Shakespeares Kri
ege – Kindheit zwische
n Krieg und Frieden

Vortrag von Joachim Lux bei der 16. Woche der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Langeoog, Mai 2018

Kriege sind ganz offensichtlich die Wegbegleiter der Entwicklung des homo sapiens. Jedes Jahrtausend, jedes Jahrhundert, jede Generation versucht Kriege zu vermeiden und führt sie (meistens) doch. Das älteste Antikriegsdrama der Menschheitsgeschichte sind „Die Perser“ des Aischylos. Hiervon ausgehend soll es um einen Schriftsteller gehen, der mehrere tausend Seiten und mithin viele Jahrzehnte seines Lebens mit der Schilderung von Machtkämpfen und Kriegen verbracht hat. Er ist der bedeutendste Dramatiker der Weltliteratur: William Shakespeare. Ob er davon fasziniert  oder angewidert war, ist nicht überliefert. Wohl aber, dass er für all seine Stücke Stoffvorlagen hatte – mit einer Ausnahme: Am Ende seines Lebens versucht Shakespeare mit seinem letzten Stück gegen alle Lebenserfahrung Abstand von Macht und Krieg zu gewinnen. Ist das überhaupt möglich? „Der Sturm“ ist Shakespeares einziges Drama, das er völlig frei erfunden hat. Es ist das Vermächtnis eines Dichters, der den Frieden sucht.

Zum Thema Kindheit – das muss man aus Sicht der Literaturwissenschaft zunächst einmal feststellen – hat das klassische Repertoire der Theaterliteratur auf den ersten Blick wenig beizutragen. Das liegt aber weniger an der Ignoranz der Literatur als an der Tatsache, dass die Wahrnehmung von Kindheit als eigenständige Kategorie und ihre sozialhistorische Erforschung unglaublich jung sind (Philippe Aries1960).

Zur Entdeckung von Kindheit in der Aufklärung: „Entdeckt“ wurde Kindheit bekanntermaßen erst in der Aufklärung, vor allem durch Rousseau. In unmittelbarer Folge gibt es seit dem vorvergangenen, nämlich dem 19. Jahrhundert eine wahre Explosion von Literatur über bzw. mit Kindern als Protagonisten, zum Teil auch fälschlicherweise als Kinderliteratur rubriziert. Die Texte, die im 19. Jahrhundert zur Kindheit entstanden sind, beschreiben Kindheit oft als Welt voller Phantasie und Rebellion, als Gegenwelt zur Erwachsenenwelt, als Kritik an ihrer sozialen Ungerechtigkeit, ihrem viktorianischen Ordnungswahn etc. Hier steht „Natur“ gegen Domestizierung durch Zivilisation. Nicht selten wird die Welt der Erwachsenen der Lächerlichkeit ausgeliefert, indem man sie verniedlicht und verkindlicht. So wird ihre infantile Mechanik oder ihr neurotisches Zwangssystem offen sichtbar. Es sind natürlich stets Erwachsene, die sich in der Maske und Mimikry des Kindlichen einen literarischen Trick der Perspektivverschiebung suchen, um der reinen Welt des erwachsenen Nutzens eine andere Welt entgegenzusetzen. Erwachsene stülpen sich die Rolle des Kindes über, nehmen Kindheit ernst und verspotten damit sich selbst Aufschluss über solche Perspektivverschiebungen geben beispielsweise die Geschichten von Wilhelm Busch, Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, Charles Dickens „Oliver Twist“, Mark Twains Adoleszenzgeschichten um Tom Sawyer und seinen Freund Huckleberry Finn, Hoffmanns „Struwwelpeter“, „Peter Pan“ von James Matthew Barrie, Carlo Collodis „Pinocchio“, oder die Märchenwelten der Gebrüder Grimm oder Hans Christian Andersens. Kindheit ist in all diesen Beispielen eine argumentative Waffe gegen die Erwachsenenwelt.
Dies kündigte sich übrigens schon in der Frühaufklärung an, als Jonathan Swift zur Bekämpfung von Überbevölkerung und Armut vorschlug, die eigenen Babys umzubringen, zu Nahrungsmitteln zu verarbeiten und zu exportieren (1728) – ein wie man sich denken kann sehr “wirkungsvoller“ Vorschlag. Kindheit wurde fortan immer wichtiger, auch in der sogenannten Erwachsenenliteratur. Ein herausragendes Beispiel für die wachsende Bedeutung der Kindheit sind etwa Dostojewskis „Brüder Karamasow“. Da gibt es eine riesige, dennoch kaum beachtete und beinahe den Roman sprengende Parallelhandlung mit Kindern.. 

Und wie sieht es bei Shakespeare aus? Das Thema „Shakespeares Kriege – Shakespeares Sehnsucht nach Frieden“ ist, jedenfalls unter dem Aspekt von „Kindheit zwischen Krieg und Frieden“,  auf den ersten Blick eigentlich unergiebig – schlicht weil es Kindheit im heutigen Sinne gibt es bei Shakespeare kaum gibt. Und doch könnte man sich von Swift zu den Grausamkeiten in Shakespeares „Titus Andronicus“ und weiter zurück zu Senecas „Thyestes“ treiben lassen...

Meine eigene Generation – Kindheit zwischen Krieg und Frieden im 20. Jahrhundert. Aber da ist mir etwas in die Quere gekommen, nämlich meine eigene Generation: ich selbst. Mehr und mehr schien es mir unmöglich, als Theatermensch „nur“ über Shakespeare und Kindheiten zwischen Krieg und Frieden nachzudenken. Denn ich bin ja selbst von einer Kindheit zwischen Krieg und Frieden geprägt. Denn wer, wenn nicht meine Elterngeneration, hatte eine Kindheit zwischen Krieg und Frieden? Und was bedeutet das für mich? Ich muss ganz anders anfangen, nämlich bei mir selbst, bei meiner eigenen Generation.
Ich bin 60 Jahre alt, und die Eltern meiner Generation sind in etwa in den Jahren 1929-1936 geboren. Ich spreche also für die Generation derjenigen, die in den späten 50er Jahren bzw. um 1960 geboren sind. Wir sind die Kinder einer Generation, die vom Krieg traumatisiert wurde, einer Generation, die - selbst noch halb Kind - das Grauen des Krieges erlebt hat und keinerlei direkte Schuld an den Verbrechen des Krieges oder der Nazizeit hatte. In der Terminologie von Sabine Bode oder Matthias Lohre sind meine Eltern „Kriegskinder“ und ich selbst ein „Kriegsenkel“.

Mein Vater stammt aus Schlesien und wurde 1944 mit 15 Jahren zum Militär eingezogen. Er stammte aus keinem Nazihaushalt und doch war für ihn völlig klar, fürs „Vaterland“ in den Krieg zu ziehen. Als Opfer fürs „Vaterland“ war ihm diese „Pflicht“, um die zentralen Begrifflichkeiten von Siegfried Lenz „Deutschstunde“ zu zitieren, vermutlich zwar keine „Freude“, aber eine nicht hinterfragbare Selbstverständlichkeit. Kaum wissend wie man ein Gewehr hält geriet er schnell in die gefürchtete russische Gefangenschaft. Nach dem Krieg rasch entlassen, flüchtete er mit seinen Eltern, seiner Schwester und seiner Großmutter vor den Russen gen Westen, eine andere Schwester blieb in Ostdeutschland hängen und wurde später DDR-Bürgerin. Auf dem Weg in den Westen starb seine greise Großmutter an der Grenze zwischen der sowjetischen Besatzungszone und dem Westen bei Helmstedt. In Westfalen angekommen schlief die Flüchtlingsfamilie wie tausende andere auch bei Bauern auf dem Lande. Und bald lief mein 16jähriger Vater täglich im Morgengrauen acht Kilometer übers Land vom Bauernhof zur Schule und mittags wieder zurück. Später machte er mit eiserner Disziplin in Rekordzeit sein juristisches Staatsexamen, alles mit dem Ziel, den eigenen Eltern, die alles verloren hatten, nicht zur Last zu fallen.

