DISSOZIATIO
N UND IDENTIT
ÄT - Teil 1

Vortrag im Rahmen der 15. Langeooger Woche der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie „Dissoziation und Gegenwart“, 2017

 

Dissoziation ist an und für sich nichts Schlimmes oder Schlechtes. Im besten Fall drückt sie eine gewisse Fragilität und Wahrnehmungsintensität aus. Die Kunst ist voll von Beispielen dafür, wie Welt und Ich vor dem inneren Auge des Künstlers zerbrechen. Ich-Zerfall und Welt-Zerfall gehören oft zusammen, insbesondere in der Moderne. Der Expressionismus hat dies geradezu programmatisch für sich entdeckt.
Allerdings ist dies – sozial betrachtet – das Gegenprogramm zum idealistisch-aufklärerischen „Alle Menschen werden Brüder“. Denn es geht von souveränen autonomen Subjekten aus, die gerade wegen ihrer Autonomie eine höhere Reife haben, die sie zur gesellschaftlichen oder gar kosmologischen Verschmelzung befähigt.

Sehr geehrte Damen und Herren,
einen Vortrag über Dissoziation zu halten – das ist natürlich pure Hybris. Ich bin kein Wissenschaftler, sondern nur ein Theaterintendant. Dass dies heute hier trotzdem stattfindet, verdanken Sie meinem Leichtsinn, und einer email von Prof. Michael Schulte-Markwort. Ich zitiere:
„Lieber Joachim,
mein Eindruck ist, als wenn nach den Hoffnungen, die mit der Aufgabe der alten Spaltung verbunden waren, es nun eine neue Dissoziation zwischen Ost und West, zwischen Christentum und Islam, zwischen Nationalismus und Internationalität, zwischen Abgrenzung und Offenheit  gibt. DEIN Thema, Lessings Thema, das Thema des Theaters…Feel free!!“
Ja, so fing das an. Mit dem Keyword „feel free“. Und mit einem unmittelbar beginnenden Rattern in meinem Kopf. Freiheit als Verheißung. Welch eine Drohung aber doch auch in Wahrheit! Welch eine Überforderung!  Wir sehen doch gerade, wohin „feel free“ führt, dass wir eine Welt ohne Grenzen kaum aushalten und sofort neue errichten! Brauchen wir nicht Grenzen? Was passiert, wenn es gar keine Grenzen mehr gibt? George Batailles „Tränen des Eros“ handeln in surrealistischer Zeit fast ausschließlich von der Übertretung der Grenze als zusätzliches erotisches Movens während die Erotik in Zeiten sexueller Libertinage bekanntermaßen schwindet anstatt zu wachsen... Wäre es nicht zeitgemäßer, einen Vortrag mit dem Titel: „Dissoziation als Chance – Grenze als Verheißung“  zu halten?!

Es ratterte weiter: Vor 35 Jahren hatte ich schon einmal mit dem Begriff „Dissoziation“ zu tun – seinerzeit als Student im Zusammenhang mit modernen Kunstbewegungen wie dem Expressionismus. Jetzt also wieder, und dezidiert im Kontext unserer eigenen, nur schwer greifbaren Gegenwart. Ist mit dem Stichwort Dissoziation erklärbar, dass derzeit anscheinend so viele Nationen und Völker schier durchdrehen, als seien sie zeitgleich vom gleichen Virus befallen -in Ankara und Moskau, in New York und Budapest, in London und Amsterdam, in Paris und Warschau? Offenbar haben derzeit viele hundert Millionen Menschen in völlig verschiedenen Kulturräumen und Systemen ähnlich begründete Ängste. Diese historische Wahrheit muss man ernst nehmen. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig.
So ratterte das Hirn einer sich schnell verheddernden Zeitgenossenschaft… Vielleicht hilft es, ein paar Schritte zurück zu treten: den Begriff klären, ein paar anthropogische Konstanten bedenken, historische Vergleichsmomente suchen. So jedenfalls die Hoffnung…

Der Begriff: Dissoziation als Unterschied zum Normalzustand

Die Diagnose einer Dissoziation ist zunächst einmal die Anmeldung eines nicht unerheblichen Defizits, eines Schadens  – sei es am Gesellschaftskörper oder am Individuum oder am Verhältnis beider zueinander. Sie beschreibt eine Devianz gegenüber dem Normalzustand.
Ich zitiere – der Einfachheit halber – kurz aus dem Wikipedia-Eintrag: „Der gesunde Mensch erlebt sich als Einheit der verschiedenen Bestandteile seiner Selbstwahrnehmung. Er deutet sein Ich als Verbund seiner Empfindungen und Wahrnehmungen, seiner Gedächtnisinhalte, Gedankengänge, Impulse, Entscheidungen und Willkürbewegungen. Er definiert seine Identität als ununterbrochene Abfolge zusammengehöriger Daseinsweisen, die in den Kontext der Umwelt eingebettet ist. Dissoziiert nennt man eine Selbstwahrnehmung, wenn dieser Zusammenhang verloren geht. Die integrative Funktion des Bewusstseins ist während solcher Zustände außer Kraft gesetzt, sodass der Kranke von einer oder mehreren Ebenen seiner persönlichen Identität nichts mehr weiß. Der dissoziierte Modus macht sich selbstständig. Er führt ein Eigenleben.“  In der Folge kommt es zu „ausgestanzten Erinnerungslücken“, „zum Vergessen von Ereignissen“ und „zu subjektiven Verzerrungen, zu Erinnerungsverfälschungen“ . Das ist in Hinblick auf die gegenwärtigen Phänomene hochinteressant.
Interessant ist ferner, dass Dissoziation als Krankheit begriffen wird, ihr Gegenteil – nämlich Identität – dagegen als Gesundheit. Begünstigen also Freiheit und Entgrenzung die Dissoziation, Heimat und Begrenzung dagegen Identität? 
Obwohl das Format dieses kleinen Vortrags das eigentlich nicht zulässt, erlaube ich mir einen Blick in die Geschichte menschlicher Erfahrungen.

Anthropozän: Die Vision von sich selbst: Identität – Realität: Dissonanz

Dissoziationsaufhebung bzw. -vermeidung.- Die Urvorstellung des Menschen von der Erde ist – wenn wir dem im Alten Testament notierten kollektiven Menschheitsgedächtnis Vertrauen schenken -  die eines großen „Tohuwabohu“. So steht es im 1. Buch Moses gleich zu Beginn: „Die Erde war wüst und leer“ (hebräisch: tohu vavohu). Sie wurde erst durch einen „Schöpfergott“ geordnet. So gibt es im Anthropozän von Anfang an die Idee einer möglichen Ordnung und in der Folge auch die Idee vom Menschen als einigermaßen konsistentes Ich. Ob sie auf einer tatsächlichen Urerfahrung beruht, wissen wir  nicht genau. Der Mensch tut jedenfalls alles, um dieses Ich zu befestigen und zu stärken. Seine historische Erfahrung ist, dass diese Konsistenz mit  unfassbar viel Arbeit erkämpft werden muss – dies hat sich tief eingegraben, sowohl sowohl philo- wie auch ontogenetisch. Ursprünglich als Jäger und Sammler auf die Welt gekommen, hat der homo sapiens sich im Laufe der Menschheitsgeschichte den Abschied von nomadischen Existenzformen erkämpft und die Organisation der Nahrungskette an den existentiellen Wunsch nach Sesshaftigkeit, Nestbau und Heimat angepasst. In der Folge dieses Prozesses konnte er sein Nomadentum sukzessive aufgeben. Mit Folgen für die Aufzucht: So ist die individuelle Adoleszenzzeit heute nicht selten auf fast ein Viertel der gesamten Lebenszeit ausgedehnt. Soviel Schutzzeit gibt es sonst nirgends in der Natur, das Nest der Ur- Triade trägt weit. Und wenn der jugendliche Mensch das Nest schließlich verlässt, beginnt er in der Regel relativ rasch, selbst ein neues Nest zu bauen.

