Nath
an der W
eise

Meine Hoffnungen auf die Güte der Religionen ist noch nicht gestorben.

 „Es geht immer darum, den Text zum Klingen zu bringen“, sagt Nicolas Stemann.
Und es ist ihm gelungen. Lessings Nathantext erklingt als ein feiner, ziselierter Silberfaden. Der wird für zwei Stunden über die Bühne ausgespannt, als wäre er ein Hochseil, auf dem vorsichtig und genau die Schauspieler (und nicht weniger die Zuhörer) entlangbalancieren. Wohl wissend und bemerkend, dass sie sich ein paar Halbmeter über dem Boden bewegen. Auf Wunschgelände gewissermaßen. Nicht auf dem Boden der Tatsachen, der Realität. Sondern vernunfthoch darüber, oder soll man lieber sagen: traumhoch darüber?

Tatsächlich springen die Schauspieler und –spielerinnen auch manchmal ab von dem hohen Seil Lessings. Sie laufen zum Textheft und blättern darin herum, ob das, was sie tun auf dem Seil, da auch wirklich steht. Ob es wirklich so weitergeht, wie sie es angefangen haben. Als wunderten sie sich, wie verträumt, wie optimistisch Lessing ist. Und sie gestatten es sich - wieder zurück auf ihrem Textseil - zu übertreiben, hauchen verzückt ihre Liebesverwunderungen in die dunklen Mikrophone hinein, als spielten sie auf einer billigen Kneipenbühne, distanzieren sich, indem sie Schmalz in die Stimmen legen – aber sie bleiben beim Text, kehren immer wieder, fast ungläubig manchmal, wieder zu ihm zurück.

Kurz: Lessings Text wird ernst genommen, spielerisch, er wird nicht zerrissen und verrissen – aber als Luftseil dargestellt: Lessings Menschheitsliebestraum von einem großen Miteinander, der Urverwandtschaft aller Geborenen, der Nähe der drei großen Religionen.
Mit dem großen Lautsprecher, der die erste Viertelstunde die Bühne beherrscht, einsam wie vom Himmel herabhängend, einem Blechengelmund gleichend, macht Stemann eindrücklich seine Lesegenauigkeit klar und holt alle im Theater damit gelungen in den Text hinein. Unsichtbar verborgen hinter Vorhängen sprechen die Spielerinnen und Spieler wie aus einer anderen Welt aus dem Off. Und das ist dann anscheinend auch der Ort, der Lessing mit seinem Stück zugewiesen wird: wie aus einer anderen Welt – die mit unserer Wirklichkeit, dem Hier und Jetzt, den weltweiten Konflikten nichts zu tun hat. So ist es auch kein Wunder, dass die eigentlich das Stück beherrschende Ringparabel überredet und unterbrochen wird von anderen Stimmen.

Ob die gleichsam als Gegenkeil in das Stück Lessings getriebenen Texte Elfriede Jelineks tatsächlich den Zweifel an Lessings Hoffnungen steigern und zu mehr Nachdenklichkeit anregen, mag man bezweifeln. Aber auf jeden Fall bilden sie ein Gegengewicht zu dem hehren Wunschmodell Lessings. Als bräche mit einem Mal der Schmutz der Welt, der blutige Schleim von Terror, die Verführung durch sexuelle Phantasien, die Verlogenheit religiös verbrämter Hoffnung, die bis in den Wahnsinn hinein reichende Verwahrlosung verführter Zeitgenossen auf.

Stemann lässt den Text Lessings nicht reißen mit diesem Vorgehen. Aber das ohnehin komödiantische Ende von Lessings dramatischem Gedicht – die schließliche Aufdröselung der Verwandtschaftsbeziehungen der Beteiligten – verschwindet wieder hinter Vorhängen im Off. Der letzte, durchaus ironisch, beschrieben mit Lessings letzter Regieanweisung (Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang.) Doch da war für Stemann das Stück eigentlich schon vorbei: sein Schlussbild ist ein zusammenbrechender Nathan. Dessen Hoffnung stirbt.

Wie gesagt:
Es gelingt dem Ensemble den 1783 erstmals aufgeführten Text neu zum Klingen zu bringen. Ob allerdings die auftretenden Religionspuppen mit ihren übergroßen Köpfen, die Klischeemodelle der Vorurteile, mit ihrem vor allem kenntlichen Antisemitismusattributen, hilfreich sind? Ich müsste mir das Stück ein zweites Mal ansehen, um die Funktion dieses theatralischen Einfalls besser würdigen zu können. Und ich würde mir natürlich auch wünschen, dass die völkerverbindenden Leistungen der Religionen auch angedeutet würden, dass die Christenheit nicht nur auf karikierende Katholizismen reduziert würde. Aber damit bin ich bei meiner eigenen Meinung und meinen persönlichen Überzeugungen angelangt. Und mir geht es anders als diesem Nathan – meine Hoffnungen auf die Güte der Religionen ist noch nicht gestorben.

Und das Geschichtchen Nathans, die Ringparabel, ist mir immer noch eine Geschichte, deren Wirkkraft ich nicht missen möchte. Wir leben von großen Geschichten.

Mir schwebt auch eine anders mögliche Inszenierung vor: dass in diesem Stück, das ja junge Leute umgeben von älteren Herrschaften zeigt, diese jungen Leute, Recha und der Tempelherr als, nun nicht als strahlende Sieger und Helden, aber als hoffnungsvolle Mitarbeiter an einer besseren Welt mutig dastehen am Schluss – und nicht bedroht und verroht und dem Wahnsinn nahe mit zerstörter Sprache wie im Jelinekschen Einschub.
Doch es bleibt: diese zwei Stunden im Thalia-Theater beeindrucken und können begeistern.

Maria Jepsen, Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche.


Maria Jepsen