Mütterlicherseits ist meine Geschichte eine andere: meine Mutter stammte aus dem Westen und wurde 1944 im Alter von 11 Jahren gemeinsam mit ihren Eltern ausgebombt, ihre 15 jährige Schwester gemeinsam mit ihrer Mutter, meiner Großmutter verschüttet, ihr älterer Bruder wurde in Russland vermisst. Meine Familie hoffte noch zehn Jahre lang bis Mitte der Fünfziger Jahre auf seine Rückkehr aus Russland – vergeblich. Im vergangenen Sommer saß ich mit jener infolge einer Zuckererkrankung fast blinden, aber geistig vollkommen fitten Schwester meiner Mutter in einer Seniorenresidenz zusammen. Sie war 88 Jahre alt. Das Leben machte ihr mehr und mehr Mühe, Lesen war nicht mehr möglich, Fernsehen auch nicht, ein bisschen Radio ging noch – mehr nicht, und doch keine Klagen. Im Gegenteil: sie war ein trotz allem heiterer und zugewandter Mensch, und umso gesprächiger, je mehr die Außenreize abnahmen. So erzählte sie ganz offen davon, dass sie jetzt, im hohen Alter, plötzlich Angstträume befallen, Träume, die sie bisher nicht kannte. Sie selbst erklärte sich diese Träume mit ihren Erfahrungen als „Kriegskind“. Sie sei 1944 mit ihrer Mutter noch in den Keller ihres Essener Elternhaus geflüchtet und dort dann verschüttet worden. Sie erzählte, wie sie eingezwängt unter Schutt gelegen habe und sich nicht bewegen konnte, nicht einmal den Kopf. „Du weißt doch,“ sagte sie, „wie an der Schläfe die Adern hervortreten, wenn man die Zähne zusammenbeißt, oder? Selbst das war nicht mehr möglich, ich war eingezwängt wie in einem Schraubstock. Und gleichzeitig hellwach. Ich verstand alles, was die Nachbarn, was meine Mutter sagte. Ich war 14 Jahre alt. Und jetzt kommt das alles wieder hoch…“ Wenige Monate nach dieser Erzählung an mich, den Nachgeborenen, verstarb sie. Unlängst starb auch meine Schwiegermutter (*1936), sie stammte aus einer Kaufmannsfamilie aus Aussig an der Elbe in Böhmen. Ebenfalls eine Geschichte von Flucht und Vertreibung, vom Totalverlust von Heimat, Familie und Schutzraum im Alter von neun Jahren.

Soweit aus meiner eigenen Familie – viele von uns, viele von Ihnen können Geschichten von solchen Lebensläufen erzählen. Diese Kinder und Jugendlichen, meine Eltern also und somit auch die Eltern einer ganzen Generation, haben ihre Heimat verloren, sei es durch Flucht, Ausbombung oder Kriegsgefangenschaft. Ihre Familien wurden auseinandergerissen,  sie sind in einem Land aufgewachsen, das in Schutt und Asche lag, in dem bein- oder armamputierte Männer in den Straßen humpelten und Mütter und junge Frauen Trümmer beiseite schafften.  Das war Kindheit und Jugend um 1945. Die Generation meiner Eltern war zu jung, um die neue Ordnung wirklich gestaltend zu prägen und zu alt, um das eigene Leben unbeeindruckt von diesen traumatischen Erlebnissen in die Hand zu nehmen - eine schwierigere Adoleszenz ist kaum denkbar.

Es ist diese Generation der „Kriegskinder“, die uns „Kriegsenkel“ erzogen hat. Es ist schon klar: diese Generation hat uns im Wesentlichen nach den Konzepten erzogen, die sie selbst erlebt hatte. Es sind in Varianten und verschiedenen Ausprägungen die des „autoritären Charakters“, wie ihn einst das Institut für Sozialforschung mit Erich Fromm, Max Horkheimer oder Theodor W. Adorno analysiert hat. Sie, die genau durch diesen Charakter auf unfassbare Weise beschädigt worden waren, haben ihn, wenn auch abgeschwächt, weiter getragen an uns – denn sie hatten ja nichts anderes, obwohl sie selbst darunter gelitten hatten. Ich selbst habe, das muss ich zugeben, Jahrzehnte gebraucht, um über die pure Opposition hinaus zu kommen und die Zärtlichkeit für das Schicksal meiner Eltern, dieser „Kriegskinder“, wieder zu entdecken. Und natürlich fiel auch ein deutlicher Schatten auf meine Großeltern, die ich mir, kindlichen Bedürfnissen folgend, angewöhnt hatte, als grundgütige ältere Herrschaften zu verehren - Nazis waren sie nicht, immerhin etwas.... Ich weiß es nicht, vielleicht wäre ich, einige Jahre früher geboren, bei der RAF gelandet, ausschließen kann ich das nicht.

Was ist das für eine Elterngeneration gewesen, die jetzt gerade die Bühne des Lebens verlässt und die gelebte Kenntnis über das blutige 20. Jahrhundert mit ins Grab nimmt? Es werden immer weniger, die man dazu befragen kann, und sie nehmen ihre Geheimnisse mit in die Demenz oder ins Grab und damit auch den Schlüssel zu Persönlichkeitsmerkmale von uns selbst. Wie hat diese Zeit die Kindheit unserer Eltern verstümmelt, geprägt und traumatisiert?  Wie kann man mit solchen Traumata umgehen? Traumata, von denen Millionen erfasst wurden, die wie bei meiner Tante kurz vor dem Tod zurückkommen. Aber es ging auch nicht allen gleich: Nicht wenige haben es geschafft, diese Traumata ins vermeintlich Positive zu wenden. Den Krieg als Stahlbad für das Leben im Allgemeinen, für „the survival oft he fittest“, als Trainingslager für den zivilen Überlebenskampf – auch das gab es als psychologisches Muster. Nicht wenige geschickte filous haben im Krieg für den Frieden gelernt und dort Techniken erworben, sich gegen Widrigkeiten jedweder Art durchzusetzen. Nicht jeder geht mit dem Trauma gleich um, aber woran entscheidet sich das genau? Und: wie wirken sich diese Traumata auf die Nachfolgegeneration der sogenannten „Kriegsenkel“ aus? Also auf uns, auf meine Generation?

Literatur des 20. Jahrhunderts: Drei Beispiele  – Kindheit zwischen Krieg und Frieden. Literatur ist nicht klüger als die Welt, sie spiegelt sie allerdings nicht selten messerscharf – drei Beispiele.
Expressionismus – Herostrat. Das psychologische Eröffnungstableau des 20. Jahrhunderts fürchtet den Krieg nicht als Katastrophe, nein es sehnt ihn geradezu herbei: die Rede ist von der Generation meiner Großeltern. Es sind gerade die damals sehr Jungen, ab ca. 1888 Geborenen, die den Krieg als Verheißung, ja als Erlösung von ihrer kaum mehr erträglichen, stickigen Gegenwart feiern. Das ist kein preußischer „Hurra“-Patriotismus, das greift zu kurz. Nein, hier wird Krieg zum Möglichkeitsraum für den Aufbruch in eine bessere Welt, der deutsche literarische Expressionismus ist voll von diesem herostratischen und überwiegend männlichen Heldentum, das die Welt anzünden will, um sich selbst zu erneuern. Wenn man die Literatur der Zeit liest, spürt man, wie enorm der Druck bei Georg Trakl, Georg Heym („Der Wahnsinn des Herostrat“) u.a. gewesen sein muss.