Entlang den Grundkonstanten von Heimat und Identität hat der Mensch im Laufe der Geschichte Abwehrstrategien, Sicherungssystem und Konstrukte  gegen die Bedrohung dieses hohen Guts installiert. Im Kern hat er dabei die offenbar positive Erfahrung der ursprünglichen Triade erweitert und ausgedehnt: auf die Familie, auf soziale Organismen wie Stammes- oder Dorfgemeinschaften, später auf eigene Kulturräume wie die Nation etc. Derartige Systeme schaffen Regeln des Verkehrs. Sie versuchen, Konflikte zu steuern und zu zähmen anstatt sie nur zu unterdrücken, sie schaffen eine gewisse Übersichtlichkeit und schützen die Konsistenz des Ichs, das für sich selbst als System ebenfalls Regeln entwickelt. Wir nennen das Zivilisation. Jedes dieser Systeme definiert sich dadurch, dass es sich gegen etwas Anderes, ein Außen abgrenzt, und bestimmt, was dazu gehört und was nicht. Eigentlich muss man, wenn man über Dissoziation nachdenken will, Systemtheorien, wie sie etwa Niklas Luhmann begründet hat, viel mehr hinzuziehen als das in unserem Zusammenhang möglich ist.

Jenseits von Systemen, die sich per Abgrenzung als eigene Entitäten bestimmen gibt es parallel dazu immer auch Vorstellungen, wie man jegliche Abgrenzung oder Dissoziation in einem Qualitätssprung überwinden könnte: sie geben sich der Idee hin, man könnte den ganzen Erdball heimatlich gestalten: mit kosmologischen Dächern und Harmonielehren (Religionen), mit der Idee einer gerechteren Welt etc. Auch der Verzicht auf sofortige Realisierung und die Verschiebung von Wünschen in andere Zeiten und Räume, wie dies Religionen und Utopien tun, gehört zu in diesen Zusammenhang.
Die grundlegende anthropologische Erfahrung ist, dass sich die Erfahrung von Dissoziation trotz allen Absicherungsstrategien unentwegt erneuert. Daher muss Ihre Aufhebung stets neu erarbeitet, geklärt und verhandelt werden. Identität ist offenbar nicht etwas, das man einfach so hat. Ja, die Arbeit an ihr ist in allen Phasen der Geschichte die eigentlich entscheidende Kultur- und Zivilisationsleistung.
Der Prozess selbst ist jeweils unterschiedlich, aber stets herausfordernd und schwierig, ja auch schmerzhaft. Denn er kostet auf jeder Stufe der Entwicklung auch Opfer. So bleibt dem Menschen beispielsweise nicht erspart, dass er sich – wie unlängst eine Studie bewiesen hat – trotz jahrtausendelanger Anpassungsleistungen im Anthropozän immer noch im Wald und auf der Wiese am wohlsten fühlt…
Warum kommt es eigentlich unentwegt zu Dissoziation, wenn die Strategie des Menschen doch die ist, diese zu vermeiden?- Die Antwort ist – abgesehen von den oben genannten systemischen Gründen - schlicht und erschütternd: weil er sie will. Er führt sie in aller Regel selbst herbei. Denn er begnügt sich nicht mit dem status quo von Heimat – egal in welchem wörtlichen oder übertragenen Sinn – nein, er will raus, er will mehr, er will anderes, Jäger und Sammler bleiben. Er will Abenteuer, Eroberung, Entdeckung, Forschung, Aufbruch, Selbstüberforderung, Provokation durch Kunst etc. Die Existenz einer homebase, eines Kerns, gibt ihm offenbar die Kraft dazu. So ist Dissoziation eben nicht (!) wie oben noch geschildert, nur eine krankhafte Störung, sondern auch zentraler Motor menschlicher und gesellschaftlicher Entwicklung. Damit hat der Mensch es von der Steinzeit bis ins digitale Zeitalter geschafft. In einem permanenten Wechsel von Beharren und Weitergehen, von Konstruktion und Destruktion, von Abgrenzung und Verschmelzung. Einmal ist ihm der Fremde oder das Neue Verheißung und Glückbringer, ersehnte Kunde aus einer anderen Welt, er sagt welcome und öffnet die Haustür, ein anderes Mal ist er ihm bedrohlich feindliche Kraft und er sticht ihn nieder oder baut, durch kollektive Psychosen radikalisiert, Mauern und Stacheldraht, um ihn abzuwehren.
Die Pendelausschläge bei historischen Entwicklungen sind mitunter enorm. Insbesondere Plötzlichkeit und Radikalität von Prozessen machen den Menschen zu schaffen und vergrößern die ohnehin latente Dissoziation ins Epochale– hier ist insbesondere auf epochale Umbrüche, Revolutionen und Kriege zu verweisen.

Der Mensch ist Objekt und Subjekt solcher Prozesse zugleich. Der Mensch fordert solche Umbrüche und Zeitenwenden selbst heraus, sie teilen die Gattung in abenteuerlustige Täter einerseits und in überforderte Opfer andererseits. Die einen treibt die Hoffnung auf Dynamik, die anderen die Angst, nicht Schritt halten zu können und zurück zu bleiben. In der Folge solcher Modernisierungskonflikte  entstehen Ungleichzeitigkeiten und Oppositionen, wie z.B. zwischen den Generationen, zwischen Stadt und Land, zwischen Gesellschaftsschichten oder den Repräsentanten neuer Produktionstechniken. Nicht selten auch gehen diese Konflikte auch durch das Subjekt selbst, zerrissen zwischen einst und jetzt.
Das Spektrum solcher Konflikte ist sowohl historisch wie individuell enorm. Zwei Beispiele: Stiften beispielsweise die heutigen Identitäre in einer defizitären Gesellschaft mit Ihrem Angebot Identität? Oder versuchen sie als polemische Bewegung ein eigentlich funktionierendes Gemeinwesen zu dissoziieren, ja zu sprengen? Ein anderes Beispiel: Vor einigen Jahrzehnten hat Karlheinz Bohrer, einer der bedeutendsten Intellektuellen der alten Bundesrepublik, das Phänomen der Plötzlichkeit untersucht und hier einen Zusammenhang zwischen den Surrealisten, die Zugang zu anderen Erlebnisschichten suchten, und dem Aktionismus der Rote Armee Fraktion (RAF) hergestellt. Im einen wie im anderen Fall wird über den Rausch von Plötzlichkeit und Extase Identität gesucht und als provokative Sprengkraft eingesetzt – einmal künstlerisch, ein anderes Mal politisch. Wie ist die provokative Geste der Identitären in diesem Zusammenhang zu sehen? Brauchen Gesellschaften solche Provokativen?

Wer entscheidet eigentlich, wie solche Spaltungen jeweils zu bewerten sind? Wir haben historisch gerade als Deutsche außerordentlich schlechte Erfahrungen damit gemacht, Schädliches vom (Volks)-Körper zu trennen. Da haben Sie es in der Medizin erheblich leichter. Denn so wie man ein Krebsgeschwür versucht zu isolieren und zu extrahieren, betreibt die Psychotherapie – wenn ich recht unterrichtet bin – die Abspaltung besonders traumatischer Erfahrungen, damit der Patient diese besser bewältigen kann. Nur: die Bildung von Analogien zwischen Biologie und Gesellschaftsprozessen ist, wie wir wissen, ein grundsätzlich heikles Gebiet… 
Wir sollten uns davor hüten, Differenz grundsätzlich zu verteufeln. Dissoziationen sind notwendig, sie gehören einfach dazu. Ihre Erscheinungsformen sind vielfältig: dazu gehören in etwa auch Parallelwelten wie Wunschräume als Vorschein einer utopischen Wunschzeit, ein Drogenrausch, die Selbstauflösung in einer Bewegung etc.

