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eschäftigung mit e
iner kosmopolitis
chen Kultur

„Theater und Universität im Gespräch“: Symposium XI

Was Lessing gesucht hat, ist uns in vielem abhanden gekommen. Denn er suchte in seinen wenigen Hamburger Jahren ästhetische und inhaltliche Kategorien dafür, was Theater überhaupt sein könnte, glaubte noch an diese Möglichkeit. Heute dagegen befinden wir uns - nicht nur in der veröffentlichten Meinung der Kritiker - meist im Bereich des Geschmacks, auch des Geschmäcklerischen, des rein Subjektiven, weil uns diese axiomatischen Kategorien abhanden gekommen sind. Gerade heute, wo viele neue Formen von Öffentlichkeit entstehen ( Internetforen etc.) ist es gewinnbringend, sich mit einem Autor zu beschäftigen, der selbst eine neue Form der Öffentlichkeit begründete, nämlich das Deutsche Nationaltheater in Hamburg, und überdies Kriterien für das ästhetische Gelingen erarbeitete, indem er in seiner Hamburgischen Dramaturgie Kritiken über eben diese Aufführungen veröffentlichte – im übrigen meist vernichtende. In nuce hat er vor über zweihundert Jahren jene diskursive Öffentlichkeit vorweggenommen, die wir seit einigen Jahren dank des Internets haben. Der Unterschied zu heute ist gleichwohl gravierend, denn er hat für sich in Anspruch genommen, das Diskursive und das Normative miteinander verbinden zu können! Geht das heute noch? Am Thalia Theater bemühen wir uns mit bescheidenen Mitteln um eine ähnliche Form von Öffentlichkeit und haben in unserem Internetforum eine Art Hamburgische Dramaturgie eingeführt. Dort laden wir Menschen ein, zu unseren Aufführungen zu schreiben, ihre Meinungen und Haltungen zu begründen. Grundregel: Wir veröffentlichen alles, unabhängig davon, ob es positiv oder negativ ausfällt.

 

Trotz aller normativen Bemühungen war Lessing ein Autor dezidierter Zeitgenossenschaft – beinahe in jedem seiner Stücke. Nehmen Sie als Beispiel sein Lustspiel Minna von Barnhelm. Es amüsiert sich über die Ehrpusseligkeit eines preußischen Offiziers – geschrieben in einem Land, das gerade einen siebenjährigen Krieg hinter sich hatte! Man stelle sich vergleichbares in unserem Kontext, etwa nach dem Zweiten Weltkrieg vor – und schon begreift man die beinahe brutale Ungeheuerlichkeit. Ähnliches gilt übrigens für das bürgerliche Trauerspiel Emilia Galotti, in dem Figuren einer neuen sozialen Schicht auf die Bühne kommen, einer Schicht, die bis dahin noch nie auf der Bühne gestanden hat, einer Schicht, welche der bisherigen Herrschaftsschicht die Deutungshoheit raubt und sie anklagt. Lessing gibt ihr, dem Bürgertum, ein Forum, sich zu artikulieren. Die Frage ist, wer diese Schicht heute darstellen würde: Wer sind wir innerhalb dieser Konstellation von Emilia Galotti? Sind wir nicht vielleicht selbst eher die ›Marinellis› und ›Prinzen‹ denn das Bürgertum? Denn auch wenn wir uns heute als Bürgerliche verstehen, so meinte dies damals etwas anderes. Man kommt überall in Lessings Werk schnell zum Konkreten…


Dies gilt in besonderer Weise auch für Lessings Nathan der Weise – seine vielleicht größte Zumutung, jedenfalls für das Theater. Denn das Stück gilt heute gemeinhin als völlig aus der Zeit gefallen. Ja, es gilt vielen in der Theaterszene geadezu als Paradebeispiel dafür, wie langweilig, unmodern, unsexy, uncool, verkopft oder irgendwie blutleer Lessing ist – das heißt nicht wert, sich mit ihm zu beschäftigen. Dies lässt sich auch an den Aufführungsstatistiken insbesondere von Nathan der Weise ersehen. Gerade bei diesem Stück sagt jeder heutige Regisseur, der einigermaßen bei Sinnen ist, dass das vielleicht als Lesedrama funktioniere, aber als aufgeführtes Stück nicht. Denn was ist dieses Stück, bitteschön? Im Grunde doch nur ein mehr oder weniger konfliktfreies Weihnachtsmärchen, eine Art ›Erbauungsliteratur‹ für eine holocaustgeschädigte Nation. Theater lebe von Konflikten, die das Stück überhaupt nicht bieten könne – so das Gros der Kritik. Dennoch enthält es für mich eine extrem innovative Kraft, wenn nicht sogar eine revolutionäre. Daher habe ich Nicolas Stemann vorgeschlagen, das Stück zu inszenieren.