Jugend ist – so sieht man - nicht unbedingt friedlich, nein, sie will sich selbst und die Welt im Blutbad erneuern – eine fatal todessüchtige Kriegs- und auch Revolutionsromantik. Diese Art von  Bereitschaft zum „Heldentum“ hat neben der kriegstreibenden Politik insbesondere des Deutschen Reichs das Europa des Ersten Weltkriegs in Schutt und Asche gelegt und zu den Massengräbern von Verdun geführt. Diese Art von Heldentum durchzieht übrigens auch die Shakespeareschen Königsdramen. Wenn wir über den islamistischen Terrorismus und seine oft erst fünfzehnjährigen „Gotteskrieger“ verständnislos den Kopf schütteln, sollten wir unsere eigene europäische Vergangenheit in Betracht ziehen, bevor wir uns über parallele Entwicklungen in anderen Kulturen erheben. Es waren schon oft gerade der Kindheit entlaufene Jugendliche, die die Welt und sich selbst pyromanisch in Brand setzen wollten...

Der Erste Weltkrieg war im übrigen der erste europäische Krieg seit dem Dreißigjährigen Krieg, der nicht von stehenden und stellvertretend agierenden Heeren gelebt wurde, sondern von den Bevölkerungen selbst.
„Mutter Courage und ihre Kinder“ – Durchschnittsmensch in Kriegszeiten. Wie kann eine ganz normale, vollkommen unheroische Durchschnittsfamilie einen Krieg überleben? Und was bedeutet dieser Überlebenskampf für die Kinder? Das zurecht berühmteste, weil hellsichtigste und vor allem realistischste Theaterstück des Zwanzigsten Jahrhunderts zu dieser Frage ist nach wie vor Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“. Hellsichtig ist es, weil Brecht seine „Courage“ bereits vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schrieb. Hellsichtig ist es auch, weil er den dreißigjährigen Krieg mit seinen unfassbaren zivilen Opfern als Folie für die eigene Gegenwart nahm. Hellsichtig ist die Stoffwahl außerdem, weil spätere Generationen den Ersten und den Zweiten Weltkrieg mit hoher Wahrscheinlichkeit als eine einzige, von einer Zwischenfriedenszeit unterbrochene Kriegsperiode von dreißig Jahren denken werden. In jedem Fall haben die Kriege des 20. Jahrhunderts, die Kriege unserer Großeltern und Eltern, Kriege, in denen so viele Zivilisten starben wie nie zuvor, die nachfolgenden Generationen tief und nachhaltig geprägt: Uns.

Brecht schildert kein Heldentum, sondern das Leben einer Durchschnittsfamilie. „Mutter Courage und ihre Kinder“ schlagen sich durch, sie sind Opfer und Täter zugleich: stets bedroht im Krieg unterzugehen, stets bemüht aber auch, im und durch den Krieg soviel zu verdienen, dass man überleben kann. Das zentrale Überlebensmittel dieser Mutter Courage ist ihre Courage, oder ihre sogenannte Courage, denn wirkliche Courage ist es nicht, sondern ein instinktsicherer Opportunismus gegenüber der jeweiligen Situation: Mal ist Krieg, mal ist Frieden im Krieg, Idyllen von Leben und Katastrophen wechseln sich unkalkulierbar ab.  Während ihre Kinder Eilif und Schweizerkas zum Kanonenfutter für den Krieg werden, lebt die Courage in unerschütterlicher Härte weiter von ihm. Sie verleugnet ihren toten Sohn, um sich selbst zu retten, zieht den Planwagen weiter, selbst noch, als ihre taubstumme Tochter überfallen und geschändet und missbraucht wird. In der berühmtesten Szene des Stücks trommelt die stumme Kathrin so laut sie nur kann und rettet damit eine ganze Stadt. Sie selbst wird erschossen und der Krieg geht weiter – auch für die Mutter Courage, die weiter von ebendem Krieg lebt, der ihr alle drei Kinder genommen hat. Das hat in seinem Realismus Shakespearesche Dimensionen!

Wir lernen mit Brecht: eine Schutzzone für die Kindheit gibt es nicht, es überleben nur die Stärksten. Man darf mit dem Gesellschaftskritiker Brecht ergänzen: Der Krieg ist hier in Wahrheit nur die Steigerung des Friedens. Denn auch da überleben nur die Stärksten – wie im Krieg. Der Tod der Kinder und der erfolgreiche Überlebenskampf der Mutter sind für Brecht zwei Seiten einer Medaille. Der Einzelne kann gegen die Grausamkeit der Verhältnisse nichts ausrichten, und die Kinder sind stets die ersten Opfer. Wir sehen hier die Welt aus der Erwachsenenperspektive – aber, insbesondere durch die taubstumme Katrin auch aus der Perspektive der Kinder. Was geschieht, wenn man die Perspektive vollständig zugunsten der Kinder verändert?
Die Blechtrommel“ und „Deutschstunde“ - Die Kriegs- und Nachkriegswelt aus der Perspektive des Kindes. Auffällig ist, dass die zwei vielleicht bedeutendsten deutschen Prosawerke nach 1945, nämlich Günther Grass „Blechtrommel“ und Siegfried Lenz „Deutschstunde“ die Welt aus der Kinderperspektive erzählen. Wie schon im 19. Jahrhundert erlaubt erst der literarische Trick der Mimikry den Erwachsenen radikale Kritik. Oskar Mazerath ist ein entfernter Verwandter der stummen Katrin, ein Gnom, der beschlossen hat, das Wachstum einzustellen, ein Gnom, der Fensterscheiben zersingen kann, ein Gnom, der die Verlogenheit einer Erwachsenenwelt zeigt, die den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, die Nazizeit und die frühe Bundesrepublik geprägt hat. Indem er nicht wachsen will, beschließt er, niemals zu dieser erwachsenen Welt dazugehören zu wollen. Konsequenterweise verbringt er die 50er Jahre in einer Heilanstalt und bringt dort seine Lebensgeschichte zu Papier. Ähnlich übrigens verhält es sich in Siegfried Lenz „Deutschstunde“. Hier ist der Polizistensohn Siggi Jepsen Insasse der Heilanstalt Hahnöfersand für schwer Erziehbare und scheitert an der Aufgabe, einen Essay „Über die Freuden der Pflicht“ zu schreiben. Der Grund: Ihm fällt dazu zu viel ein, nicht zu wenig! Das klingt wie eine literarische Pointe, aber es ist viel mehr: Hier ist ein Kind, das von den Zumutungen von Nationalsozialismus und Krieg so stark beschädigt ist, dass es sein Heil in der Sonderrolle der Devianz sucht.

Es ist ein psychologisch hochinteressanter Trick, aus der Überforderung, mit den Zumutungen der Erwachsenenwelt klarkommen zu müssen, in ewige Kindlichkeit, verfrühtes Greisentum, in die Figur des Schelmen und Narren, ja in die der Verrücktheit oder Schwererziehbarkeit auszuweichen. Dies ist übrigens der Grund für eine sehr überzeugende Aufführungskonvention bei Shakespeares „King Lear“. Dort nämlich wird in den allermeisten Aufführungen die Rolle der jüngsten und reinsten Tochter Cordelia mit der des Narren doppelt besetzt...

Im Krieg geboren: die Kinder der Täter (68er und RAF). Die oben geschilderten Auswege in Kindlichkeit und Narrentum taugen mehr für die Literatur als für das wirkliche Leben. Die direkten Kinder der Täter, die Kinder von Nazi- bzw. Kriegsverbrechern hatten anderes zu tun.
Der Zweite Weltkrieg war zwar zu Ende, aber er fand in der Familienaufstellung seine Fortsetzung. Die Kinder der Täter und Mitläufer mussten mit der Vergangenheit ihrer Eltern klarkommen. Sie hatten es mit Gnade und Vergebung, mit Aufarbeitung, Vergeltung und Entlarvung, Gewalt und Gegengewalt zu tun und mussten sich entscheiden. Über der Konstellation von traumatisierten Tätern und Mitläufern und ebenfalls traumatisierten Kindern sind viele Familien zerbrochen. Der Krieg verlagerte sich in die psychologische Konstellation zwischen Eltern und Kindern.