Der Mensch sucht offenbar, stets in einer bestimmten Latenz von Unzufriedenheit immer wieder Dynamik, und sucht sie zugleich zu vermeiden– ein Querulant wider Willen.
Aus vielen Schäden klug geworden hat die politische Theorie Strategien entwickelt, um den hier geschilderten Dilemmata zu entkommen. Sie beziehen sich meist auf Karl Poppers „kritischen Rationalismus“ – die wirkungsmächtigste Philosophie in der heutigen politischen Klasse. Sie macht Schluss mit dem Utopismus, versucht rational zu steuern, in der Hoffnung das Verhältnis von Dynamik und Beharren durch Rationalität abzuflachen, um das selbstzerstörerische gesellschaftlicher Entwicklungen – auch unter dem Eindruck des Nationalsozialismus – zu verhindern. Der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz hat in seiner trockenen Art definiert, was für ihn Politik ist. Sinngemäß hat er gesagt, Politik solle das Gemeinwesen so organisieren, dass sich jeder ohne Angst nach seinen Möglichkeiten so entwickeln kann, wie es ihm entspricht. Im Grunde versucht der Bürgermeister hier die Entwicklungsdynamik des Ego und seine Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwesen miteinander zu versöhnen. Anders gesagt: er sucht den Ausgleich zwischen der Dynamik des Kapitalismus und sozialen Bewegungen wie christliche Soziallehre, Sozialdemokratie oder auch Sozialismus. In Deutschland ist dieser Ansatz nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichsweise erfolgreich umgesetzt worden, aber aktuell schwer gefährdet und – neben anderen, diese Krise addierenden Faktoren – ein Grund für die aktuell komplizierte Lage.

Bevor ich auf das aktuelle Hier und Heute komme, erlauben Sie mir einen kleinen Blick in historische Identitäts- und Dissoziationsprozesse, auch um zu spüren, wie sich solche Prozesse abspielen. Das hilft vielleicht, die Gegenwart besser einzuordnen. Dissoziationen sind ein wesentlicher Motor für die Entwicklung und konstitutiver Bestandteil der Menschheitsgeschichte. Sie bewegt sich über immer heftiger werdende Dissoziationen und anschließender Identitätsfindung. Die neue Identität wird über eine Neugründung befestigt, bis sie im Laufe der Jahrzehnte oder Jahrhunderte erodiert und dissoziiert etc. pp.

Phänomene von Dissoziation und Strategien ihrer Bewältigung  - Beispiele aus der Kulturgeschichte

Bei der Beschäftigung mit historischen Phänomenen von Dissoziation und Strategien ihrer Bewältigung kommt man schnell zu der Erkenntnis, dass sie konstitutiver Bestandteil des Stroms der Menschheitsgeschichte sind. Sie bewegt sich in der Regel über immer heftiger werdende Dissoziationen und sich daran anschließende Identitätsfindungen.
Dissoziation: Paradise lost und Neugründung: Religion. Vor ca 3000 -4000 Jahren spürt der Mensch erstmals, dass etwas anders war als bisher und muss die Erfahrung von Dissoziation einräumen… Seine allererste Strategie ist, davon zu erzählen, zu malen und später auch zu schreiben. Deshalb ist es möglich, dass man sich die bis heute bekannten Geschichten davon erzählt: in nahezu allen Regionen der Welt wird diese Erzählung aus der Kindheitsgeschichte der Menschheit in berührender Schönheit erzählt. Sie heißt in Varianten „paradise lost“.  Sie erzählt vom Verlust der Identität von allem mit allem, mithin vom Ende der kosmologischen Einheit, von der Subjektwerdung des Menschen, der sich zur Welt als etwas anderem ins Verhältnis setzen muss. Die religiösen Grundtexte und Mythen erzählen davon, wie der Mensch den kosmologischen Traum der Identität von sich selbst mit der Welt aufgeben muss. Es entstehen Spaltungen, die durch den Einzelnen hindurch gehen wie auch durch das Bild von der Welt als Ganzes. Offenbar war das ein tiefer Schmerz, aber es war auch ein Akt zivilisatorischen Realitätssinns. Und eine erste Stufe der Ichwerdung der Menschheit. Dieser Akt zivilisatorischen Realitätssinns folgt der Erkenntnis, dass man mit Dichotomien umgehen muss. Aber wie?

Immer wieder gilt es, nach solchen Erfahrungen ein Scharnier zur Zukunft zu entwickeln. Eine Neugründung, die Weiterleben auch in Zukunft möglich macht. Wie aber kann die Kinderseele der Menschheit mit der neuen dichotomischen Welt umgehen? Zunächst mal überraschenderweise mit Realitätssinn: indem man die historische Erfahrung akzeptiert und ihr einen Namen gibt, z.B.: „Gott“ und „Teufel“ oder „Gut“ und „Böse“. Dieses erste große Trauma der Menschheit haben Magier, Schamanen und Theologen dann anschließend mit Heilsversprechungen, Kosmologien und Regelwerken zu besiegen und den Spalt zu schließen versucht. Es gibt – so war die Botschaft – zwar keine unmittelbare Lösung, um Dissoziationen aufzulösen, aber es gibt doch eine Leiter zum status quo ante und post zugleich: in den Himmel – als Drittes Reich und Wiedergeburt des Paradieses. Mit diesem „Trick“ haben die Schamanen das persönliche Unglück des Menschen und das der Gattung verknüpft und beides gelöst. Traumabewältigung der archaischen Art. Modern interpretiert vom Komponisten Arnold Schönberg in der „Jakobsleiter“. Auf irgendeine Weise war die Kosmologie, das heißt auch die Vermeidung von Dissoziation, gerettet. Es ist das Zeitalter, wo die Religion verheißt, dass es sich lohnt, über viele dissonante Erfahrungen hinweg an ein Ganzes zu glauben. Hier ist selbst der Tod das letztlich trostvolle Momentum eines Ganzen. Aber: es geht hier nicht nur um eine Verschiebung ins Danach, sondern auch um Regeln für die Gegenwart. Die dritte Botschaft lautet daher: Leben lohnt sich mehr und ist harmonischer, wenn man sich z.B. an die Bergpredigt hält. Sie schützt vor Dissoziation und stiftet Identität. Und: je mehr Menschen sich an solche Regeln halten, umso mehr Chancen gibt es für eine harmonische, friedfertige Gesellschaft. Daher sollte man möglichst viele davon überzeugen (und vielleicht sogar auch mit Gewalt). Vom status quo ante aus markieren die Mythen und Religionen also eigentlich einen ersten Akt der emanzipatorischen Ichwerdung und versuchen die Rolle dieses Ichs in der Welt neu zu beschreiben... Religion ist eine  zivilisatorische Technologie zur Menschwerdung. Sie interpretiert die Welt, versucht Gesetze zu entwerfen, den Kosmos zu begreifen. Diese Konstruktion mit Diesseits, Himmelsdach und Jenseits hat recht lange funktioniert.

Dissoziation: Zusammenbruch der kosmologischen Ordnung - erste Stufe der Säkularisierung: Die Renaissance.

Eingestürzt ist das kosmologische Dach spätestens im Übergang vom Mittelalter auf die Neuzeit, mit der Renaissance. Hier beginnt ein zweiter Akt der Selbstaufklärung des Menschen, der über 250 Jahre dauert und in die Aufklärung des 18. Jahrhundert mündet. In dieser nächsten epochalen Umwälzung setzt sich die Selbstermächtigung des Individuums fort. Der Mensch selbst zerstört das kosmologische Dach, es ist zu eng geworden, entspricht nicht seinen Möglichkeiten. Hier erreicht die dynamische Umwälzung, die die Menschen durchdringt und mitnimmt, und die sie selbst in die Hand nehmen und gestalten, eine Tiefe und Intensität an wie nie zuvor. Eine ungeheure Explosion des Ichs und in der Folge der Wissenschaften erfasst Europa zwar zeitlich asynchron, aber plötzlich und flächendeckend und zugleich dauerhaft. Mindestens bis zur französischen Revolution, ja bis heute ist die Menschheit damit beschäftigt, all das, was dort angestoßen wurde, zu verarbeiten und in das eigene Ich wie in das neu entstehende europäische Ich hinein zu nehmen. Diese tiefgreifende Umwälzung kommt nicht von außen – etwa durch eine Epidemie oder Naturkatastrophe auf den Menschen zu – sondern durch den Menschen selbst. Er löst sie selbst aus und überfordert sich. In der Folge verliert er zunächst seine Orientierung, seine Identität, sein Wertesystem. Hier entsteht eine Dissoziation des Einzelnen im Verhältnis zur Welt, eine Dissoziation der Welt selbst, die durch asynchrone Prozesse ein gewisses einheitliches Bild verliert und schließlich eine Dissoziation des Ichs, dem die identitätsstiftenden Koordinaten verrutschen. Das Bild von der Welt, die Welt selbst, der Begriff des Einzelnen von sich selbst und seines Verhältnis zu den ihn umgebenden Dingen – all das muss neu erarbeitet werden. Je nachdem auf welcher Ebene man spricht, kann man das Epochenwechsel oder Revolution nennen, mit der Gleichzeitigkeit von befreienden wie auch traumatischen Wirkungen. Mein Eindruck ist, dass die heutigen Prozesse von diesen nicht so verschieden sind.

