DISSOZIATIO
N UND IDENTIT
ÄT - Teil 2

Vortrag im Rahmen der 15. Langeooger Woche der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie „Dissoziation und Gegenwart“, 2017

 

Die Gesellschaften und ihre Vordenker aus allen Disziplinen begannen unmittelbar, die neuen Phänomene zu untersuchen, zu beschreiben und auch zu bewerten. Ein Philosoph wie Paul Virilio beschäftigte sich – ausgehend vom militärischen Komplex, fortan mit Dromologie, der Lehre von der Geschwindigkeit, während sein Gegenspieler, der Modephilosoph Jean Baudrillard die Melancholie einer ewig gleichbleibenden, weil geschichtslosen Gegenwart besang – beide Phänomene zwei Seiten einer Medaille. Andere fragten sich, was die neuen Entwicklungen eigentlich mit der tradierten Form von Öffentlichkeit machen. Bisher dachte man gut aufklärerisch, eine funktionierende Öffentlichkeit mit ihren medialen Debatten sei in Demokratien als vierte Gewalt ein sinnvolles Korrektiv (Habermas). Je mehr Debatte, desto mehr bürgerliches Selbstbewusstsein. Jetzt aber machte man plötzlich die Erfahrung, dass neben der weltweit gleichförmigen Überschwemmung mit Informationen parallel dazu Segregation, Vereinzelung, ja Dissoziierung stattfindet: Jeder ist mehr und mehr mit „Applikationen“ zu seinem Spezialgebiet beschäftigt, verliert den Kontakt zum Ganzen und ist Mobilisierungsmasse für meist nur spezielle „crowds“ oder „Schwärme“, ältere soziale Strukturen lösen sich auf und werden durch virtuelle ersetzt. Manche entdecken ihre neue Identität als „digital natives“, andere erinnern an den generalistischen Bildungsanspruch des erst kürzlich abgeschafften humanistischen Gymnasiums, das jedes vorschnelle Spezialistentum strikt vermeiden wollte.  

Auch gesellschaftlich ist die Globalisierung mindestens zweischneidig: Sie hat weltweit soviel Wohlstand hervorgebracht wie nichts zuvor, sie hat aber auch die einzelnen Nationalstaaten an die Grenze ihrer Möglichkeiten geführt. Sie regieren nur noch teilsouverän, denn jeder global player hat ein höheres Bruttosozialprodukt als die meisten Einzelstaaten. Und Märkte gehen nun mal, ohne soziale Verbindlichkeiten einzugehen, dorthin, wo es für sie am besten ist. Das spüren die Bürger und es macht Angst. Sie werden zum Objekt weltweiter Entwicklungen, sind nicht mehr länger Subjekt. Die alte Idee, dass der Bürger in der Demokratie staatliche Vertreter wählt, die ihn vor dem gröbsten Unheil bewahren, ist infrage gestellt und funktioniert nur noch partiell.

Aber was nun? Bisher hat man in der Geschichte Dissoziationsprozesse mit Neugründungen beantwortet, die an ältere Traditionen anknüpften. Geht das noch? Ein Beispiel ist hier die europäische Idee: sie ist mit dem Absterben der „Nie wieder Krieg Generation“ selbst in einer Krise: Gibt es tatsächlich eine europäische Idee, die sich noch auf die Ideen der französischen Revolution beziehen kann, und sogar auf einen europäischen Kulturraum? Oder ist Europa nur ein Wirtschaftsverbund, der im globalen Wettbewerb bestehen will, mit einer deutschen CEO an der Spitze? Natürlich gibt es Europa als Kulturraum tatsächlich. Beispiele aus der Architektur, der Wissenschaft, der Literatur gibt es – spätestens seit der Renaissance – zuhauf. Nur: das entspricht immer weniger dem Erleben der Menschen. Im Gegenteil: sie fühlen sich gefangen im Neoliberalismus, der Begleitmusik der Globalisierung. Fit werden für Europa sein heißt heute nicht, dessen Ideen stolz weiter tragen, sondern den Gürtel enger schnallen, um den Staatsbankrott abzuwenden. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat schon 1998 in der linken Zeitung  „Le Monde diplomatique“ geschrieben: „Was ist Neoliberalismus? Ein Programm zur Zerstörung kollektiver Strukturen, die die pure Marktlogik stören könnten.“ Das klingt stark nach einer bedrohlichen viralen Infektion. Wie lebt man damit? Es gibt nur zwei Rezepte: Entweder Immunabwehr stärken und sich gegen außen abschließen, oder affirmative Anpassung an die Notwendigkeiten. Beide Reaktionen dominieren unser Hier und Heute.