Die lebenskulturelle Selbstbefreiung der 68er ist nur in diesem Kontext zu verstehen, die Gewalttaten der RAF mit ihrem Höhepunkt im Jahr 1977 ebenfalls. Zu erinnern ist auch an das bahnbrechende Buch „Schuldig geboren“ (1987) von Peter Sichrovsky, das Täterkinder sprechen lässt, Kinder also, die entdecken, dass ihre Eltern in der Nazizeit Verbrechen begangen haben. Es sind Erzählungen traumatisierter Kinder, die gar nichts verbrochen haben, außer, dass sie eben Kinder genau dieser Eltern waren.
Von Konstellationen dieser Art erzählt Shakespeare viel und bezieht sich dabei seinerseits nicht selten auf die Dramen der Antike.

Konflikte und Lösungen - Familienaufstellungen der Antike. Die antiken Familienaufstellungen sind privat, archetypisch und zugleich gesellschaftlich: sie zeigen prinzipielle Konstellationen zwischen Vätern und Söhnen, Müttern und Söhnen, Vätern und Töchtern wie auch zwischen Müttern und Töchtern. Der gesamte griechisch-jüdische Götterhimmel ist voll von solchen Konstellationen. Vor allem aber ist hier natürlich von den sechs entscheidenden griechischen Archetypen zu reden, die bis heute Literatur, Psychoanalyse und Gesellschaft durchdringen: die vier Geschwister Orest, Elektra, Chrysothemis und Iphigenie sowie Ödipus und Antigone. In ihnen erzählt sich vor allem, wie Adoleszenz ihre je eigene Haltung zur Welt der Erwachsenen, und das ist oft eine Welt des Krieges, zu finden sucht.

Die Grundgeschichten sind bekannt: Agamemnon und Klytämnestra haben vier Kinder: Iphigenie, Elektra, Orest und Chrysothemis. Agamemnon opfert seine Tochter Iphigenie für den Krieg. Als Agamemnon aus dem Krieg heimkehrt, tötet Klytämnestra Agamemnon gemeinsam mit ihrem Liebhaber Aigisth. Soweit zu den Verbrechen der Eltern. Wie aber können sich Kinder zu den Verbrechen der Eltern verhalten? Elektra will den Tod der Mutter und bittet ihre Schwester Chrysothemis vergeblich um Hilfe, die Kraft des Weiblichen erweist sich als zu schwach, die beiden Schwestern versinken in Trauer und Agonie. Also bittet Elektra ihren Bruder Orest, den Muttermord zu begehen. Und tatsächlich tötet Orest seine Mutter. In der Folge entbrennt eine erbitterte Auseinandersetzung um die Legitimität der Tat. Ist Orest ein zu bestrafender Muttermörder, oder ist seine Tat gerechtfertigt? Das Ergebnis ist bemerkenswert: Orest wird nach langem Hin und Her tatsächlich freigesprochen. Die handlungsgehemmte Elektra und der Täter Orest – das ist die Konstellation, die in Shakespeares „Hamlet“ in eine einzige mit sich selbst zerfallene Figur rutschen wird. Verstärkt wird die Kontingenz bei Shakespeare noch durch den ödipalen Konflikt Hamlets. Man sieht, wie Geschichten sich über Jahrhunderte weiter erzählen: Von der Antike über die Renaissance ins Heute.


Nahezu die gesamte deutsche Nachkriegsgeschichte bzw. das Verhältnis der im Krieg geborenen Kinder zu ihren Eltern ist über die antiken Archetypen Orest, Elektra und Ödipus darstellbar – gern vermittelt über die Renaissancefigur Hamlet, über Shakespeare also. In diesen Figuren ist die Debatte der Nachkriegszeit von Sartres „Fliegen“ bis zur RAF enthalten. Wie können Frauen sich von der Gefahr der Kraftlosigkeit, wie sie der antike Mythos vorhält, emanzipieren und Subjekt, und also auch Täter werden? Und: wenn es in der Antike legitim ist, das Gewaltmonopol des Staates zu brechen und die Generation der Täter hinzurichten, und seien es die eigenen Eltern – warum dann nicht auch heute? Es sind also hier die Kinder selbst, die einen neuen Krieg beginnen – es ist der Krieg gegen die eigenen Eltern und deren Verbrechen. Es ist eine Generation von Kindern, die die Kriegsgeneration der Eltern nach ihren eigenen Ansprüchen bewertet und verurteilt. Die RAF hat immer darauf bestanden, dass sie sich im Kriegszustand befindet. Es ist nicht nur ein Krieg gegen die Welt gewesen, sondern auch einer gegen die eigenen Eltern.

Aber – und das sei nicht unterschlagen - es gibt in der Antike auch Gegengeschichten, Geschichten des Humanen: die junge Antigone besteht darauf, trotz Krieg ihren Bruder Polyneikes zu beerdigen und stemmt sich mit der Kraft natürlicher Humanität gegen die Kriegswelt des Realen. Und Iphigenie findet, obwohl von ihrem Vater geopfert, die Kraft zur Humanität. Es ist offenbar – so erzählt die Antike – durchaus möglich der ewigen Dialektik von Gewalt, Krieg und Vergeltung zu entkommen. Und zwar gerade indem sich die Kinder auflehnen und den Kreislauf der Erwachsenenwelt durchbrechen und so den Krieg zum Stillstand zu bringen versuchen.

Es gibt im übrigen – jedenfalls soweit ich es erinnere – in der Antike nur zwei Dramen, in denen Kinder im eigentlichen Sinne überhaupt eine Rolle spielen – allerdings als Funktion der Erwachsenenwelt. Der erste Auftritt des Kindes in der Weltliteratur ist der Auftritt als Opfer. Am Beispiel des Kindes verhandelt der Grieche Euripides die Frage, wie verzweifelt ein Erwachsener, hier eine Mutter, sein muss, dass sie ihre eigenen Kinder umbringt: Medea. Wenige Jahrhunderte später erzählt dann Seneca, wie ein Mann an seinem Bruder Rache nimmt, indem er ihm die eigenen Kinder zum Essen auftischt („Thyestes“). Seneca war einer der wichtigsten Lehrmeister von Shakespeare, indem er den Verbrecher zum Protagonisten machte und den Zuschauer ins Vertrauen über dessen Leidenschaften zog. Er erzählte, wie die Demütigung des Menschen zu unvorstellbaren Gewaltexzessen führen kann, und sei es zum Kannibalismus an Kindern, die ihren Eltern zum Essen vorgesetzt werden. Die Grausamkeit, zu der Menschen in der Lage sind, kennt keine humanitären Grenzen. Das Festival in Avignon wird im Sommer 2018 ausgerechnet mit diesem Stoff, der die unfassbaren Gewaltbereitschaft des Menschen ausgerechnet an der Gewalt an Kindern erzählt, auf der gigantischen Open-Air-Bühne im Papstpalast eröffnet werden. Der Mistral wird wehen und die Festgemeinschaft wird sich am frühen splatter berauschen? Hieran knüpft Shakespeare an.

Shakespeares Kriege – Shakespeares Sehnsucht nach Frieden – Kinder bei Shakespeare.  Shakespeares Ausgangspunkt ist – das darf man im Folgenden nicht vergessen – niemals das Kind. Ich habe schon erwähnt, dass Kindheit eigentlich eine Erfindung des 19. Jahrhunderts war. Vorher gibt es Kindheit in unserem Sinne nicht. Und sein Ausgangspunkt ist auf den ersten Blick auch nicht die „Sehnsucht nach Frieden“. Falls sie existiert, ist sie hart erarbeitet. Machen wir uns auf den Weg.