Was ist in der Renaissance konkret passiert? Am Anfang steht fast eine Farce: Die Erde und mit ihr der Mensch stand seit fast 2000 Jahren im Zentrum: mit einem Firmament darüber, an dem die Gestirne aufgehängt sind, mit dem Menschen im Mittelpunkt, und über ihm ein richtender Gott, der das Leben der Menschen in Gut und Böse aufteilt. Plötzlich aber entdeckt er in einem gewaltigen Emanzipationsakt – und das ist ein wahrhaft paradoxer Vorgang, dass er eben nicht im Mittelpunkt des Kosmos steht! Der immer selbstbewusster und autonomer auftretende Mensch entdeckt als allererstes seine Kleinheit! Eine Entdeckung, die ihn zugleich grösser werden lässt, und den alten kosmologischen Zusammenhang schwerstens beschädigt. Das geo- und also homozentrische Weltbild dankt ab, und wird ersetzt durch das heliozentrische.

Gleichzeitig aber wird der Mensch größer und größer. Überall gibt es plötzlich Titanen, große Einzelfiguren, die ganz allein die Welt verändern: Wissenschaftler wie Kepler, Newton oder Galilei. Pioniere der frühen Globalisierung, man nannte es Kolonialismus, wie Kolumbus oder Vasco da Gama, Bildhauer wie Michelangelo, die - sich an die griechische Antike erinnernd – den Menschen ins Übermenschliche vergrößerten wie später Nietzsche, die Entdeckung des Porträts realer Menschen (statt theologischer Heiligenfiguren) in der Malerei, Theologen wie Luther, der die Kirche als größte Macht Europas infrage stellte und mit der erstmaligen Übersetzung der Bibel einen frühen Akt von Demokratisierung initiierte, einen Buchdrucker wie Gutenberg, der Anfang der Massenmedien, einen Händler wie Fugger, der als Geburtshelfer des Kapitalismus gilt usw. usf. Nicht zuletzt betritt hier der bis heute größte Dramatiker der Weltliteratur die Bühne: Shakespeare. Interessant ist auch, wie hier literarische und reale Prototypen des Menschlichen auftreten, wie intensiv also offenbar der Mensch beginnt, sich für Spielarten und Sonderformen der eigenen Gattung zu interessieren: der Erotomane Don Juan versucht über den Eros das metaphysische Loch zu überspielen und den Tod zu besiegen, der Forscher Faust will die Welt und ihren inneren Zusammenhang mithilfe der Wissenschaft ergründen, der Merkantilist Jedermann („Everyman“) schwört jeder Transzendenz ab und wird mit dem Tod bestraft, der Träumer Don Quijote dagegen will die Realität mithilfe der Phantasie überspielen und schließlich betritt mit Hamlet erstmals eine sich selbst reflektierende, von schwerer Ich-Dissoziation gepeinigte Figur die Bühne und fragt in aller Öffentlichkeit, ob sie Widerstand leisten soll oder Selbstmord begehen („Sein oder Nichtsein...ob‘s edler im Gemüt...“) – lauter zerrissene und haltlose Figuren, die samt und sonders untergehen. Hier erst übrigens entsteht auch das Drama – nach fast 2000jähriger Unterbrechung seit der Antike - wie wir es heute kennen, wieder neu. Und das ist kein Zufall, denn es lebt von Dichotomien, Dissonanzen, Dissoziationen im Ich bzw. zwischen der Welt und dem Ich. Im Extremfall entfalten diese Dissoziationsprozesse eine ungeheuer destruktive Kraft. Dann nämlich, wenn sie in gar kein rational begründbares Verhältnis zur Welt mehr treten können, Shakespeares „King Lear“ ist so einer. Er geht zugrunde, weil bei ihm tatsächlich die „integrative Funktion des Bewusstseins außer Kraft“ gesetzt ist.  Er schätzt sich selbst falsch ein, schätzt seine Töchter falsch ein, und erholt sich nie mehr von diesem Wirklichkeitsverlust, im Gegenteil: er verliert die „integrative Kraft des Bewusstseins“  immer mehr, bis alle tot sind, er selbst wahnsinnig und sein Reich zerstört. Ein anderes Beispiel ist der Pferdehändler Hans Kohlhase aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Er greift gegen ein Unrecht, das man ihm angetan hat, zur Selbstjustiz, wird selbst zum Verbrecher und  vernichtet sich und die Welt um sich herum. In beiden Fällen ist über das Individualversagen hinaus der Verlust einer die Existenz rahmenden Ordnung spürbar. Die Welt ist im Aufruhr, warum sollte es in der Menschenseele anders sein? Der gesamte überkommene Rahmen mit dem Septett aus vier antiken und drei christlichen Tugenden, die relativ raffinierte Technik mit Sünde, Vergebung und Himmelstrost – all das wurde jetzt mehr oder minder weggebombt, eine ungeheure Explosion des Ichs ereignete sich, mitsamt allen Licht- und Schattenseiten. Es war der Gestus der Revolte der Wahrheit gegen die theologische Lüge, die den Menschen als Schaf bisher kleingehalten hatte. Durch den damit verbundenen Schmerz muss man anscheinend durch.

Aufklärung als dauerhafter Auftrag zur Neugründung.
Europa und seine Bevölkerung haben von der Renaissance bis zur französischen Revolution, also ca. 250 Jahre (!) gebraucht, um sich durch diesen zweiten Akt der Aufklärung durch zu arbeiten und ihn halbwegs zu vollenden. Er durchdrang und veränderte sämtliche Lebensverhältnisse, die Künste, das Sozialsystem, den Staat, das Bild vom Menschen und legte mit den Säkularisierungskonflikten von Reformation und Gegenreformation halb Europa in Schutt und Asche. Interessant ist, dass aus dieser erzählerischen Perspektive das Zeitalter der französischen Revolution und die Aufklärung die gewaltigen destruktiven und dissoziierenden Prozesse der Zeit davor eher abschließen als neue Dissoziationen herauf zu beschwören. Ja, man könnte sogar sagen, dass hier so etwas wie eine Neugründung stattfand, mit neuen Sinnzusammenhängen und einem neuen Wertekanon. Das ist im Hinblick auf die Fragen, die uns in unseren heutigen dissoziierten Verhältnissen beschäftigen, von hoher Bedeutung. Denn wir leben nach wie vor von und mit den dort geschaffenen Sinnzusammenhängen, sowohl gesellschaftlich wie auch individuell. Ja, wir dachten, wir hätten sie – nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts – erfolgreich zurückerobert. Und nun stehen sie aktuell unter dem Beschuss durch „Identitäre“, wie wir es uns vor kurzem noch nicht hätten vorstellen können.

Die Aufklärung war der Versuch, gegen die Erfahrung vom Zerbrechen des kosmologisch-theologischen Zusammenhangs zu arbeiten, indem man ihn neu und anders, nämlich ausschließlich irdisch, begründete. Es entstand erstens eine Ethik ohne Gott: Mit der Kantschen Formel von der Befreiung aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ wurde der einzelne Mensch neu ermächtigt, mit dem kategorischen Imperativ aber sozial im Zaum gehalten und zu Verantwortung und Respekt vor dem, was ihn umgibt, erzogen. Und zweitens begründeten sich Staat und Gesellschaft mehr und mehr ohne Gott, aber als säkulare Sozialutopie mit den zentralen Schlagworten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Interessant ist, dass die Menschheit in dieser revolutionären Neugründung eigentlich an der Grundüberzeugung von der Möglichkeit einer harmonischen, ganzheitlichen Ordnung festhält – gegen alle Erfahrung. Und letztlich alte theologische Sinnzusammenhänge nur säkularisiert, ihnen den Obskurantismus nimmt und sie neu begründet. Das war erfolgreiche Arbeit gegen Dissoziation, ja mehr noch, sie hat sogar in der Idee von Toleranz, Weltbürgertum und Kosmopolitanismus über ihre eigenen Grenzen hinaus die Welt als Ganzes mitnehmen wollen – jedenfalls in der Idee. Das ist ein Auftrag, der bis heute erhalten geblieben und zugleich unerlöst ist.
Der Halbhamburger Lessing eignet sich bis heute gut als aufklärerische Zeugenschaft für die unerledigte wie  notwendige Arbeit an einer kosmopolitischen und interkulturellen, der Toleranz und der Weltläufigkeit verpflichteten Kultur. Denn das ist nach den Nationalismen und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts ganz sicher die historische Aufgabe des 21. Jahrhunderts.