Derzeit herrscht eine heillose und teilweise perfide Verwirrung von Konzepten und Ideen. Der alte Kosmopolitanismus,  die „Weltbürgeridee“ der Aufklärung – unlängst von dem Philosophen Anthony Appiah neu beschrieben, vermischt sich plötzlich unheilvoll mit den Notwendigkeiten der Globalisierung und wird nolens volens zu deren Rechtfertigung. Da ist ideengeschichtlich etwas schief gegangen. Das Kosmopolitische kann nur das humane Globale sein, aber nicht einfach die affirmative und effizienzorientierte Umsetzung von Wirtschaftsprozessen durch das Individuum: Der globale Mensch soll flexibel sein, schnell und anpassungsfähig, viele Sprachen sprechen, seine Loyalität weniger auf seinen domestic market als auf seine globale Firma ausrichten. Er soll mobil sein, zwischen Kulturen, Religionen, Essgewohnheiten etc. hin und her hoppen – ein Flaneur mondiale, gefüttert mit der Modeidentität der philosophischen Kontingenz. Soziologen wie Richard Sennett  („Der flexible Mensch“) und Philosophen wie Zygmunt Baumann haben dies beschrieben. Die „Weltbürgeridee“ der Aufklärung ist nur auf den ersten Blick ähnlich, meint aber anderes. Sie ist human und philosophisch, sie meint den Gedanken, in einem Akt sich verschenkender Großzügigkeit  im Weltganzen aufzugehen. Bei den Lessingtagen im Thalia war in den großen Eröffnungsreden oft die Frage, wie sich das Ich in diesem Sinne heute definieren könnte. Ilija Trojanow z.B. hat mit großer Freude davonberichtet, dass es für ihn dieses Ich nicht gäbe, dass es vielmehr befreiend sei, als Globetrotter viele Ichs zu haben und mit kulturellen und religiösen Identitäten zu spielen. Gesine Schwan hat berichtet, für sich selbst könne sie die Ich-Frage recht leicht beantworten: in Berlin sei sie Berlinerin, in Deutschland Deutsche, in Paris Europäerin und in China eine Weltbürgerin – ein Ich in Schichtungen und Ergänzungen also, das sich nicht über Abgrenzung, sondern über die Erweiterung, über Freiheit und Liberalität definiert. Es ist schön für solche Haltungen zu werben, zu erleben, dass Menschen sie zu ihrem eigenen Leitbild gemacht haben (anstatt irgendwelche national gefärbten Leitkulturen), aber: es sind Haltungen und Bilder einer Elite, viele andere überfordert das, sie wollen schlicht und ergreifend Schutz und keine Rückkehr zum Nomadentum. Mit dem Nomadentum fing alles an, dieser Vortrag, vor allem aber war es der Ausgangspunkt für die Menschheit, die historisch alles getan hat, um genau dies zu überwinden. Die meisten  Menschen sehnen sich nach klareren und einfacheren „Narrativen“ – wie wir uns angewöhnt haben, zu sagen. Daher  greifen sie  in einem gesellschaftlich völlig verwandelten Umfeld nach alten Rettungsringen, die früher mal erfolgreich waren. Boris Groys, ein russisch-deutscher Philosoph, der in New York lebt, sagt, der linke Internationalismus habe ebenso versagt wie die vom Neoliberalismus angetriebene Globalisierung. Daher erleben wir derzeit die Rückkehr des Territorialen. „Dagegen war das 20. Jahrhundert die Zeit der zunehmenden Deterritorialisierung. Während der achtziger und neunziger Jahre zelebrierte man nachgerade die weltumspannenden Ströme des Kapitals, von Waren, Informationen und Menschen, und als Mitarbeiter eines multinationalen Konzerns fühlte man sich mehr mit den Mitarbeitern im eigenen Unternehmen solidarisch als mit der Bevölkerung des ‚eigenen Landes‘. Als Internet-User lebte man ohnehin in transnationalen sozialen Netzen. Man stellte seine Kunst auf den internationalen Biennalen aus, arbeitete für globale NGOs und Medienunternehmen. Schließlich hat der neoliberale Globalismus auch die postkommunistische Linke integriert, denn man arbeitete ja für die Verwirklichung einer globalen Gesellschaft.