Im spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Weltbild ist der Mensch Material, sonst nichts. Verbrauchsmaterial des geschichtlichen Prozess. Niemand erzählt davon so gnadenlos wie der noch am Mittelalter geschulte Shakespeare. Und Kinder sind, ohne dass ihnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, Teil dieses Materials. Zwar gibt es immer mal historische Inseln oder Sonderzonen des Humanen, aber sie sind selten. Das Humane an sich setzt sich nachhaltig erst seit der Aufklärung durch. Vorher sind Kinder allenfalls ideologische Instrumente, um über die Behauptung von „Auserwähltheit“ theokratischen oder theologischen Systemen Durchsetzungskraft zu verleihen.

Kindheit kommt – gemessen am dem immensen Gesamtwerk – bei Shakespeare eigentlich nicht vor. Kind sind nichts, aber auch gar nichts im Spiel der Macht. Andererseits ist der skrupellose, ja der kannibalistische Umgang mit Kindern offenbar doch ein Tabubruch. Was heißt das nun eigentlich?
Titus Andronicus und Macbeth „Titus Andronicus“ ist Shakespeares möglicherweise frühestes Stück und, Mode der Zeit folgend, sein brutalstes, - die bis vor einigen Jahren gängigen Splattertrips sind nichts dagegen.

Das Stück beginnt mit der abermals siegreichen Heimkehr des römischen General Titus aus den Kämpfen gegen die Gotenkönigin Tamora. Es ist ein Krieg, der alle alles kostet. Noch bevor das Stück beginnt, sind bereits 21 (!) Söhne des Titus gefallen. Er hat sie nacheinander mit in die meist siegreichen Schlachten genommen, sobald sie in der Lage waren, ein Schwert in die Hand zu nehmen – Kindersoldaten, Menschenmaterial. Siegreich heimgekehrt lässt er - nach römischem Brauch - den ältesten Sohn der gefangenen Gotenkönigin Tamora zerstückeln und verbrennen. Ausgerechnet die Gotenkönigin fordert von der römischen „Zivilisation“ vergeblich ein Ende der alten barbarischen Bräuche. Die sich ins Aberwitzige steigernde Rachetragödie nimmt ihren Lauf. Sie verschont niemanden, Saturn frisst seine Kinder. Die Gotenkönigin Tamora schlägt zurück: ihr gelingt es, den verbliebenen Söhnen des Titus einen Mord in die Schuhe zu schieben, sie werden verhaftet, deren Bruder, der sie retten will, verbannt. Außerdem wird Titus Tochter Lavinia – auch dies ist ein Teil der Rachestrategie der Gotenkönigin - vergewaltigt, und damit sie nicht davon erzählen kann, wird ihr die Zunge herausgeschnitten und die Hände abgehackt. Aber damit nicht genug: Titus wird versprochen, er könne seine Söhne retten, wenn er sich eine Hand abhacken würde. Er tut es und bekommt postwendend die Köpfe seiner Söhne. Titus wiederum rächt seine Tochter, indem er die Söhne der Gotenkönigin, tötet, ihre Knochen zermahlt und deren Mutter als Pastete zum Essen vorsetzt. Dies erinnert an Seneca, wo Atreus seinem Bruder Thyestes dessen eigene Kinder auftischt. Geht es grausamer? Schließlich ersticht Titus Andronicus seine geschändete Tochter, bevor er selbst vom Kaiser umgebracht wird. Sein letzter Sohn, der 25., überlebt, ersticht den Kaiser und wird nun selbst Kaiser.

Was soll man dazu sagen? Shakespeare erzählt von der Selbstvernichtungsmaschine Mensch. Von der Bestie Mensch. Von der Welt als Schlachthaus. Gesteigert, indem selbst die eigenen Kinder geopfert und hingerichtet werden, gequält, zerstückelt und am Ende sogar aufgegessen. Abu Ghraib ist nichts dagegen.
Shakespeare erzählt eine Welt voller Irrsinn und Blutrunst, nicht nur in „Titus Andronicus“, sondern später auch in „Richard III.“, „Macbeth“ oder „König Lear“. Sie alle sind Wahnsinnige, die ihren Kompass verloren haben und in der Angst, ihre Bedeutung zu verlieren, um eben diese Bedeutung ringen und alles zerstören, was sie hindern könnte. Das sogenannte Realitätsprinzip verliert hier und findet keinen Halt mehr, Politik als rationale Gestaltung von Wirklichkeit findet nicht mehr statt. Stattdessen machen Einzelne, durch nichts kontrolliert, hemmungslos ihre eigene narzisstische Bedeutung zum obersten Handlungsprinzip. Befriedigt werden kann die Sehnsucht nach Bedeutung vor allem durch das Hinterlassen eigener Werke, sei es durch ein glänzendes Königtum, einen geordneten Nachlaß oder auch durch eigene Kinder. Erschwerende Sonderbedingungen wie etwa ein durch nichts auszugleichender Makel –z.B. körperliche Gebrechen wie Richards Buckel oder die Kinderlosigkeit des Ehepaar Macbeth – steigern die Raserei ums eigene Ich. Shakespeare entwirft hier nichts weniger als eine frühe Psychopathologie von Massenmördern.

Aber zurück zu der Frage, welche Rolle Kindheit bei Shakespeare spielt. Ist sie tatsächlich ohne jede Bedeutung? Oder ist der Kannibalismus an Kindern in „Titus Andronicus“ nicht im Gegenteil gerade ein Zeichen für die besondere Schutzwürdigkeit und Bedeutung von Kindern? Einen Hinweis in diese Richtung gibt auch das Schicksal von Macbeth und seiner Lady. Beide empfinden das Fehlen eigener Kinder als Makel und richten sich destruktiv gegen die ganze Welt. So wird aus dem privaten Unglück der Kinderlosigkeit ein öffentliches Unglück für alle.

Es gibt zu der Frage von Gewalt und Gewissen bei Shakespeare eine außerordentlich erstaunliche These von Jan Philipp Reemtsma. Er hat sie vor ca. zehn Jahren bei einem Vortrag im Wiener Burgtheater entwickelt. Dazu später. Zunächst gilt es, sich über „Shakespeare, Kinder und Gewalt“ anhand weiterer Stücke ein Bild zu machen.



Die Maschine der Gewalt – „Rosenkriege“ und „römische Tragödien“: Es ist vollkommen aussichtslos, hier das über 1000 Seiten ausgebreitete Gemetzel der Shakespeareschen Königsdramen, bekannt auch als „Rosenkriege“ nach zu erzählen. Interessant ist allerdings die Frage, warum ein Autor tausende von Seiten mit Gewalt und Krieg füllt – eine Frage, die mich schon seit einigen Jahren umtreibt. Auch hierauf komme ich an späterer Stelle zurück.

Wie beginnt Shakespeare das Riesenwerk der „Rosenkriege“? Es beginnt zwar nicht mit einem Kind, aber mit einem kindlichen König bzw. einem künstlerischen Menschen, der sich mehr für die schönen Dinge des Lebens interessiert als für die schmutzige Welt der Realpolitik. Richard II. ist ein zielloses, nach Aufmerksamkeit heischendes Waisenkind. Shakespeare zeigt einen Schöngeist an der Macht, der zurecht untergeht. Er ist in einer Kunstwelt gefangen wie später auf ganz andere Weise der kindliche Ludwig II. von Bayern. Der politische Schwächling muss abtreten, und die Pragmatiker der Macht übernehmen das Geschäft. Doch mit seinem politisch berechtigten Untergang wird zugleich etwas anderes unwiederbringlich zerstört: die Aura der Schönheit und des Besonderen. Damit ist nicht nur Richards Dandyismus gemeint, sondern vor allem die Poesie seiner musikalisch-dichterischen Sprache.