Schillers „Alle Menschen werden Brüder“  oder Beethovens 9. Symphonie sprechen die Sprache dieses Enthusiasmus. Sie überführen die Ideen der französischen Revolution in Poesie und Dichtung. In ihnen drückt sich die kryptoreligiöse Idee einer möglichen Weltordnung in Harmonie aus. Die deutsche Klassik ist überhaupt von der Idee beseelt, eine Zusammenschau von Welt sei möglich. Dafür gibt es viele Varianten, sei es der an Baruch Spinoza entwickelte Beinahe-Pantheismus Goethes, sei es das bei Schiller säkularisierte triadische Modell von Paradies, Sündenfall und Erlösung – also die Hoffnung auf die „ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“ oder Goethes an der Alten Frankfurter Oper befestigtes „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“. All dies verschafft der damals neu aufstrebenden sozialen Klasse des Bürgertums Halt, Stolz, Beheimatung in einem größeren Ganzen, Idealbilder, die sich um die Überwindung dissoziierender Erlebniswelten bemühen, sich an diesem Ziel abarbeiten und einen Ort bieten,, um gegenläufige Erfahrungen zu verarbeiten. Kultur wird zur religiösen Ersatzheimat, und man leistet sich Stätten von Katharsis, Erhebung und Erlösung, Orte, an denen man sich selbst „bilden“ kann, wobei „Bildung“ hier etwas Ganzheitliches meint, und nicht eine Moral- oder Wissensanstalt. Die Konzerthäuser und Theater, wo so etwas stattfinden kann, gibt es bis heute. Hier hat man stellvertretend im Drama schmerzhafte Dissoziationsmomente durchgespielt, um sie dann hoffentlich hinter sich lassen zu können. In der deutschen Klassik mit ihrem humanistischen Menschenbild lebt die Idee, Dissoziation sei gesellschaftlich wie individuell  aufhebbar, besonders euphorisch. Diese Art der Glücksvorstellung mit einer Vorstellung von Ganzheitlichkeit scheint tatsächlich eine anthropologische Konstante von hoher Dringlichkeit zu sein. Von nichts anderem träumen die Menschen. Denn sie erleben ja tagtäglich, dass die restlos harmonische Identität mit sich selbst, seinem sozialen und beruflichen, seinem persönlichen, kulturellen und politischen Umfeld nur höchst selten und momenthaft stattfindet: in der Liebe zu einem Partner, in der Geburt eines Kindes, in Augenblicken religiöser oder künstlerischer Erfüllung, in Momenten von Naturerfahrung, in euphorischen sozialen Bewegungen oder persönlichen Erfolgen verschiedenster Art. Hier ereignet sich dann die „Einheit der verschiedenen Bestandteile der Selbstwahrnehmung“ (Wikipedia). Was wäre, wenn das von Dauer sein könnte? Und aufgehoben in einem großen Ganzen? Hiervon träumen Künstler und Philosophen besonders intensiv: Kleist in seinem Marionettentheater, die Weimarer Klassiker Goethe und Schiller, Hegel und auch Marx – ja tatsächlich ganz besonders die Deutschen! Aber es ist eben ein Traum. Der überwiegende Rest der Lebenszeit besteht aus Mangel, Fehlen, Vermissen, Realitätssinn, Verdrängung, Schmerz – kurz in einer permanenten Dissoziation zu den eigenen Wünschen und Träumen.
Trotz gegenläufiger Erfahrungen scheint es, als habe man mit der Aufklärung, den Idealen der französischen Revolution oder auch der deutschen Klassik ein relativ strapazierfähiges Instrumentarium für das Leben und Überleben, sowohl als Individuum wie auch als gesellschaftliches Wesen. Wenn man hieran nur gut weiterarbeitet, sowohl in der Bildung der Menschen wie in der Entwicklung staatlicher Strukturen, in dem Prozess der unaufhörlichen Selbstaufklärung des Menschen plus der Idee des Weltbürgertums – ja dann müsste die Weltfamilie irgendwann früher oder später Realität werden. Diese Konstruktion hält sich – trotz gegenläufiger Erfahrungen – mit einiger Hartnäckigkeit.

Historisch bedeutsam und für unsere eigene Gegenwart entscheidend ist, dass sowohl die Konzepte der Aufklärung wie auch der Bildungsbegriff dem Grunde nach dynamische und diskursive Ansätze sind. Sie erledigen sich nicht als einmal erarbeiteter Status, den man einfach fortschreiben kann, sondern sie müssen fortwährend neu erarbeitet und überprüft werden. Nur so sind – jedenfalls der Theorie nach – neue Dissoziationen vermeidbar.

Dissoziation in der Moderne I: „Anbruch der Moderne“ (Frühromantik – Expressionismus – 20. Jahrhundert).