Und heute? Heute scheinen die Kräfte der Deterritorialisierung nachzulassen. Wir erleben eine Welle der Reterritorialisierung, und Politiker und Intellektuelle argumentieren zunehmend defensiv und nationalistisch. Man will nicht mehr in globalen Strömen schwimmen, sondern das eigene Territorium vor der ‚Überflutung‘ durch diese Ströme schützen. Jetzt zeigt sich, wie wenig Internationalisierung und Globalisierung erreicht hat. (…) Mit einem Wort: Linker Internationalismus und liberaler Globalismus erweisen sich als Fiktionen.“
Gegenkonzept zur Globalisierung:  Identitär-fundamentale Begrenzung All die geschilderten Prozesse reichen völlig aus, um die Gegenwehr von Individuen und Systemen auszulösen. Ihre wahre Dynamik aber haben sie durch den Mauerfall und die Verlagerung der alten Konfliktlinien von Ost-West auf Nord-Süd bekommen. Hier grenzt sich Reichtum gegen Armut ab, die alten Kolonialherren gegen die postkolonialen Gesellschaften der Südhalbkugel. Mittlerweile ist diese viele tausende Kilometer gehende Grenze militärisch mehr bewacht als es die Berliner Mauer je war. Und mehr Tote hat es ebenfalls gegeben. Es ist nicht gelungen, eine faire Weltordnung zu errichten, die niemanden zwingt, seine Heimat zu verlassen. Im Gegenteil: weltweit sind Millionen Menschen unterwegs, um ein anderes Lebensglück auf der Nordhalbkugel zu finden und bringen ihre eigenen Kulturen mit, in eine Welt, gegen die sie ihre eigene positionieren möchten. Sie fliehen auf die Nordhalbkugel, haben aber ihre eigene Kultur massiv als Abwehrreflex gegen die Dominanz des Westens entwickelt. Dies fing im Iran mit dem Ayattolah Khomeini an und setzt sich bis heute in vielen Spielarten fort. Die Dominanz des westlichen Kapitalismus und seine plötzliche kulturvernichtende Dominanz hat diese Gesellschaften, und hier insbesondere die agrarischen Bevölkerungen, in Angst und Schrecken versetzt. Ihre Antwort war ein Rückgriff auf die eigenen Traditionen. Islamischer Fundamentalismus statt Coca-Cola-Imperialismus. Die Gegenwehr ist massiv, die Angst ist die der Identitätsauslöschung. Das „Identitäre“ ist die Antwort auf die drohende Ich-Auflösung in der globalen Unübersichtlichkeit. Die Amerikaner hatten den großen Mut, einen schwarzen Präsidenten mit moslemischen Wurzeln  zu wählen – ein Signal an die Welt. Unvergessen ist, wie Barack Obama trotz Nine Eleven in einer unfassbar großen symbolischen Geste versuchte, die ganze Welt mit Optimismus anzustecken, als er die arabische Welt in der Universität von Kairo mit seinem „Salamaleikum“ ansprach – ein neues Zeitalter, das Themen wie Weltkrieg, Nationalsozialismus und Ost-West-Blöcke längst hinter sich gelassen hatte...

Und doch war der Siegeszug des Fundamentalen und der neuen westlichen  Identitäre nicht zu bremsen. Der islamische Fundamentalismus, ursprünglich als Reaktion auf den Import der westlich liberalen Globalisierung entstanden, wurde mehr und mehr in die westlichen Gesellschaften importiert und zog dort fundamentale chemische Reaktionen nach sich - von den Leitkulturdebatten bis zu den rechtspopulistischen Bewegungen. Auf die wichtige Frage nach der eigenen Identität gab unser liberales System offenbar keine befriedigenden Antworten. Und so hängen plötzlich Putin und Syrien, die Türkei und Trump, der Brexit und Le Pen oder Frauke Petry tatsächlich zusammen. Nur so ist im übrigen auch die mittlerweile anti-europäische Haltung der meisten Staaten des alten Ostblock zu verstehen – auch diese Bevölkerungen leiden unter einem Identitätsverlust. Man kann den Menschen nicht diese Gefühle vorwerfen, man muss Antworten suchen. Keine . Verheißung kann groß genug sein, als dass man bereit wäre, seine Identität aufzugeben. Denn das ist das Einzige, was wir haben. Nur deswegen können protektionistische und identitäre Antworten a la „America first“ so durchschlagend erfolgreich sein, selbst wenn der Protagonist dieser Bewegung in der klassischen commedia dell’arte bestenfalls zum vertrottelten Pantalone taugt.

