Wie fühlt e
s sich a
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nden?

Schauspiel in vollständiger Dunkelheit

Wie fühlt es sich an zu erblinden? Durch ein brillantes Bühnenkonzept - vor allem durch das Spiel mit Licht und Dunkelheit und unter Einsatz technischer Hilfsmittel - gelingt es Bastian Kraft dies für den Zuschauer in einer Weise erfahrbar zu machen, die intensiver kaum denkbar gewesen wäre. Der Zuschauer bleibt nicht in der Rolle eines außenstehenden Beobachters, sondern wird gleichsam selbst in die Situation der Selma Jezkova versetzt, einer tschechischen Einwanderin im Amerika der 60er-Jahre, die aufgrund einer  Augenkrankheit nach und nach ihr Sehvermögen verliert und aus diesem Grund auch um ihren Job fürchten muss. Eine Stelle in einer Metallfabrik, in der sie rund um die Uhr arbeitet, um das nötige Geld für eine Operation ihres Sohnes aufbringen zu können, der erblich bedingt an der gleichen Augenkrankheit leidet wie seine Mutter und dem sie unter größter Aufopferung zu einem besseren Leben verhelfen will.

Die Darsteller spielen zu großen Teilen in
vollständiger Dunkelheit. Ausschnitthaft werden die Geschehnisse mit Hilfe von Nachtsichtkameras auf alte Fernsehgeräte projiziert, die im vorderen Teil der Bühne in Kästen aufgehängt sind. Hin und wieder treten die Personen am Rand der Bühne aus dem Schatten. Der Szenen- und Ortswechsel wird durch spottartige Einblendungen von Teilen der Bühne deutlich gemacht, die nur für den Bruchteil von Sekunden im kargen Scheinwerferlicht sichtbar werden. Auf den Monitoren sehen wir einzelne Gesten der Figuren oder Gesichter. Alles in Schwarz-Weiß. Mal wird das Bild
unscharf oder es flackert, wenn die Ängste überhandnehmen. Im Ausdruck verstärkt werden Gefühle und Handlung durch die
geräuschliche Untermalung mit dem Schlagzeug. So hören wir das wuchtige Stanzen der Maschine in der Fabrik und die harte Realität der schweren Arbeit dort wird für uns spürbar.

Licht wird die Welt nur, wenn sich Selma in ihre eigene, innere Welt begibt - eine Welt des Musicals, das sie über alles liebt! Dort findet sie Augenblicke des Glücks, aus denen sie Kraft und Mut schöpft, die ihr helfen mit der Wirklichkeit zurechtzukommen. Wenn Selma singt, scheint auch der Scheinwerfer mit ihr zu tanzen! Dabei gelingt es, die Inszenierung nie ins Kitschige abdriften zu lassen, sondern stets die ernste Grundstimmung zu erhalten.

Diese
Art und Weise der Darstellung war vom Gesamtkonzept her äußerst stimmig und sehr ästhetisch. Irgendwie surreal. Unter künstlerischen Aspekten hatte die Aufführung diesen Hauch des Einzigartigen und Besonderen, der das Stück von anderen abhebt und es einen nicht so schnell vergessen lässt. Allein schon aus diesem Grund halte ich die Inszenierung für absolut sehenswert!