Die Epoche der Moderne ist eine Fortsetzungs- wie auch eine Gegengeschichte zum selbstgewählten Auftrag der Aufklärung. Inwieweit Aufklärung, ins Extrem getrieben, diese selbst wieder zersetzt, ist eine Fragestellung, die die Aufklärung dauerhaft begleitet, beinahe seitdem es sie überhaupt gibt.  Die anbrechende Epoche der Moderne ist jedenfalls ein gewaltiger Stresstest für die Vorstellung von der Konsistenz und Kontinuität eines klar umrissenen Ichs, von dem wir nicht aufhören können oder wollen zu träumen. Denn die Kernerfahrung der Moderne ist seit ihren allerersten Anfängen in der Frühromantik um 1800 Dissoziation und steht damit gegen die Aufklärung und erst recht gegen den einheitsselig konstruierten Bildungsbegriff der Klassik. In der Frühromantik transzendiert sich jede Ich-Reflexion immer weiter in einem unendlichen Strom von Erkenntnissen und Bewusstseinszuständen, so dass jede Eigentlichkeit auf der nächst höheren Stufe der „romantischen Ironie“ wieder aufgehoben werden kann. Das moderne Bewusstsein betritt als latent  dissoziiertes die Bühne. Ein klar umrissenes Ich kennt es genauso wenig wie eine fassbare Welt um das Ich herum. Welt- und  Ich-Dissoziation bedingen einander. Das traditionelle Ich gerät in den Zustand unablässiger Erregung und Nervosität – mit hohen Amplituden: einmal löst es sich fast völlig auf, ein anderes Mal neigt es zur forcierten und übersteigerten Ich-Behauptung. Ein deutscher Dichterphilosoph knüpft an die frühromantischen Erfahrungen an:: „Ja, ich weiß, woher ich stamme: / Ungesättigt gleich der Flamme / glühe und verzehr ich mich. / Licht wird alles, was ich fasse, / Kohle alles, was ich lasse / - Flamme bin ich sicherlich.“ Hier spricht jemand, der die Hypostasierung des Ichs sehr weit treibt und dafür den Begriff „Übermensch“ erfand: Friedrich Nietzsche. Die Konstruktionen bürgerlicher Heimeligkeit, sei es im Biedermeier, sei es in den als dunkle Schutzhöhlen ausgestatteten Gründerzeitwohnungen verlieren immer mehr an Kraft. Das Ich kann sich gegen eine immer mehr zersplitternde Welt nicht mehr schützen und verliert an Konsistenz. Befördert wird dies durch zahlreiche Faktoren wie die Dynamik der Industrialisierung, die Psychoanalyse, die beginnende Großstadt- und Massengesellschaft, das zunehmendes Tempo von Prozessen, die massenhafte ganz reale Zerstückelung der menschlichen Körper im I. Weltkrieg u.v.a. Friedrich Engels schrieb schon 1845 bei der Beobachtung der sich entwickelnden Großstadt London von der „Atomisierung und Isolierung des Menschen“. Dostojewski ist bis heute der Autor, der am Radikalsten von der Auflösung alter Sinnzusammenhänge und den Auswirkungen auf das einzelne Subjekt erzählt. Wirklich kulminieren wird diese Entwicklung in den Künsten aber ab ca. 1900: im Expressionismus. Her nehmen die Künstler  selbst Abschied von der Idee der Erzählbarkeit der Welt als Kontinuum und Einheit. Sie suchen nicht Ausdruck für den Zusammenhang, sondern für die Zusammenhanglosigkeit: es gibt plötzlich schizophren werdende, selbstmordbedrohte Künstler (Jakob van Hoddis mit seinem berühmten Gedicht „Weltende“), die Verdinglichung des Ich und die Personifizierung der Dinge, die ebenso entseelte wie monströse Großstadt, zersplitterte Abbildungen von Wirklichkeit, den berühmten expressionistischen Schrei, kubistische Verzerrungen oder futuristische Beschleunigung, die Darstellung der Auflösung von Sinnzusammenhängen, das Ende des berühmten auktorialen Erzählerich, das sich durch die souveräne Herrschaft über den Stoff, also die Welt auszeichnete etc. Ersetzt wird dies durch Fragmentarisierung oder – etwa bei James Joyce – durch den sogenannten „stream of consciousness“, d.h. das Ich wird zur Fläche der einströmenden Außeneindrücke, die unsortiert und assoziativ  im Hirn herumvagabundieren. Die Dynamik dieser Entwicklung fegt ganzheitliche Konzepte rücksichtslos weg und besteht auf der Zersplitterung von Ich und Welt. Die Künstler der Avantgarde erleben Welt anders als die mainstream-Literatur von Thomas Mann, Tucholsky, Brecht oder Fallada, die weiterhin Geschichten erzählen - mit Figuren, Rollen, Charakteren und klassischen Konflikten. Der Konflikt zwischen der Nicht-Erzählbarkeit der Welt als Einheit und ihrer Erzählbarkeit hat in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zu erbitterten Auseinandersetzungen geführt. Denn die politisch linken Philosophen und Schriftsteller, die das Erbe der europäischen Aufklärung antraten, hatten eine klare weltanschauliche Vision und beharrten in diesem Sinne auf der Erzählbarkeit der Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten. Der Avantgarde warfen sie hingegen die pure Hingabe an die Phänomenologie, Nihilismus, Dekadenz und Nähe zum Faschismus vor. Diesen Konflikt zwischen erzählerischem Realismus und Avantgarde, zwischen Wirklichkeitskritik und (vermeintlicher) Apologetik der Avantgarde gibt es bis heute. Mainstream aber ist die Avantgarde übrigens nie geworden. Denn der Mensch beharrt als Leser oder Theaterbesucher letztlich auf der Konsistenz des Ichs und tradierter Welterzählung, er kann sich sich selbst gar nicht anders vorstellen, die Avantgarde dagegen kann von Schönberg bis Stockhausen oder Steve Reich, von den Dadaisten bis zu Elfriede Jelinek oder Rainald Goetz die Herausforderungen einer zusehends unüberschaubaren Gegenwart und Phänomene von Massengesellschaft und Digitalisierung ästhetisch oft besser abbilden.

Während ich mir so meine Gedanken für den Vortrag über Dissoziation machte, kam mein fünfzehnjähriger Sohn und sagte:“ Papa, wir haben im Deutschunterricht das Thema ‚Expressionismus und Ich-Dissoziation’, kannst du mir helfen?“ Ich war ein wenig sprachlos. Dann aber: „Klar, gern, da kenne ich mich ein wenig aus.“ Seine Augen blitzten und der Dank für die gewachsene Chance auf eine gute Note war mir sicher. Aber es kam noch besser: Meine achtzehnjährige Tochter hörte davon und fragte mit der leichten Verächtlichkeit einer Abiturientin, der weder der kleinere Bruder noch der Vater das Wasser reichen kann: „Wieso Ich-Dissoziation?“  Ich: „Ja, im Expressionismus.“ Sie: „Das ist nicht sinnvoll.“ Ich: „Was ist nicht sinnvoll?“ Sie: “Ich-Dissoziation kann es nur geben, wenn man die Vorstellung von einem Ich hat. Das hat aber heute so kaum jemand mehr. Denn es ist ja immer schwerer, sich selbst auf bestimmte Labels fest zu legen und zusagen, wer man ist.“ Und dann ging es los, für sie seien die Genderfragen das exemplarische Beispiel dafür, hier sei alles in Auflösung, wie man an Phänomenen wie  Queerness etc. sehr gut sehen könne... Während der Vater noch an alten Aufklärungskonzepten herumlaborierte, war die Jugend voll auf der Höhe einer dissoziierten Zeit. Sie knüpfte instinktiv an die Wahrheiten der Moderne an, und stellt sich dem dissoziierenden Zerfließen von Zusammenhängen mit hoher Selbstverständlichkeit. Das Spiel zwischen notwendiger Identität und Dissoziation hat Navid Kermani folgendermaßen zu greifen versucht: „Identität darf alles sein, nur nicht eindeutig, dann wird es gefährlich.“ Was soll das aber konkret heißen? Und wie damit leben?

Dissoziation in der Moderne II: „Die Anti-Moderne“

– Die Katastrophe des 20. Jahrhunderts. – Der Nationalsozialismus ist eine Spielart des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts. Er ist eine Antireaktion auf die geschilderte Moderne, aber als Massenbewegung auch Teil dieser Moderne. Er reagiert mit „identitären“ Angeboten, wie wir das heute nennen, auf den Identitätsverlust.  Identitäre Bewegungen  versprechen Schutz vor der Überforderung und starke Führung, und setzen sich so zum Beispiel gegen den polemisch bekämpften  Parlamentarismus der Weimarer Republik mit seiner „Quasselbude“ ab, sie wollen Traditionen von Heimat und Identität, von Ichsein und Deutschsein retten, versprechen Halt und Sicherheit  gegen Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Pauperisierung, Unübersichtlichkeit und Chaos etc. pp. Das Rezept solcher identitären Bewegungen ist die geschlossene Gemeinschaft, sie entsteht durch eine klare Selbstdefinition und schützt  nach innen wie nach außen. Je klarer man die Feinde definiert, desto stärker ist die Gemeinschaft. Reale Bedrohungsszenarien braucht es nicht, sie sind willkommen, aber verzichtbar. Die Mechanismen sind leicht durchschaubar, ihre Übertragung ins Heute liegt auf der Hand. Obwohl kein großer Anhänger von Phantasyliteratur hat mich doch eine Bemerkung meiner achtzehnjährigen Tochter hellhörig gemacht. Sie sagte, das beste Beispiel für identitäre Bewegungen und Ich-Dissoziation fände sich in dem weltweit populären Buch „Harry Potter“! Und sie erklärte mir die Konstruktion:  :
In den Harry Potter Büchern wird die Welt bekanntermaßen von Zauberern („Totesser“) und von nichtmagischen Gestalten ( »Muggels«) bewohnt. Die Welt der Zauberer mit ihrem Protagonisten Lord Voldemort versucht nun mit rassistischen Mitteln, die nichtmagische Bevölkerung zu vernichten. Zu ihr gehören neben den Muggels, die als unreine »Schlammblüter« beschimpft werden, alle, die nicht würdig sind Zauberer zu sein. Dazu zählen z.B. »Mischlinge«, deren Eltern nichtmagischen Ursprungs sind, aber auch „Reinblüter“, die die Ideologie der „Totesser“ ablehnen. Im Verlauf der Harry Potter Bücher kommt eine Regierung an die Macht, die alle muggelstämmigen Zauberer und deren Sympathisanten aus ihren Positionen entlässt und verbannt. Begleitet wird dies von Hetzkampagnen, der Forderung, den Blutstatus nachzuweisen, Scheinprozessen und Überfällen. „J.K. Rowling wollte,“ so meine Tochter, „ihre Fiktion als Parabel auf eine diskriminierende Gesellschaft erzählen und mit der Ähnlichkeit zu bekannten historischen Ereignissen, zu Toleranz aufrufen.