Die nur selten bemerkte Pointe aber ist, daß der Künstler Shakespeare den Beginn seines Zyklus erst ganz am Schluss schrieb und das Scheitern von Richards poetischer Kunstwelt nachträglich und daher offenbar programmatisch an den Beginn setzte. Richard II. produziert durch sein Verhalten ein realpolitisches Vakuum und leistet so der Gewalt Vorschub, die dann den ganzen Zyklus dominiert. Die Gegenlinie der Realpolitik – usurpiert die Macht während Richard II. nach Frankreich flüchten muss. Diese Usurpation ist sozusagen der Sündenfall, der alle späteren Kriege auslöst. Wenn man so will wird hier die kindliche Wirklichkeitsferne zugunsten von realer Machtpolitik beseitigt. Das ist – so scheint es mir - Shakespeares schmerzhafter Realismus.

Sein Nachfolger, der Usurpator Heinrich IV., ist ein Despot und Diktator, ganz der Herrschaft verfallen. Interessant ist, dass sein junger Sohn, Kronprinz Heinz, später Heinrich V., sich nicht auf sein späteres Königtum vorbereitet, sondern sich dialektisch zum Vater verhält: Er verweigert sich der realen Welt und lebt sein Leben an der Seite der Volksfigur Falstaff. Auch er also flüchtet vor der Realpolitik in das Ausleben der eigenen Jugend, in den Genuss, in die krasse Welt Falstaffs, eine sinnlich-barocke und schmutzige Volksfigur. Er tauscht das väterliche Realitätsprinzip gegen das alternative Lebensmodell eines anderen, eines Ersatz-Vaters, nämlich Falstaffs. Als sein leiblicher Vater stirbt, übernimmt der Sohn als Heinrich V. die Macht. Er begeht sofort Verrat an der Gegenwelt und ergibt sich dem Realitätsprinzip. Eine seiner ersten Amtshandlungen: Die Falstaff-Welt wird geopfert und muss untergehen. Die Falstaffs dieser Welt werden – anders als in der Falstaff-Kneipe geträumt – niemals Minister. Shakespeares Welt war ohne Alternativen. Das Väterprinzip hat abermals gesiegt, indem die Jugend ihre Jugend opfert.

Es folgen drei Teile „Heinrich VI.“ Er ist der Sohn von Heinrich V. und zu Beginn tatsächlich ein Kind. Hier wiederholt sich, was wir schon kennen: Andere Parteien besetzen das Machtvakuum. Als Heinrich VI. dann älter wird, setzt sich dieses Vakuum fort, denn er interessiert sich mehr für Kontemplation und pastorale Utopien als für Machtkämpfe. Die Abwesenheit von Herrschaft stärkt aber nicht den Frieden, sondern ganz im Gegenteil. Das Fehlen einer Ordnungsmacht führt zur Fortsetzung der Bürgerkriege. Als Heinrich VI. verhaftet wird, sagt er den schönen Satz „Meine Krone ist mein Herz.“ Als er schließlich umgebracht wird profiliert sich im Kampf um dessen Nachfolge ein gewisser Richard. Schon hier heißt es von ihm, er sei eine Figur, die "man noch kaum bemerkt in der Welt", er sei jemand, "der nichts weiß von Mitleid, Lieb' und Furcht".
Am Schluss all des Mordens steht der Tyrann „Richard III.“, der seinen Buckel vergessen machen will. Er ist eine schillernde Figur, der Teufel als Richter. Er bringt all die um, die tatsächlich Verbrecherisches getan haben und hält sein Gottesgericht sozusagen von der falschen Seite ab. Ausgerechnet er, der völlig Gewissenlose, sorgt für Gerechtigkeit, indem er alle Schurken der Vergangenheit umbringt. Richard III. ist ein blutiger Clown, er beherrscht die Geschichte als Farce. Er ist ein hochintelligenter, grausamer Spieler, es geht ihm ausschließlich um Macht. Am Schluss aber hat auch er alles verloren. Am Ende allen Schlachtens und des Shakespeareschen Zyklus insgesamt steht Richard III. beinahe nackt da, ihm ist alles zerronnen: „Ein Pferd! Ein Pferd! Mein Königreich für ein Pferd!“ Der Mensch hat den hybriden Kampf um Macht und Bedeutung verloren.

England hat sich – so eine gängige Interpretation – selbst bestraft. Es folgt die lange und friedliche Tudorzeit mit Elisabeth I von England.


Zwischenbilanz: Saturn frisst seine Kinder, tausend Seiten lang, mit unzähligen Gemetzeln und Toten. Der Krieg ist eine Hydra, der immer wieder Köpfe nachwachsen. Und das Ganze ein ewiger Mechanismus von Mord und Krieg. In den Königsdramen werden Kindheit und Jugend vom Krieg verschlungen wie alles andere auch. Und die jugendlichen Gegenwelten entfalten nicht genügend Kraft, um sich gegen den Sieg des erwachsenen Gewaltmechanismus zu stellen – sie sind zu schwach. Gleichzeitig aber hat sich die Welt des Realen vollkommen diskreditiert. Eine Pattsituation. Von Gewalt erschöpft folgte in England die elisabethanische Friedenszeit.

War Shakespeare von Gewalt fasziniert? Angeekelt? Warum hat er so viele Jahre seines Lebens dem Tod gewidmet? Ist er noch ganz vom Mittelalter mit seiner Geschichtsphilosophie des unabänderlichen „Rad der Fortuna“ gefangen? Wir wissen es nicht. Die Gründe sind nicht überliefert. Vielleicht gibt es auch keine. Der amerikanische Philosoph George Steiner meinte: Shakespeare ist „kein offenkundiger Lehrer und Beschützer der verwirrten und gefährdeten Menschheit“, sondern er hat „die leidenschaftslose Neutralität des Sonnenlichts oder des Windes.“
Jan Philipp Reemtsma, Literaturwissenschaftler und Begründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat eine andere, eine hochinteressante Theorie zu Shakespeares Sicht auf Gewalt, Moral und Macht. Reemtsma sagt, die Renaissance habe – siehe Machiavelli - ein rein instrumentelles Verhältnis zur Gewalt gehabt. Shakespeare gehe über diesen Ansatz deutlich hinaus und erweise sich bereits als Kind der Moderne, für die „Gewalt immer unter moralischem Verdacht“ stehe.

Es sei zwar wahr, man fände in „Titus Andronicus“ keine Infragestellung der Gewalt. Aber gerade die beiden blutigen Stücke „Macbeth“ und „Richard III“ würden von etwas grundsätzlich Neuem, von etwas sehr Modernem erzählen, nämlich von der „Entwicklung des gewaltempfindlichen Gewissens.“  Ich zitiere: „Im „Titus Andronicus“ interessiert sich keiner für die Schmerzen des Anderen; im „Richard III“ regt sich, was noch Gewissen werden soll, in der Angstphantasie, es möchte dem mörderischen Politiker so gehen wie seinen Opfern; und es sind die Exekutoren des Mordes, die Mitleid mit ihren Opfern haben; in „Macbeth“ erfährt die, die zuvor kalt den Mord getrieben hat, dass der Mörder nicht nur mordet, sondern sich selbst antut, ein Mörder zu sein.“
Die entsprechenden Textpassagen, auf die sich Reemtsma hier beruft, beziehen sich übrigens ... auf Kinder: In „Richard III“ sind es Handlanger, die zwei kleine Kinder umbringen, ja sie im Tower erwürgen sollen. Ihre eigene Tat bringt sie fast moralisch, die gedungenen Mörder haben tiefe Skrupel. Und Macbeth wird, wie auch seine Frau, von seinen Mordtaten gequält, u.a. übrigens, weil er MacDuffs Kinder hat ermorden lassen. 
Shakespeare zu interpretieren ist übrigens immer ein sehr zweifelhaftes Unternehmen: Denn selbst In „Titus Andronicus“ gibt es eine Stelle, die dazu verführen könnte, Gewissen und Menschlichkeit zu vermuten. Da geht es allerdings nicht einmal um ein Kind, sondern um die Trauer des Titus um eine tote Fliege. Ob das Ausdruck echter menschlicher Rührung oder des Wahnsinns der Figur oder des Zynismus von Shakespeare ist, sei dahingestellt...