Es ist schon außerordentlich bemerkenswert, dass die protektionistischen Globalisierungsfeinde eine wahrhaft globale Bewegung geschaffen haben, und dass die erste wirklich europäische Bewegung seit 1968 eine antieuropäische und nationalistische ist. 1968 wehrte man sich gegen eine formierte, geschlossene Gesellschaft, heute gegen eine als dereguliert wahrgenommene Welt. In ihr sehnt sich der Einzelne nach geschlossenen Räumen, nach Sicherheit und Schutz. Die diskursiven Konzepte der Aufklärung haben hier ausgedient.
Krise der Demokratie. – Die Staatsform der Demokratie beruht auf den Prämissen der Aufklärung. Ihre Grundidee ist, mithilfe bestimmter Regeln von Kommunikation und Mitbestimmung die Identifikation des einzelnen gesellschaftlichen Ich mit dem kollektiven Ich, also dem Wir regelmäßig zu überprüfen und gegebenenfalls wieder her zu stellen. Auf diese Weise können – so die Idee - gesellschaftliche Dissoziationen schon im Ansatz verhindert bzw. ausgeglichen werden. Dieser Grundansatz geht davon aus, dass die Gemeinsamkeiten so groß sind, dass der, der im sportlichen Wettbewerb unterliegt, den demokratischen Abstimmungsprozess akzeptiert. Er geht ferner davon aus, dass die das Volk repräsentierenden Politiker entlang den Grundlagen der demokratischen Ordnung umsetzen, wozu sie vom Wähler beauftragt wurden. Soweit die Theorie. In der Wirklichkeit aber vollzieht sich seit einigen Jahrzehnten auf gravierende Weise das Gegenteil, nämlich die zunehmende Ablösung des gesellschaftlichen Einzel-Ichs von der den Gesellschaftskörper repräsentierenden Demokratie. Hier hat sich eine dramatische Erosion ereignet, die „Materialermüdung“ des demokratischen Systems ist beträchtlich, die Entfremdung nimmt zu. Das Angebot, über Wahlen und andere Mechanismen an der demokratischen Kultur teil zu nehmen, findet immer weniger Anklang und die Tendenz des sogenannten „Systems“ und seiner Vertreter, sich „nach unten“ abzuschließen, nimmt zu. Neue und zusätzliche Partizipationsangebote wie Volksabstimmungen oder Volksbegehren, als Vitaminspritze für die Demokratie gedacht, haben wenig gebracht, allerdings konnte man dort –im geschützten Rahmen eines Trockendocks– die grassierenden populistische Mechanismen gut mal ausprobieren. Unseren Demokratien  fehlt das, was Systeme nach Niklas Luhmann brauchen: funktionierenden Austausch, Kommunikation.

Ein gesellschaftliches Wir, das sich weder einer gemeinsamen Aufgabe für die Zukunft mehr verpflichtet fühlt noch dem einstigen Gründungsmythos, stagniert zunächst und zerfällt auf Dauer. Das ist die vielleicht schmerzlichste Dissoziation unserer westlichen Gesellschaften. An ihr sind nicht die Identitären Schuld, sie sind allenfalls der Popanz, an dem man sich durch einen gemeinsamen Feind vorübergehend wieder aufrichten zu können glaubt. Eine derartig stagnierende Gesellschaft sucht Erlöser. Und es gibt sie, und sie müssen gar nicht zwangsläufig rechtsradikal sein. Die Aufstiege von Emmanuel Macron in Frankreich und von Trudeau junior in Kanada sind in erheblichem Maße diesem Umstand zu verdanken. Sie vermitteln erfolgreich den Eindruck, sie hätten mit dem verkrusteten System nichts zu tun. Sie sind der Phönix aus der Asche: Jung, charismatisch, unabhängig. Und sie finden Nachahmer, z.B. in Österreich, wo man derzeit ebenfalls auf „Bewegungen“ setzt statt auf Parteien. In der Tat: „Bewegungen“, die Neues suchen und „das Alte“ abstoßen oder sich vom „Anderen“ distanzieren, können dissoziierte Gesellschaften wieder binden….
Der Fremde als Katalysator- Identitätstiftung durch Fremde. Wenn ein notleidender Fremder an der Tür steht und Einlass begehrt, kann das jedes von Scheidung bedrohte Ehepaar als Katalysator wieder zusammenschweißen. Denn es gibt plötzlich eine vereinende Aufgabe, den Fremden  gemeinsam abzuwehren oder aufzunehmen. Das hilft über Differenzen hinweg. Als Angela Merkel im Herbst 2015 ihr „Wir schaffen das“ ausstieß, war das eine humane Geste, die die allermeisten Deutschen überzeugt hat. Sie taugte dazu, stolz auf ein Land zu sein, auf das wir nie gelernt haben, stolz sein zu dürfen. Hunderttausende spendeten Millionen – eine Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland war plötzlich hellwach, und begann, sich über eine alle vereinende Aufgabe neu zu erfinden. Dass dieser historische Moment aus zahlreichen Gründen abgebrochen werden musste, ist eine der schmerzlichsten politischen und humanen Erfahrungen der letzten Jahre. Das ändert aber nichts daran, dass Kommunikation in unserem Lande denoch nicht aufgehört hat zu funktionieren. Die künstlerisch-intellektuellen Elite unseres Landes ist in den letzten Jahrzehnten durch Menschen interkultureller Herkunft stark gewachsen. Sie bringen, eben weil sie nicht völlig dazugehören, sondern andere zusätzliche Erfahrungen einbringen können, wichtige Anregungen für unsere Kultur: Beispielhaft seien hier Ilija Trojanow, Navid Kermani, Mark Terkessidis oder Nino Haratischwili genannt.

