon selbst übernehmen. Tun wir aber nicht. Oder jedenfalls eindeutig zu wenig.

 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, wünsche Ihnen viel „Gesundheit“ und „Wachheit“ in der Gegenwelt des Theaters und Merlin Sandmeyer, dass er den heutigen Tag genießen kann!