Das Gewissen ist im landläufigen Sinne die Urteilskraft des Menschen gegenüber seinen eigenen Handlungen. Reemtsma sagt, „das Gewissen sei der internalisierte Blick der anderen auf uns“. Es kann den gesamten Menschen ergreifen und zerstören. Wir werden Zeuge, wie sich dieses Gewissen bei Shakespeare entwickelt, seine Beispiele: immer wieder anhand von Kindern.


Aufstand der Jugend gegen die Welt der Erwachsenen – „Romeo und Julia“, „Hamlet“, „Mass für Mass“. Schon in den Königsdramen war nicht nur von Kindheit, sondern auch von den Ausweichbewegungen der Adoleszenz gegenüber der Erwachsenenwelt die Rede. Dieser Grundkonflikt ist ein wesentlicher Kern von Shakespeares dramatischen Konflikten und gerade für seine bis heute berühmten Stücke konstituierend. In ihnen positioniert sich – wie schon in der Antike (Antigone) – Jugend und Adoleszenz gegen die formierte Welt der Erwachsenen. Sie akzeptiert den Lauf der erwachsenen Welt nicht und entwirft eine Gegenwelt, in der Gewalt und Krieg keinen Platz haben sollen.

Im Folgenden in wenigen schlichten Sätzen drei Shakespearegeschichten:
Zwei junge Menschen lieben sich – beide fast noch Kinder. Unglücklicherweise sind ihre Familien restlos zerstritten und bekämpfen sich. Die Liebe der beiden Kinder will größer sein als der Dauerkrieg der Erwachsenen und soll diesen möglicherweise beenden. Die Gegenwelt der Liebe könnte – so die Hoffnung – die Realitäten der Erwachsenenwelt besiegen. Die beiden jungen Menschen scheitern und besiegeln ihre ewige Liebe im Grab.

Eine andere Geschichte: Eine Frau trennt sich von ihrem Ehemann und nimmt sich deren Bruder als Liebhaber. Um die neue Liebe leben zu können, töten sie gemeinschaftlich den Ehemann – Krieg in der Familienaufstellung. Da es sich allerdings um ein Königspaar handelt, steht eine Staatskrise im Raum. Der Sohn ahnt das Verbrechen, ist zwischen Vater- und Mutterliebe zerrissen, schwankt zwischen Mord an dem verbrecherischen Liebespaar und Selbstmord und kann, selbst als es ihm gelingt das Verbrechen aufzudecken, die Ordnung nicht wiederherstellen. Anders als Orest schafft er es nicht, Täter zu werden, und scheitert.

Und schließlich als Letztes die Geschichte eines Geschwisterpaars: Sie ist eine jungfräuliche Novizin, er ein lebensfroher junger Mann. Er ist wegen eines moralischen Vergehens von einem ethischen Fundamentalisten zum Tode verurteilt worden. Das junge Mädchen kämpft, wie Antigone, mit aller Kraft um Barmherzigkeit für ihren sündhaften Bruder und setzt sich gegen Staatsraison und für Menschlichkeit ein. Der Machthaber will Gnade vor Recht ergehen lassen, allerdings als Tauschgeschäft: er will ihre Jungfräulichkeit gegen das Leben des Bruders. Die drohende Tragödie der Vergewaltigung und des Siegs der Doppelmoral vermeidet Shakespeare durch dramaturgische Tricks. In der Folge können sich Bruder und Schwester in die Arme schließen: Ein Sieg von Menschlichkeit und Jugend gegen die Welt der Erwachsenen.
Drei Mal widersetzt sich die Jugend der Welt und will Krieg und Konflikte in der Welt überspielen, aufklären oder abschaffen, zwei Mal scheitert sie, ein Mal sorgt der Autor Shakespeare mit dramaturgischen Tricks für Heilung. Und doch: auch wenn die Welt der Erwachsenen scheinbar gewinnt: Unsterblich sind die Jungen: Romeo, Julia, Hamlet, Isabella, nicht die Erwachsenen.

Grundsätzlich kann sich Shakespeare eine Welt ohne Krieg offenbar kaum vorstellen. Davon erzählen die Machtkämpfe der Königsdramen, die Fehde zweier Clans in „Romeo und Julia“, der innerfamiliäre Krieg in „Hamlet“ oder die brutale Durchsetzung von Tugendrigorismus in „Maß für Maß“. Falls man guter Hoffnung ist, in den Komödien besser aufgehoben zu sein - weit gefehlt. Anders als in den Tragödien, die oft die Kriege erzählen, ist der Krieg in den Komödien lediglich seit kurzem vorbei, der Schlachtdampf verraucht gerade. Und kaum ist Frieden löst der Liebeskrieg den realen Krieg ab und die Paare kämpfen bis aufs Blut. Das ist selbst in einer so harmlosen Komödie wie „Viel Lärm um nichts“ so. Und wie beginnt Shakespeares berühmteste Komödie, sein „Sommernachtstraum“? Am Anfang ist der Krieg des Fürsten Theseus gegen die Amazonenkönigin Hippolyta...
Warum kann sich Shakespeare eine Welt ohne Krieg partout nicht vorstellen? In seinem Alterswerk aber erzählt er umso mehr von seiner Sehnsucht nach Frieden.
Shakespeares Sehnsucht nach Frieden – „König Lear“
„Lear“ und „Sturm“  sind zwei Stücke des Alters und des Abschieds von der Macht. Zwei alte Herrscher versuchen ihr Werk an die nächste Generation, an ihre Kinder zu übergeben. Am Ende beider Stücke stehen tief berührende Szenen von Vater und Tochter.

Der greise Lear will sein Imperium geordnet an seine Kinder, an drei Töchter übergeben. Er scheitert hierbei – aus Mangel an Menschenkenntnis – völlig und endet im Wahnsinn auf der Heide. Interessant ist, dass er sich vor allem in seiner jüngsten, der reinsten und unschuldigsten Tochter täuscht und gerade ihr, der einzigen, die es verdient hätte, nichts zutraut. Interessant ist hier auch, dass gerade sie, die Missachtete, in das Gewand des Narren, in eine andere Figur schlüpft, um überleben zu können. Oskar Matzerath – ich erwähnte es – lässt grüßen. Der Narr als Kind, das Kind als Narr.
In „König Lear“ gibt es eine Szene, die es nie zuvor in einem der vielen von mir zitierten Shakespearestücke gab, eine tief berührende Szene zwischen Vater und Tochter, zwischen dem nackten wahnsinnigen Lear und seinem treuen Kind Cordelia. Beide sind vom Kerker bedroht, und der Vater träumt von einer Freiheit, die er nie gekannt hat: „ Wir beide allein wollen singen wie Vögel im Käfig; wenn du meinen Segen erbittest, will ich niederknien und von dir Vergebung erbitten; so wollen wir leben und beten und singen und alte Geschichten erzählen und lachen und über goldene Schmetterlinge und arme Schufte reden hören von Hofneuigkeiten; und wir wollen auch mit ihnen reden, wer verliert und wer gewinnt; wer drinnen und wer draußen ist, und uns mit den Geheimnissen der Dinge befassen, als ob wir Kundschafter der Götter wären: und wir werden überdauern, in einem ummauerten Gefängnis, Cliquen und Parteien von Großen, die ebben und fluten mit dem Mond.“

Hier ist sie endlich nach unfassbar vielen Stücken: Shakespeares Sehnsucht nach Frieden. König Lear wird sie von seinem Kind, von seiner Tochter geschenkt. Allerdings muss erst ein Reich untergehen, um sie zu ermöglichen. Erstmals hat hier eine Figur die Kraft, um „Vergebung“ zu bitten, ein Vater seine Tochter! Das Gewissen, von dem Reemtsma spricht, hier ist es.