Fragen - Grenzen als Voraussetzung von Identität?

Brauchen wir eine festgefügte  Identität, um als Menschen, als Individuen oder als Gesellschaft existieren zu können? Muss man die eigene Identität bei Bedrohung von außen zu einer Festung ausbauen? Brauchen wir Distanz und Abschottung gegenüber anderen Kulturen, weil die Zersplitterung von Welt einfach nicht zu bewältigen ist?  Wie wollen wir die Lust am Anderen, am Fremden, an Gastfreundschaft und Toleranz leben, wie sie im Herbst 2015 unsere Gesellschaft erfasst hat? Oder muss man den Laden – Gastfreundschaft hin oder her – in einem Akt präventiver Notwehr zumachen, wenn zu viele Fremde zu Besuch kommen? Und passt sich der Gast an den Gastgeber an oder umgekehrt? Wie sieht es aus mit dem Recht, verschieden sein zu dürfen. Ist Diversität nur bis zu einer gewissen Grenze lebbar? Ist der Traum vom Eigenen Ich als Identität in Kulturen, Städten, Religionen und nicht zuletzt im eigenen Ich selbst auch ohne Anti-Moderne denkbar?

Weitergefragt: Ist Grenzenlosigkeit überhaupt eine Utopie? Braucht der Mensch nicht Grenzen? Und wenn ja, was für welche? Führen starre Grenzen und Mauern zu Dissoziation, völlige Grenzenlosigkeit aber auch? Fragen, die neuerdings wieder diskutiert werden. Richard Sennett hat z.B. im Thalia Theater sowohl open borders wie auch starre Grenzen und Mauern abgelehnt, aber den Begriff der permeablen Membran in die Frage nach politischer Gestaltung eingebracht. Und der renommierte Historiker Karl Schlögel hat unlängst sogar ein „Lob der Grenze“ formuliert. „Aber warum? Ich meinte nicht die Verteidigung der Grenze aus xenophobischen Gründen, aus Abwehrgründen. Mein Gedanke war die Grenze als etwas, das einen Raum lebbar macht, das Differenzen markiert und das es möglich macht, Grenzüberschreitungen in gewisser Weise zu humanisieren. Mein Thema ist nicht die Auflösung oder das Verschwinden der Grenzen, da bin ich ganz strikt und halte das für eine unlebbare, utopische Angelegenheit, sondern das Humanisieren von Grenzen, als Schaffung von machbaren und lebbaren Räumen.“  Andere wie die kluge proeuropäische Denkerin Ulrike Guerot findet es neuerdings nachdenkenswert, Flüchtlingen im entvölkerten Osten eigene Stadtgründungen a la New Damaskus anzubieten, also: Selbstgettoisierung als Alternative. Man sieht: es wird viel nachgedacht: über das Wünschenswerte und das Lebbare…

