Rezensi
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dritte r
epublik

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Zu Beginn des Theaterstücks von Thomas Köck Dritte-Republik-eine Vermessung, wandern eine Landvermesserin und ein Kutscher (Björn Meyer) durch einen dichten Schneesturm in einer menschenfeindlichen, bewaldeten Landschaft. Das ungleiche Gespann mutet seltsam absurd an, wie es eine Windmaschine neben sich herziehend die Bühne mehrfach abschreitet und dabei in voller Länge durchkreuzt. Die Handlung spielt im Europa der Nachkriegszeit in dem die Staatengrenzen neu vermessen werden sollen: Eine unlösbare Aufgabe, mit der die schmale Landvermesserin (Barbara Nüsse), im Auftrag der Regierung loszieht. Ihr Unterfangen scheitert demzufolge schon zu Beginn der Reise: In einem dichten Schneetreiben verliert sie den Weg und ihre, in einem Anfangsmonolog mit großer Ernsthaftigkeit vorgetragene, Absichten, Europa an den Grenzen zu determinieren.
Ebenso wie die Definition von einem Europa nicht auffindbar scheint, liegt auch die Zukunft Europas im Ungewissen, wird aber, in dem dichten, dystopischen Dunstnebel, nur umso verzweifelter gesucht. Dabei trifft die zynisch deklamierende Landvermesserin zunächst auf einen korpulenten Kutscher, dann auf einen blinden, in seinen Todessehnsüchten hängenden Fallschirmspringer (Victoria Trautmannsdorf) und im weiteren Verlauf des Stücks, auf den Patienten eines Sanatoriums (Bekim Latifi), einen Reederdirektor (Tilo Werner) mitsamt seinem Zwilling, sowie einen Chor grausamer Gehilfinnen. Jede einzelne Figur ist mit viel klugem Witz und Sinn für künstlerische Kreativität charakterisiert. Besonders gut gefallen hat mir etwa die Maske des Zwillingspaars mit Tilo Werner in der Rolle des Reederdirektors. Die Darsteller spielen ihre Rollen allesamt fantastisch, vor allem Barbara Nüsse verleiht dem intelligenten theatralen Text in ihren Monologen mit einer passenden Ernsthaftigkeit die angemessene Dramatik. Dafür sorgt auch das ständige Bewegung im Bühnenbild und die Tatsache, dass die Figuren zum Teil immer wieder dieselbe Handlung ausführen und darin wie in einer Zeitschleife gefangen wirken.
Für die Inszenierung hat dies allerdings auch einen Nachteil: Das anfänglich Chronologische der Handlung geht in übertriebenen Assoziationsmontagen der Bilder des Bühnenbilds verloren. Die Ausdruckskraft der poetischen Texte hätte nicht unbedingt durch musical-gleiche Performanceelemente mit dem Grauen bereitenden Gesang („Sag mir, wo die Blumen sind“) vermischt und dadurch übersteuert werden müssen. Dass die Inszenierung mitsamt der Protagonisten in einer Zeitschleife gefangen wirken, ist bereits ausreichend dynamisch und so absurd komisch wie stimmig: Unmöglich scheint es, Europa (das gegenwärtige, vergangene, wie zukünftige) an seinen Grenzen zu bestimmen. Den Figuren liegt aber umso stärker daran, ein Existieren dieses Europas unbedingt für sich nachzuweisen- und je bestimmter sie suchen, desto identitärer werden sie, drehen sich immer mehr um sich selbst und verlieren dabei die Sicht, die Sinne, den Weg und ihre persönliche Wahrheit. Auf eine urkomische, tragische Odyssee begeben sich, mit der Landvermesserin beginnend (die als eine Anlehnung an den Landvermesser K. aus Kafkas Werk „Das Schloss“ zu verstehen ist), alle fünf Charaktere und zeichnen darin ein typisches Portrait dieser Generation. Unter der Regie von Elsa-Sophie Jach und Thomas Köck verbindet die Inszenierung hierbei auf spannende Weise das Europa der Gegenwart und die Frage nach einer möglichen Zukunft jenseits von Nationalismus und Neoliberalismus mit dem politischen Hintergrund der 20er/30er Jahre in Deutschland. Diese Verknüpfung gelingt über zahlreiche, spartenübergreifende Textverweise zu Künstlern wie Franz Kafka, Jim Jarmusch, und Sergei Rachmaninow. Leider werden allerdings nicht immer all diese Verweise sichtbar. Ich hätte es daher vorgezogen, die Handlung und den Inhalt des Stückes in einer längeren Inszenierung intensiver zu erleben, anstatt von der gewollten Eindringlichkeit der vielfältigen, expressiven Bilder übermannt zu werden. Auf jeden Fall aber hat mich dieses Stück aufgewühlt und zum Nach- und Weiterdenken, allein und gemeinsam mit anderen, angeregt. Im heutigen Sturm der Nachrichten und Antworten auf die Frage, in welche Zukunft wir unser Europa entwerfen, ist dieses Stück ein anregender, bedeutender, und auf jeden Fall einen sehenswerter Beitrag!
Ira Wichert, Helene Lange Gymnasium, Jg 12