Was hat das aber mit Ich-Dissoziationen zu tun? „Interessant ist,“ fuhr meine Tochter fort, „dass sich schließlich herausstellt, dass Lord Voldemort, der diese Praktiken von allen am vehementesten verfolgt, tatsächlich selbst nur ein »Halbblut« ist. Sein Vater, den er später ebenfalls tötet, war ein Muggel. Seinem ganzen Rassismus liegt also Selbsthass zugrunde. Da er diesen Selbsthass schließlich auf die Gesellschaft überträgt, hat diese Ich-Dissoziation fatale Folgen.“ Das sei jedoch nicht das einzige Beispiel. Das schulische Umfeld der Hauptfigur Harry Potter spiegele das Thema ebenfalls: Harry Potters Rivale in der Schule Draco Malfoy ist ein sogenannter »Reinblüter«. Er vertritt die gleichen rassistischen Ansichten wie seine ambitionierten „Todesser“-Eltern und Voldemort. Er diskriminiert seine Mitschüler- darunter die muggelstämmige Hermine und den zwar reinblütigen, jedoch armen und toleranten Ron. Erst ganz am Schluss des letzten Buches wendet er sich von seiner Familie und Voldemort ab und schafft es, sich von den Idealen, die ihm aufgezwungen worden sind, zu lösen. Auch in den Fortsetzungen der harry-Potter-Reihe gäbe es das Phänomen der Ich-Dissoziation zuhauf. Immer wieder geht es um sogenannte „Labels“, die dem einzelnen von seiner Umgebung aufgezwungen werden oder mit denen er sich selbst abgrenzt. „Man sieht“, so meine Tichter abschließend, „ in Harry Potter sehr deutlich den Zusammenhang zwischen Ich-Dissoziationen und den sogenannten Labels, die man sich selbst oder andere einem gegeben haben.“
Von der Phantasy zur Realität: Der Versuch der Totalitären, Grundkonstanten wie Heimat, Tradition und Identität neu zu befestigen, ist historisch desaströs gescheitert. Er hat– anders als beabsichtigt – sämtliche Traditionen von Heimat und Identität, ausgerechnet dadurch, dass man sie retten wollte, vernichtet, und über Diktatur und Weltkrieg der identitätslosen Massengesellschaft einen gewaltigen Schub gegeben.

Neugründung nach dem 2.Weltkrieg: Kompromiss zwischen Moderne und Anti-Moderne: Nie wieder Krieg. Nach zwei von Deutschland ausgehenden Weltkriegen, die in einem Akt ungeheurer Destruktion mit Millionen von Toten alles in den Schatten gestellt haben, was bisher auf der Erde stattgefunden hat – selbst den 30jährigen Krieg , gelang hier eine Neugründung, die tatsächlich an die Ideale der französischen Revolution anknüpfte, die Erfahrungen der jüngeren Moderne mitnahm und selbst das Bekenntnis zum Nationalen vorsichtig mitreflektierte. Dass dies gelang, obwohl die Deutschen kaum Gründe hatten, sich selbst noch zu  trauen, war erstaunlich. Obwohl die Menschen gerade die erschütternde Erfahrung gemacht hatten, das sie bereit und willens sind, jede Erfindung des homo sapiens auch einzusetzen, und sei sie noch so brutal, hatten sie die Kraft zu einer identitätsstiftenden Neugründung, die jegliche Dissoziation aufheben wollte und auch einiges Potential dazu hatte – trotz KZ, Atombombe, Rassismus, Homophobie etc. Hiervor schützen -– so eine insbesondere für das Bürgertum bittere Erkenntnis – den Menschen weder Aufklärung noch Bildung.
Der 8. Mai 1945, wo all dies als Neugründung begann, ist gerade einmal gut 70 Jahre her – ein Menschenleben, mehr nicht. Die gemeinsame europäische Kriegserfahrung fällt langsam als Movens für die nationale und europäische Friedensidee weg – die Generation, die davon erzählen könnte, stirbt gerade. Es ist eine Generation, die sich in einer Zeit neu erfinden musste, als Hirn und Herz der Menschheit regelrecht ausgebombt waren.

Nachbetrachtend war die Gründungsenergie nach 1945, die immerhin Krieg, Totalitarismus, Diktatur und Völkermord zu überwinden hatte, tatsächlich gewaltig. Und erfolgreich. Bemerkenswert war, dass man nicht die überlieferten geistigen Koordinaten infrage stellte, sondern an sie anknüpfte und sie verwandelte. Ähnliche Mechanismen gelten auch für frühere Epochenumbrüche wie Renaissance oder Aufklärung. Man versuchte nun die Demokratie auf ein besseres Fundament zu stellen, um diktatorische und populistische Gefahren zu verhindern, man implantierte die soziale Gerechtigkeit (soziale Marktwirtschaft) stabil im System, man versuchte sich als Mensch an dem alten humanistischen Bildungsgedanken neu aufzurichten. Der Gedanke der Nation wurde nicht aufgegeben, aber erweitert, die Religionsbindung wurde nicht aufgelöst, aber gelockert. Hilfreich war angesichts der international gemeinsamen Kriegserfahrung die Europa und die Welt einende Losung: „Nie wieder Krieg!“ In der Konsequenz wurden ältere Ideen von europäischer Einigung und aufklärerischem Weltbürgertum mit der Gründung neuer Institutionen wie EWG, UNO etc. auch politisch in Angriff genommen. Kurz: der Instrumentenkoffer der Gründungsväter war nicht neu, sondern bestand eigentlich in der endlich konsequent durchdachten Anwendung der Ideale der Aufklärung, der französischen Revolution, der Klassik und der noch jungen Errungenschaften von Demokratie und Sozialstaat. Im Grundgesetz wurde der ideelle Kern dessen, was Europa ausmachen könnte, auf der Basis der Ideale der französischen Revolution, erneuert. Nicht zu Unrecht hat unlängst Außenminister Sigmar Gabriel bei der immer wieder auflebenden Debatte nach einer deutschen Leitkultur geantwortet, die ersten 20 Artikel des Grundgesetz würden dafür völlig ausreichen. So entstand die erste wirkliche Zivilgesellschaft auf deutschem Boden. Eine Zeitlang schien es so, als sei neuen Dissoziierungsprozessen der Boden entzogen.
Auf den ersten Blick schien die Neugründung gelungen, doch wie jede Neugründung hatte auch diese zahlreiche Achillesfersen, die bald neue Dissoziationen, neue Dynamiken hervorbrachten: Der Frieden war mit verdrängter Schuld, mit Lüge und Verdrängung erkauft, die Verbrechen der Nationalsozialisten wurden nicht hinreichend aufgearbeitet. Die Neugründung war restaurativ, sie fand unter dem Dach des Obrigkeitsstaates alter Prägung statt – man nennt dies bis heute die „formierte Gesellschaft“. Von einer modernen, pluralistischen Gesellschaft konnte nicht die Rede sein. Und schließlich hatte der  neue Frieden – wie jeder Frieden –einen gewaltigen Preis: nämlich die Mauer, die die Welt in Ost und West teilte – eine neue Dissoziation. Mit der Folge abspaltender Unterdrückung der jeweils gegenläufigen Ideologie im je anderen System. Systemisch wäre hier zu fragen, ob für das Funktionieren einer Ordnung nicht das gegenüber einer andersgearteten Ordnung sogar stabilisierend wirkt. Ob also diese neue Weltordnung ihre Stabilität hatte, nicht obwohl, sondern gerade weil sie konsequent verschiedene Modelle von Gesellschaft trennte.