Persönliche Erlebnisse
All das Geschilderte greift in das persönliche Leben ein, auch in meines. Ich will davon in ein paar Schlaglichtern berichten. Vor zwei Jahren sollte am Thalia Theater der lettische Regisseur Alvis Hermanis inszenieren. Er sagte uns unter dem Eindruck der Attentate in Paris, wo er seinerzeit an der Bastille eine Oper inszenierte, ab. Er hatte nämlich mitbekommen, dass das Thalia sich humanitär in Flüchtlingsfragen engagierte. Seine Begründung war offen rassistisch: „Nicht jeder Flüchtling ist ein Terrorist, aber jeder Terrorist ist ein Flüchtling.“ Er wolle in diesem „Krieg“, wie er es nannte, nicht auf unserer Seite stehen. Ich war empört, zumal – Stichwort Dissoziation – Alvis Hermanis sein halbes Leben selbst als Emigrant im westlichen Ausland verbracht hat. Selbsthass? Baltisches Herrenreitertum? Ich weiß es nicht. Schnitt: Belgien: Ich flog früh morgens nach Antwerpen, von dort mit der Bahn nach Gent. Mit der Straßenbahn dann vom Bahnhof ins Stadtinnere, in meinem Waggon außer mir noch eine belgische Frau und neun  nordafrikanische junge Männer. Ich bekam Angst, die Frau auch, wir tauschten Blicke. Aber es ereignete sich nichts. Will ich in einem solchen Europa leben, wo ich Außenseiter bin? Nein. Aber soll meine Angst siegen? Nein. Im Zentrum dieser europäischen Stadt mit ihrer Renaissancefassade angekommen, habe ich mich dann eine Stunde lang vor den weltberühmten Flügelaltar von Jan van Eyck in der Kathedrale gesetzt. Hinterher ging es mir besser. Schnitt: Flug nach London am Tag, als die City erfuhr, dass es tatsächlich zum Brexit kommen soll – eine depressiv-aggressive Stimmung und viel viel Empörung über die eigenen Landsleute. Daneben die internationalen Touristen, die sich unbesorgt und neugierig in der Tate Modern tummeln und hinter an der Themse bummeln gehen. Schnitt: New York: Am Tag vor der Präsidentschaftswahl: Zunächst ein Ausflug zum unüberbietbar hässlichen Trump-Tower, dann weiter zum Nine Eleven Memorial, mit den Plaketten der vielen tausend Toten und dem in aller Stille in die schwarze Tiefe der Erde fließenden Wasser – ein großes, ein sehr würdiges Denkmal für die bisher symbolträchtigste Katastrophe unseres noch jungen Jahrtausends. Taxifahrten: Indische, chinesische, mexikanische Taxifahrer. Alle sind sich sicher, dass Hillary Clinton gewinnt. Ihre Hoffnung scheint Gewissheit zu werden. Schnitt: Weiterflug nach Paris. Als ich dort einen Novembertag später aufwache, ist das Unfassbare geschehen: Trump ist Präsident. Mit einem Anflug von Sarkasmus beschließe ich, auf eine eigentlich geplante Wienreise, wo demnächst Präsidentschaftswahlen sind, zu verzichten – vielleicht bin ich ja der böse Engelsbote. Tagsüber Museum, abends ein Theaterbesuch im Odeon, mit Maschinengewehren bewaffneten Polizisten hier wie dort. Wollen wir so leben? Nein. Schnitt: Moskau: Auch hier die Angst vor Rebellen und Terroristen, Kontrollen und Sicherheitschecks wie an internationalen Flughäfen. Schnitt: abermals Paris: Vor ca zwei Wochen der Besuch einer Komödie in der Comedie francaise, inszeniert von einer brasilianischen Regisseurin. Abends zum Hotel am Gare du Nord. Kein Zugang zum Hotel. Der Gare du Nord und leider auch das Hotel ist wegen islamistischer Terrorgefahr evakuiert und abgeriegelt worden. Hundertschaften von Polizei. Sturzhelme, Maschinengewehre, Flutlicht. Bis um vier Uhr morgens Warten auf der Straße. Mit freundlichen Polizisten sprechend. Hier schützen uns Mitteleuropäer Polizisten afrikanischer, französischer und arabischer Abstammung vor mutmaßlich arabischen Attentätern...
Wollen wir so leben? Wie wollen wir leben?