Aber auch
inhaltlich hat uns die Aufführung sehr bewegt. Als das Licht endgültig erlosch und die Bühne in Dunkelheit versank, war das Publikum wie erstarrt. Gerührt und tief erschüttert von den Eindrücken der letzten 100 Minuten. Erst nachdem sich alle ein wenig sammeln konnten, brach ein tosender Applaus los. Wir haben nach der Vorstellung noch lange über das Stück diskutiert und waren hin und hergerissen, wie wir einzelne Aspekte einordnen sollten. Eine solche Auseinandersetzung war auch erforderlich, um sich aus dem Gesehenen wieder herauszuarbeiten. Bitte geht in das Stück nur in Gemeinschaft mit anderen lieben Menschen, sonst übersteht ihr das nicht! :)
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Im Folgenden setze ich mich noch etwas vertieft mit dem Inhalt des Stückes auseinander. Wer sich auf keinen Fall die Überraschung verderben möchte, der liest hier nicht mehr weiter. Viel Freude im Stück! Wer entgegen meinem Rat doch ganz allein in der Aufführung war und jetzt verzweifelt nach einem Partner zum Reden sucht, der darf mich als seine imaginäre Freundin betrachten und sich mit mir austauschen: Herzlich Willkommen zurück!
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In Dancer in the Dark wird das Bild einer Frau gezeichnet, die trotz aller Härten des Lebens nie den Mut verliert, sondern weiter kämpft. Die Tag und Nacht arbeitet und stets ihr Bestes gibt. Die Rückschläge wegsteckt, sich nie beklagt. Die anderen nicht zur Last fallen, sondern alles allein aus eigener Kraft schaffen möchte. Aber die drohende Erblindung ist etwas, dem Selma nicht entgehen kann. Und so lässt diese sich auch als Symbol verstehen für alle Hemmnisse und Lebensumstände, die den Menschen unverschuldet wiederfahren. In dieser Lesart kann das Stück aufgefasst werden als eine Kritik an einem uneingeschränkten
Wirtschaftsliberalismus und als Aufruf zu einer solidarischen Gemeinschaft.

Einem
radikalen Egoismus einzelner Figuren wird dabei der radikale Altruismus Selmas gegenübergestellt. Es wird das Bild einer Frau gezeichnet, deren höchstes Ziel die Heilung ihres Kindes ist und die dafür alles auf sich nehmen würde - bis hin zur Selbstaufgabe. Es wird das Bild einer Frau gezeichnet, die sich trotz der eigenen Notlage Zeit für die Sorgen anderer nimmt und diesen höchst empathisch begegnet. Andererseits ist Selma aber auch eine Frau, die sich in gewisser Weise selbst isoliert. Die gibt, aber nicht nehmen kann oder
will. Die nicht um Hilfe bittet, wo diese gerne gewährt würde. Die deshalb keine echte Gemeinschaft mit anderen eingeht und sich dadurch die Chance vergibt, zumindest einen Teil ihrer Musicalwelt zur Realität werden zu lassen. Tragischerweise ist es dann der eine Moment, in dem sie diese Isolation aufbricht und  sich anderen anvertraut, der weitreichende negative Konsequenzen hat.

Der Zuschauer verfolgt fassungslos das Geschehen, muss mit ansehen, wie sich alles gegen Selma wendet, die sich - und das ist vielleicht das nervlich Aufreibendste - dennoch konsequent weiter entsprechend ihrem eigenen idealistischen Weltbild verhält. Die Loyalität auch gegenüber denen zeigt, die sie längst verraten haben. Wie selbstverständlich. Die weiter streng uneigennützig handelt, gegen jeden rationalen Selbsterhaltungstrieb. Ihr unerschütterlicher Idealismus ist beeindruckend und verstörend zugleich. Man weiß nicht, ob man sie dafür feiern oder doch vielmehr als naiv ausschelten soll?

Schon Bertolt Brecht stellte sich in seinem Parabelstück "Der gute Mensch von Sezuan" die Frage, ob und ggf. wie es in dieser Welt möglich ist, "gut zu sein und doch zu leben". Seiner Protagonistin Shen Te gelang dieser Balanceakt nicht. Es zerriss sie wie ein Blitz in zwei Hälften. Eine gutmütig-naiv selbstlose und eine rücksichtslos egoistische Persönlichkeit, die nicht ohne einander existieren konnten. Selma hingegen bleibt sich bis zum Schluss treu. Aber auch sie muss letztendlich der Welt weichen. Ihr Überzeugungssystem erweist sich ebenfalls nicht als lebensfähiges Konzept.

"Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruß:
Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluß.
Vorschwebte uns: die goldene Legende.
Unter der Hand nahm sie ein bittres Ende.

Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.

Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?"

- Oder beides?

"Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!
Es muss ein guter da sein, muß, muß, muß!"


(
Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan, edition suhrkamp 73, Frankfurt a.M.
(Suhrkamp), 1964, S. 139, 144).


Thalia Campus Botschafterin Vanessa