 

Vielleicht ist das Stück erst heute, wo es sich langsam aus der Kontextualisierung zum Holocaust lösen kann, wieder lesbar und auch spielbar. Denn es stellt Fragen, die wir nicht mehr so schnell loswerden. Diese Fragen haben, meiner Meinung nach, mit einer ganz eklatanten Aufgabe des 21. Jahrhunderts zu tun: der Beschäftigung mit einer kosmopolitischen Kultur. Dies ist nach dem 19. Jahrhundert, welches das Jahrhundert der Nationalstaatsbildung war, und nach dem 20. Jahrhundert, in dem die Ideologiebildungen stattgefunden haben, die offenkundig neue historische Aufgabe. Diese Aufgabe steht im Zentrum und aus der Perspektive der deutschen Literatur gibt es hierfür keine vergleichbaren Texte zu Lessings Nathan der Weise.

Aber der Teufel steckt im Detail – es entstehen für uns weitere wichtige Fragen im Zusammenhang mit einer kosmopolitischen Gesellschaft: Wie kann ich meine eigenen Werte behaupten ohne die der Anderen dadurch abzuqualifizieren? Was ist eigentlich die Philosophie der Ringparabel? Bedeutet sie ethischen oder religiösen Relativismus? Oder ist es doch möglich seine eigene Positionen beizubehalten, ohne die der Anderen zu mindern? Was bedeutet dieser Begriff ›Toleranz‹ und wie kann man ihn inhaltlich füllen? Ich weiß nicht, wie es in der Wissenschaft ist, aber es gibt jedenfalls im Alltagsleben Überlegungen, ob wir nicht eine zweite Aufklärung brauchen. Es gibt Überlegungen, ob uns nicht durch die multikulturellen Bewegungen letztlich eine große Bereicherung zuwächst. Das bedeutet, dass wir anfangen müssen uns über Kategorien, die wir längst verloren hatten, wieder Rechenschaft ablegen müssen. Vielleicht ist diese Entwicklung in Wahrheit der Befreiungsschlag, der uns selbst neue Perspektiven und Möglichkeiten gibt, um aus unserer – wie Pasolini es nennt – »kapitalistisch-konsumistischen« Kultur herauszukommen. Darauf gibt es einige, aktuelle Hinweise: Hier sei nur an ein Symposium in New York erinnert, bei dem sich Jürgen Habermas die Frage gestellt hat, wie die interessanten religiösen Faktoren, die allüberall immer noch eine Rolle spielen, in das dominierende Säkulare hineingerettet werden können, ohne dabei in konservative Positionen zurückzufallen. Er macht einen Spagat zwischen der Tradition und der Welt, in der wir heute leben – genau wie Lessing es seinerzeit mit seinem dramatischen Gedicht Nathan der Weise getan hat. Lessing hat mit seiner Ringparabel wie auch mit der Familienstruktur des Stückes, wo am Schluß – alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit sprengend - jeder mit jedem verwandt ist, auf das Gemeinsame gesetzt. Und zwar, nachdem man ihn in Hamburg wegen eines Disputs über religiöse Fragen faktisch mit einem Berufsverbot belegt hatte!

 

Abschließen möchte ich daher mit einem Satz Lessings, der zum Theater im allgemeinen und zu diesem Symposium gleichermaßen wunderbar passt. Es ist ein Satz, der auf die Gemeinschaft setzt, die zusammen etwas erfährt und erlebt. Dieser Satz lautet: »Es ist so traurig, sich allein zu freuen.« In diesem Sinne wünsche ich uns allen viel Vergnügen.

 

(Symposium der Universität Hamburg zu Nicolas Stemanns Inszenierung von Lessings „Nathan“, 2009)


Joachim Lux