Sinuskurven
Dissoziation und Neugründung – das scheint das Wechselspiel menschlicher und historischer Entwicklungen zu sein. Und Lösungen entstehen offenbar fast immer über einen kurzen Akt der Rückbesinnung – das haben die Überlegungen des heutigen Vortrags gezeigt. Erst vor wenigen Tagen hat mir eine Wissenschaftlerin erzählt, dass es Theorien gibt, nach denen sich menschliche Entwicklungsprozesse wie die Sinuskurve ereignen: Auf dem Höhepunkt einer Umbruchssituation rollt die Kugel nicht einfach weiter, sondern zurück, zu einem Augenblick der Besinnung, bevor sie so viel Kraft geschöpft hat, dass sie weiterrollen kann: über den nächsten Berg.
In diesem Sinne ist zu hoffen, dass der gigantische Zeitenumbruch, in dem wir uns zweifelsohne befinden, sich ähnlich ereignet. Möglicherweise sind wir bereits mitten im Akt einer Neugründung und werden Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung finden – als Alternative zu der hemmungslosen Globalisierung, in der sich der Einzelne verirrt und Staaten wie Gesellschaften sich bedroht fühlen. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann hat die zeitgenössischen „Todsünden“  zusammengefasst, aber auch Perspektiven aufgewiesen: „Angesichts der Reetablierung vormoderner Strukturen, Denk- und Lebensweisen in der technisch avanciertesten Gesellschaft aller Zeiten könnte man ins Grübeln kommen. Von der Wiederkehr der Religionen bis zur Krise der Demokratie, von der Ablösung des mündigen Subjekts als Ziel aller Bildung durch den kompetenzorientiert ausgebildeten Konsumenten bis zur Errichtung feudaler Quasimonopole auf den globalisierten Märkten, von Verschwörungstheorien aller Art bis zum erhobenen Daumen und den Empörungskonjunkturen der sozialen Netzwerke, vom Verlust des Intim-Privaten bis zu den anschwellenden Datenströmen in den Händen des Privateigentums reicht die Palette von Entwicklungen, die allen Konzepten der aufklärerischen Moderne Hohn sprechen. (...) – Ja, es bedarf einer neuen Aufklärung. Und dies nicht, weil die alte Aufklärung nichts mehr taugte, sondern weil wir im Begriffe sind, deren Errungenschaften zu verspielen und ihre Ansprüche ins Gegenteil zu verkehren.“
Das Wechselspiel von Dynamik und Neugründung, von Dissoziation und Identität hat die Geschichte der Menschheit immer wieder aufs Neue entwickelt, jede Neugründung hat an älteren Ideen angeknüpft und  diese fortentwickelt. Warum sollte das jetzt anders sein? INach dem Zeitalter der Aufklärung und der Freiheitsbewegungen im 18. Jahrhunderts, nach der Begründung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und den Totalitarismen und Ideologien im 20. Jahrhundert , wo Nation und Ideologie eins wurden, ist die Aufgabe des 21. Jahrhunderts, eine kosmopolitisch-internationale Weltordnung aufzubauen, die den Menschen nutzt und ihre Besonderheiten respektiert. Die Bilder vom Einsturz der Twin Towers zu Beginn des Jahrhunderts mit den in die Tiefe stürzenden Menschen geben uns den Auftrag dazu.

Wir müssen die Frage von Grenzen und Grenzenlosigkeit neu debattieren, das alte „Weltbürgertum“ neu erfinden, und zwar als citoyen und nicht als bourgeois, und um eine „Weltinnenpolitik“, wie Habermas das einst nannte, ringen, die mehr ist als G20 Gipfel und ähnliches. Dazu braucht es weltweit in den Gesellschaften Freundlichkeit, Vorsicht und Offenheit, sowohl gegenüber den Fremden wie auch gegenüber denen, die sich vor ihnen fürchten. Und vor allem eine globale soziale Gerechtigkeit, die sich nicht länger in nationalen Verteilungskämpfen erschöpft. Auch der vorhin zitierte Boris Groys ist übrigens nicht ganz hoffnungslos: „Bedeutet das, dass (mit der Wahl Trumps) der Traum des Internationalismus und Globalismus definitiv ausgeträumt ist? Das glaube ich nicht. Wenn die menschliche Gesellschaft überhaupt ein Telos hat, dann ist es die Errichtung des Weltstaates. Nur wenn die ganze Menschheit das gleiche Territorium bewohnen wird, wird sie ein Demos oder populus bilden. Bis jetzt sind alle Imperien, die das versucht haben, gescheitert. Universalistische Religionen wie das Christentum oder Islam wurden mit der Zeit bescheidener, als sie es am Anfang waren. Trotzdem habe ich keine Zweifel, dass das Pendel bald wieder vom Territorialen zum Universalen schwingt – oder wenn man so will, vom Nationalen zum Weltstaat.“ (DIE ZEIT, 12. Januar 2017)