Das Auge der Gegenwart

Man ist geneigt, über grundlegende Fragen nachzudenken: Welchen Gesetzmäßigkeiten folgt die geschichtliche Entwicklung? Ist es so, dass sich Konstruktion und Destruktion, Harmonie und Dissoziation gegenseitig bedingen und sich nach irgendeiner inneren Dialektik abwechseln? Entsteht in Gründungsphasen nach vorheriger Katastrophe tatsächlich etwas Neues? Oder findet das Neue in einer verwandelnden Rekonstruktion des Alten statt? Braucht man Dissoziationen, um sich selbst zu definieren? Das sind entscheidende Fragen, sie führen in die Gegenwart. In ihr ist – erstmals in der Geschichte - in der Folge wirtschaftlicher und technologischer Entwicklungen ein Zustand erreicht worden, den die Menschheit bisher nicht kannte: die Aufhebung aller Grenzen – jedenfalls vorübergehend.
Neue Dissoziierungsdynamiken – Postmoderne Entgrenzung - Die Globalisierung. In Wahrheit war das 1945 begründete System der Bundesrepublik Deutschland nur ein kurzer Intermezzo, eine psychologisch wichtige Windstille, ein Zwischenstop auf dem Weg zur Globalisierung, die sich im 20. Jahrhundert zunächst als globaler Krieg ereignet hatte und bald eine weltweite und tatsächlich globale Dynamik zu entwickeln begann wie in der Menschheitsgeschichte nie zuvor. Sie begann 1968, bekam in der Entwicklung der weltweiten digitalen Welt weitere Dynamik und veränderte mit der sukzessiven Auflösung der beiden bisher prägenden politischen Blöcke die gesamte politische Landkarte.

All diese entgrenzenden Veränderungen  werden zuerst euphorisch begrüßt, lösen dann aber – das ist als Muster erkennbar -  schnell heftige Gegenreaktionen hervor, die auf alte nationale oder regionale, tendenziell autoritäre Modelle zurückgreifen und sowohl die Welt als Ganzes spalten wie auch die Gesellschaften in ihren Binnenstrukturen. Ihr Signum ist: Angst. Hier melden sich individuelle und gesellschaftliche Ichs zu Wort, die sich in einem Akt von Angstabwehr gegen das globale Einerlei stemmen wollen. Es ist der Menschheit offenbar nicht gegeben, ihre Entwicklung ohne dissoziative Prozesse zu betreiben. ja: die Entwicklung, der Prozess des Einzelnen wie der Gesellschaft ist offenbar grundsätzlich ein dissoziierender.
All die Phasen  globaler Entgrenzung hatten ursprünglich eine unglaubliche Dynamik, waren von Optimismus und Lebensfreude getragen und  hatten eine mitreißende identitätsstiftende Kraft. Es beginnt 1967/1968 mit einer Jugendrevolte. Sie geht von den USA aus und erfasst in kürzester Zeit die Jugend der Welt. Sie steht für eine neue Lebenskultur im Zeichen von Freiheit, Frieden und Individualismus gegen den Traditionalismus jedweder Art. Sie wird zum Vorreiter eines neuen, frei gewählten temporären Nomadentums (Jack Kerouac: „On the road“, Film „Easy Rider“) und richtet sich gegen den strukturellen Konservatismus der regionalen Systeme, egal ob im Iran, in der formierten Adenauergesellschaft oder in Großbritannien - selbst der Ostblock wird, obwohl hermetisch abgegrenzt, davon erfasst. Ob man sich in Kuala Lumpur, in Sidney, New York, Paris, Buenos Aires, Prag  oder Teheran aufhält: Jeans, Coca-Cola, Popmusik – all das setzt sich als Freiheitsgestus rasend schnell und weltweit durch. Allerdings verwandelt sich diese Revolte recht bald in den Konsumismus einer neuen weltweiten Massengesellschaft und bringt einen Einheitsstil von Moden und Lebensformen hervor, der uns bis heute nicht verlassen hat. Dieser neue Kulturimperialismus amerikanischer Prägung setzt viele Gesellschaften weltweit unter Druck und marginalisiert die eigenen kulturellen Traditionen zugunsten eines neuen, globalen Stils. Jeder kennt die hegemonialen Gesten der amerikanischen Kultur, von der Mode über die Musik bis zu den Serien und den Kettenrestaurants. Ein skurriles Beispiel: Während am 8. Mai 1995 Millionen Weltkriegsveteranen unter Aufbietung aller stalinistischen Ehrenzeichen mit geballtem Nationalstolz auf den Straßen Moskaus den Sieg der Sowjetunion über den deutschen faschistischen Imperialismus feierten, konnte der aufmerksame Beobachter in unmittelbarer Nähe zum Roten Platz die erste und soeben eröffnete Moskowiter Mc Donalds Filiale entdecken  - ein ikonographisch schlagendes Bild für die überfordernde Gleichzeitigkeit von Prozessen. Sie berühren die kulturelle Identität der Völker.

Die 68er Revolte war so etwas wie ein Testballon für den späteren und entscheidenden Globalisierungsschub. Er vollzog sich seit den 80er Jahren durch zwei nahezu parallel verlaufende Entwicklungen – eine politische und  eine technologische – beide mit erheblichen wirtschaftlichen Konsequenzen.
Politik:: Die Auflösung der Ost-West-Dissoziation. Der Wegfall des Sozialismus als imaginäre, wenn auch kaum reale Gegenutopie bescherte dem Kapitalismus einen Triumph: Hatte man jetzt nicht endlich die erträumte eine einzige freie Welt? Viele Menschen waren glücklich und haben vor den Fernsehschirmen gerührt und bewegt Tränen der Freiheit vergossen. Philosophen beschrieben im Geist der Postmoderne das Ende der Geschichte und die ewige Gegenwart einer Welt ohne Widersprüche. Und sie warnten: eine Welt ohne Widersprüche, ohne Dissoziationen, konnte das gut gehen? Eine Welt ohne Träume von etwas anderem? Kann der Mensch ohne Träume von etwas anderem leben? Als Herausforderung blieb „nur“ noch, den globalen Kapitalismus human zu gestalten – dann könnte alles gut werden, so in etwa war der Zeitgeist.
Technologie- Entwicklung der Produktivkräfte/digitale Revolution: Sie begleitete, ausgehend vom Silicon Valley in den USA, die politischen Entwicklungen, ohne dass das eine mit dem anderen ursächlich zusammenhing. Der globale Kapitalismus brachte in diesen Jahren einen neuen weltweit wirksamen Motor hervor: die digitale Revolution. Sie hat die Lebens- und Arbeitsverhältnisse mehr verändert als jede politische Entscheidung und mindestens so sehr wie die industrielle Revolution hundert Jahre zuvor. Ihre Markenzeichen sind bekannt: IBM, google, apple, facebook, amazon, Instagram, und jede Woche etwas Neues. Die Entwicklung der Kommunikations- und Distributionsmedien war von vornherein transnational und global. Das Internet entzieht sich der Kontrolle nationaler Regierungen – eine wuchernde Hydra, der Triumph der Privatwirtschaft nicht nur über den Staat, sondern auch über das Individuum. Es partizipiert an allem, aber es m u s s auch an allem partizipieren. Es gibt kein Entkommen, oder jedenfalls erfordert es ziemlich viel Charakter. Der Zuwachs an individueller Freiheit fällt auf eigentümliche Weise mit dem Verlust an Freiheit zusammen. Das Freizeitspielzeug verwandelt sich leicht in ein Zwangsimplantat für jedes Hirn. Der Informationsfluss wird schier grenzenlos, das Angebot an Möglichkeiten auch, die weltweite Vernetzungsmöglichkeit ohnehin. Anders als früher gibt es keine „Redaktion“ mehr, die stellvertretend für den Bürger wichtiges von Unwichtigem scheidet und Hierarchisierungen vornimmt. Alles ist gleichwichtig. Der Einzelne wird überflutet. Ist das Demokratie? Oder ein wahrer Dissoziationsrausch, eine Zersplitterungsorgie? Oder nur schlicht Konsumismus? Wo ist eine Hierarchie von Werten und Wertigkeiten? Jeder ist aufgefordert, sie selbst zu erstellen. Die Anforderung an den Einzelnen, an die Autonomie des sogenannten staatsbürgerlichen Ichs steigert sich ins Unermessliche, auch neuronal. Die Ich-und Welt-Dissoziation, mit der sich schon die frühe Moderne befasste, bekommt hier eine völlig andere Geschwindigkeit. Mit vielen Folgen. Die sogenannten „User“ verschalteten sich mit ihren technologischen Maschinen und Maschinchen zu Junggesellenmaschinen, das Soziale weicht dem Asozialen, der Gemeinsinn dem Autismus. Der Typus des sich allein auf seine Arbeit konzentrierenden Ingenieurs wurde plötzlich Gesellschaftsphänomen. Neue Begriffe wie „Silicon Syndrome“ (1983) machten schnell und früh die Runde. Aus dieser spezifischen Variante von Autismus entstand die Sozialfigur des „Nerds“.