Shakespeares Sehnsucht nach Frieden – „Der Sturm“
Am Ende seines Lebens versucht Shakespeare mit seinem letzten Stück gegen alle Lebenserfahrung Abstand von Macht und Krieg zu gewinnen. „Der Sturm“ ist Shakespeares einziges Drama, das er völlig frei erfunden hat. Es ist das Vermächtnis eines Dichters, der den Frieden sucht.
Auch hier geht es um das Verhältnis eines Vaters zu seinem Kind, zu seiner Tochter Miranda. Prospero ist vor Jahren von der Macht vertrieben worden und wohnt mit seiner Tochter auf einer Insel. Außer ihrem Vater, Inselgeistern und dem Monster Caliban kennt sie nichts von der wirklichen Welt.
Vielleicht darf man sich vorstellen, Shakespeare selbst sei dieser Prospero. Er hat alle Machtkämpfe (bzw. Königsdramen) durch, und versucht am Ende seines Lebens aus diesem sich immer und immer und immer wiederholenden System auszubrechen. So ist Prosperos „Rache“, nämlich seine einstigen Widersacher auf der Insel scheitern zu lassen, nur noch ein Theaterspiel, ein letztes, das er braucht, um sich von alten Hass- und Rachegefühlen zu lösen, ein Spiel auch, in dem er seiner Tochter zeigt, wie die Welt ist, ein Spiel, indem er seine Tochter einer Initiation unterzieht, die sie, die wie Kaspar Hauser nichts von der Welt weiß, für die Welt vorbereitet, - so vorbereitet, dass sie keinen Schaden nimmt und hoffentlich nicht in die gleichen Mechanismen verfällt. Die junge Tochter, halb Kind, halb Adoleszent, ist die Zukunft. Ihr Vater gibt sie frei, gibt Ariel, den Luftgeist frei, gibt Caliban frei, gibt seine Widersacher von einst frei. Und das Kind entdeckt einen jungen Mann namens Ferdinand, sie schwärmt begeistert von der, wie sie sagt, „brave new world“. Die Welt liegt offen vor ihr. Und alles ist gut.

Die letzte Szene des König Lear und Shakespeares „Sturm“ – beide erzählen äußerst berührend von dem Verhältnis eines Vaters zu seinem Kind, zu seiner Tochter – auf einem innerlich durchdrungenen Niveau, das völlig aus Shakespeares Zeit fällt, und auch völlig aus seinem sonstigen Werk. Tausende von Versen hat Shakespeare gebraucht, um an diesen Punkt zu kommen, der es ihm dann erlaubte, friedlich zu werden und zu sterben. Warum hat er dafür so unendlich lange gebraucht und sich abgekämpft? – Ein Rätsel, oder auch nicht.
Doch sät Shakespeare gleich wieder zarte Zweifel: denn ob die Tatsache, dass Ferdinand und Miranda Schach spielen, eine gute Nachricht ist, lässt sich nicht wirklich klären. Vielleicht bereitet sich hier die Generation der Kinder auf die Machtspiele der Zukunft vor? Muss sie das Spiel von Macht und Gewalt genauso durchspielen wie alle Generationen zuvor? Das erfahren wir Gottseidank nicht mehr. Wir haben die Shakespearesche Welt von frühen Gewaltexzessen über die Entwicklung des Gewissens bis zu dem Punkt durchschritten, wo Prospero stirbt und mit ihm Shakespeare. Und wir wollen gern glauben, dass Shakespeares Botschaft die ist, das Kindheit und Jugend zu Utopien in der Lage ist, denen sich die Erwachsenen nicht verschließen sollten.

Schluss: Zurück zum Anfang, zurück zur Wirklichkeit. Am Anfang stand unsere eigene Wirklichkeit und Zeitgenossenschaft und nicht Shakespeare. Und so möchte ich auch nicht mit Shakespeare, sondern mit unserer eigenen Gegenwart enden.

Wir leben in einem Land, in dem die Generation der Kriegskinder, die ihre Kindheit zwischen Krieg und Frieden verbracht hat, gerade abtritt und stirbt. Als ihr größtes politisches Vermächtnis an die Kriegsenkel hat sie die Vision einer europäischen Friedensordnung hinterlassen – ein Erbe, das manche gerade verspielen wollen. Ist es ein Zufall, dass genau in dem Moment, wo die im tiefsten Ich aufbewahrte Erinnerung an Krieg und Gewalt keine gelebte Zeugenschaft mehr ist, Nationalismus und Gewaltbereitschaft wieder blühen? Als müsse jede Generation aufs Neue ihre eigene Erfahrung mit Krieg selbst machen? So wie bei Shakespeare? Ja, ist es so, dass jede Generation aufs Neue psychopathologisch Emotionen wie Hass, Aggression, Destruktion durchleben muss, um sich die Utopie von Frieden erst wieder neu zu verdienen? Können Elterngenerationen Kindergenerationen nicht „impfen“? Wir fürchten aus guten Gründen, dass dies nicht möglich ist. Falls das tatsächlich nicht möglich ist, welchen Sinn hat es dann, die archetypischen Geschichten der Antike oder die Shakespeares immer wieder aufs Neue zu erzählen? Welchen Sinn hat dann Psychotherapie?

Und doch haben wir gerade in den letzten Jahren nicht nur die Erfahrung von neu aufkeimendem Nationalismus und Rassismus gemacht, sondern auch positive Erfahrungen mit uns selbst: Wir haben uns berühren lassen vom Schicksal von Geflüchteten. Viele von Ihnen haben Gewalt in allen Formen erlebt, haben vielleicht als Kindersoldaten sogar Gewalt verübt, sind tausende Kilometer geflüchtet, haben gesehen, wie ihre Freunde und Verwandten, ihre Mütter und Väter im Mittelmeer ertrunken sind. Dass wir offenbar tatsächlich ein „gewaltempfindliches Gewissen“ haben, ist eine der erfreulicheren Erfahrungen der letzten Jahre. Reemtsma sprach davon, dass Shakespeares Werke von der Entwicklung dieses „gewaltempfindlichen Gewissens“ erzählen. Wir haben gesehen, dass Kinder hierbei eine besondere Rolle spielen. Denn Kinder weisen als Opfer am bedingungslosesten darauf hin, dass Krieg ein Verbrechen ist. Das steht schon bei Shakespeare so.
Aber nochmals: kann die Menschheit solche Erfahrungen psychisch und in der Folge auch politisch „archivieren“, haltbar und abrufbar machen? Ist der Mensch in diesem humanitären Sinne in der Lage, fort zu schreiten und Täterbiographien von Thyestes oder Titus Andronicus und ihren entsprechenden Vertretern in der Wirklichkeit von Pol Pot bis Karadzic hinter sich zu lassen?

Shakespeare stellt diese Fragen, wir stellen sie auch. Aber der Knoten bleibt unauflösbar. Und vielleicht ist das auch gut so. Und befähigt uns erst zu der Humanität, die wir immer wieder leichtfertig verspielen. Insofern dürfen wir durchaus heiter sein. Das wäre jedenfalls ganz im Sinne von Shakespeare, oder genauer im Sinne dessen, was James Joyce über Shakespeare denkt. Er sagt nämlich: „Shakespeare ist he happy hunting ground of all that have lost their balance“ – ich denke, dem ist nichts hinzuzufügen.