Letztlich geht es darum, ein neues „Wir“ zu begründen, weltweit, aber auch in unseren multikulturellen Gesellschaften. Ich wiederhole, was Sigmar Gabriel gesagt hat: Wir brauchen keine deutsche Leitkultur, sondern dafür reichen die ersten 20 Artikel des Grundgesetz. Etwas weniger rough formuliert es der deutsch-persische Soziologe Armin Nassehi: „Was also ist das Deutsche? Hier zu leben. Mehr sollte man darüber nicht sagen müssen. Es kann heute, in einer pluralistischen, globalisierten Gesellschaft keine starke und exklusive Selbstverortung mehr sein. Das „Hier“ wird zu einem „Wir“ nicht durch kulturelle Oktroys, sondern durch gesellschaftliche Selbsterfahrung, durch eine alltägliche Praxis, die man durch geeignete Maßnahmen auch Einwanderern ermöglichen muss – durch Teilhabe an Bildung, am Arbeitsmarkt, am konkreten Leben.“ Und weiter und sehr entscheidend: „Das Attraktive an modernen Lebensformen ist, dass sie mit möglichst wenig Bekenntnissen auskommen können.“

Theater sind Orte für das viel beschworene „Wir“, für Gemeinschaft, für Gemeinsamkeit, auch für Auseinandersetzung. Orte der sozialen Verantwortung.. Aber wir sind nicht Ersatzsozialarbeiter, nicht der Reparaturbetrieb der Gesellschaft, sondern am Ende geht es stets um künstlerische Arbeit. In drei Tagen beginnt in Hamburg das vom Thalia Theater veranstaltete und gemeinsam mit der Kulturfabrik Kampnagel programmierte Festival „Theater der Welt“. Hier haben wir Künstler aus allen Kontinenten und Kulturen eingeladen, für ein neugieriges weltoffenes Publikum. Denn letztlich hilft nichts, außer die Lust am anderen zu stiften. Es wird hoffentlich ein sympathisches Fest der Begegnung. Und ich hoffe, dass es andere Bilder produziert als der in vier Wochen ebenfalls in Hamburg stattfindende G20 Gipfel, zu dem u.a. Erdogan, Trump und Putin erwartet werden. Unsere Welt, die Welt des Theaters, ist eine andere als die der Politiker. Und darauf sind wir stolz.
Unlängst hat der greise, über 90jährige Günther Rühle, einer der klügsten Köpfe des Theaters, darauf hingewiesen, dass das Theater in der deutschen Kultur immer ein geistiges, Bewusstsein bildendes Instrument war. „Es gab die Kulturnation, bevor es politisch eine Nation gab.“ Kann man das auf Europa, diesen als Subkontinent winzigen und oft aggressiv-hegemonial agierenden Zipfel des eurasischen Erdteils, übertragen? Gibt es europäische Narrationen, die bei aller Diversität Identität stiften könnten? Denn ohne gemeinsame Erzählungen gibt es tatsächlich keine gemeinsame Identität. Sie geben die Antwort auf die Frage: wer bin ich?

Künstler haben es hier ein wenig leichter als andere. Denn sie haben das Privileg spielen zu dürfen. Das Spiel aber ist grundsätzlich ein Ort der Freiheit. Es kennt keine Dissoziation. Und die Intellektuellen wie Ulrich Beck oder Kwame Appiah spielen in gewisser Weise ebenfalls. Sie spielen die alte aus der Aufklärung bekannte Idee des „Weltbürgertums“ wieder durch, suchen im Kosmopolitischen die Chance, die schlimmsten Dissoziationen zu überspringen. Die philosophische Grundannahme, die der Idee des Kosmopolitischen zugrunde liegt, stammt aus der griechischen Antike, von Platons Ideenlehre und von Heraklit. Sie geht nicht von Dissozationen aus, sondern von dem Gegenteil. Lessings Freund Wieland drückte es so aus: "Die Kosmopoliten betrachten alle Völker des Erdbodens als eben so viele Zweige einer einzigen Familie, und das Universum als ein Staat, worin sie mit unzähligen anderen Vernünftigen Wesen Bürger sind." Ähnlich steht es in Lessings Hamburgischer Dramaturgie: „In der Natur ist alles mit allem verbunden, alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich, eines in das Andere." Da ist sie wieder, die alte Kosmologie, mit der ich meinen heutigen Vortrag begann. Ich weiß nicht, ob es früher einfacher war, sich an solchen Philosophemen aufzurichten. Zeitgemäßer ist vielleicht der Schlachtruf: „Enjoy Complexity!“