Wut au
f Wutbürger

Theater heute. Jahrbuch 2011

 

Ich würde erstmal kühn behaupten, dass es mich als Wutbürger gar nicht gibt. Außer natürlich bei himmelschreienden Ungerechtigkeiten und Urbösem (Bankenskandale, Korruption, Atomproblematik, Dritte Welt und ein paar weiteren, insgesamt mindestens sieben Todsünden). Eine dieser sieben Todsünden sind die seit längerem grassierenden Zerr- und Zerfallsformen von Öffentlichkeit, Basisdemokratie und Partizipation.

 

Wut auf den Wutbürger – jawohl, da könnte ich mich richtig reinsteigern, und wie ein echter Wutbürger finden, dass ich Recht habe, weil ich endlich mal so richtig echt wütend bin und ein echtechtes Gefühl in meiner ansonsten affirmativ weichgespülten Seele entdecke. Ja, ich habe richtige Wut auf die Wutbürger, und wäre ach so gern selber einer! Ist ja toll, wie wütend Heinz und Carla sein können! Die ketten sich sogar an einen Baum! Die haben Charakter! Und kriegen dann auch noch den französisch-surrealistischen Authentizitätsorden verliehen. Authentizität ist immer gut und schafft es mühelos, Argumente zu ersetzen. Mit Formen von bürgerlich-politischem Protest aber hat das nicht unbedingt viel zu tun. Der Wutbürger wählt stimmviehmäßig jahrzehntelang Stuttgart 21 und ist jetzt irgendwie doch mal dagegen. Schade, dass schon Milliarden unwütend gezahlter WutSteuerBürgerGelder ausgegeben sind. In anderen Fällen ist es ähnlich, nur die politische couleur wechselt: Bürgerbegehren gegen eine Schulreform, die die Bürger total unwütend gewählt haben - Millionen in die Planung investieren und anschließend in die Revision der Entscheidung…

 

Wut außerdem auf neue Arten der Öffentlichkeit: auf die Wutbürgerblogs im Internet. Man kann überall anonym bloggen, schmähen, beleidigen, Ungeprüftes in die Welt setzen, Karrieren beschädigen oder fördern, ohne auch nur den Hauch einer Verantwortung zu übernehmen. Allüberall virtuelle Marktplätze mit unsäglichem Geschnatter und Getwitter. Dann natürlich Wikileaks „Aufklärung“ im Dienste von „Wahrheit“  und „Freiheit“: Alle Informationen für alle – weg mit dem Schutz, weg mit Persönlichkeitsrechten, weg mit Vertraulichkeit und Diplomatie!

 

Wütend machen mich schließlich auch die neuen öffentlichen Hinrichtungsformen auf Plagiatsportalen. Wie im Mittelalter können wir alle mitverfolgen, wie sich die Schlinge um irgendeinen Delinquenten täglich mehr zuzieht, weil private Hilfssheriffs durch die Vorgärten spazieren, schnüffeln, bis die Wünschelrute anschlägt und dann den bösen Bürger auf dem Marktplatz im Kreis rumführen, bis er zitternd zusammenbricht und gesteht. Foucault hat in „Verbrechen und Strafe“ viel über den Pranger geschrieben, allerdings für die Zeit der Vormoderne.

 

Wie wäre es, all diese Formen pervertierter Öffentlichkeit mal eine zeitlang mit Gefängnis und Wassersuppe zu bestrafen? Das könnte ähnlich heilsam sein wie ein autofreier Sonntag.

 

An diesem autofreien Gefängnis- und Wassersuppensonntag würden sich Bürger und Politiker mal total unwütend dreierlei fragen, erstens: sind diese neuen Formen urböse (vermutlich nicht, nur eine Technik wie viele, man muß nur fragen, zu welchem Zweck man sie nutzt) zweitens: wie kann man die neuen Formen der Öffentlichkeit so gestalten, dass sie sinnvoll sind? Momentan finden sie in einem Zwischenraum zwischen Rebellion und Herrschaft statt. So wie die von Herfried Münkler analysierten „neuen“ Kriege: Sie sind im supranationalen Raum, haben den Gestus von Guerilla, sind es aber nicht, sondern werden von privaten warlords organisiert. Ähnlich bei den neuen Formen von Öffentlichkeit: sie tun so, als seien sie hippe Guerilla-Öffentlichkeit, sind es aber nicht. Private Warlords auch hier. Drittens: In der gegenwärtigen Öffentlichkeit läuft ganz offenbar so Grundsätzliches falsch, dass es tatsächlich dieser Formen bedarf, um Missstände aufzudecken.  

 

Und schon sind wir beim ganz gelassenen Nachdenken, nichts mehr mit Wut, außer auf die begriffslose Begriffslust des Feuilletons, das solche sprachlichen Nebelbomben wie den „Wutbürger“ kreiert und irgendeinem Authentizitätsterror Vorschub leistet.

 

Letztendlich geht’s wie immer um Macht und Ideologie. Wut zu welchem Zweck? Natürlich ist jedermann froh, dass man in Ägypten eine Revolution gegen das korrupte Mubarak-Regime lostreten konnte – klar.

Aber wer ist der Wutbürger? Ist er der romantische Kleinbürger des Marxismus? Der Bourgeois? Der Citoyen? Das revolutionäre Subjekt? Der Mob? Die Masse? Vollstrecker des gerechten Volkszorns? Taugen Plebiszit und Basisdemokratie als Allheilmittel gegen eine abstrakte Demokratie? Sind Volksbegehren nicht oft nur Lobbyismus von Spezialgemeinschaften? – Die Masse hat immer einen Hang zu Affirmation und Opportunismus, auch wenn er als Protest daherkommt. Protest zum Beispiel auch gegen Theatersubventionen und die politische Instrumentalisierung der Bürger qua Beteiligung (siehe Basel und Bonn). Dem Theater wird es sicher nichts nutzen als Konjunkturritter des Wutbürgers empfundenen Bedeutungsverlusten entgegenzusteuern. Aber: es hat ein ähnliches Problem wie unser System: es ist oft zu abstrakt, um wirklich an den Leuten dranzusein, genauer: nicht nur an den Leuten, sondern auch an ihrer Wut.

 

Hier beißt sich die Katze argumentativ in den Schwanz und es könnte interessant werden. Ende des autofreien Gefängns- und Wassersuppensonntag….und wir arbeiten an der Herausarbeitung des Unterschieds zwischen dem „guten“ Bürgerprotest und einer angeschickten Internetmasse, die nicht nur deswegen gut ist, weil es sie nun mal gibt…

 


Joachim Lux