Rezensionen zu
Häns
el & G
retel

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8.Mai 2018, Hamburg. Vor einigen hunderten Jahren war man arm, wenn man nicht genug zu essen hatte. Doch (zum Glück/zum Pech?) sind solche Zeiten vorbei, sodass die deutsche Mittelstandsfamilie ihre Kinder nicht mehr im Wald aussetzten muss, um nicht zu verhungern, sondern um beide Autos behalten und immer noch in den Urlaub fahren zu können. Ja, diese Entscheidung klingt etwas schräg und auch ein bisschen extrem; aber Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoos Inszenierung des bekannten Märchens „Hänsel und Gretel“ wird noch viel skurriler.

Natürlich, das Original von den Gebrüder Grimm aus dem 19. Jahrhundert war auch schon keine leichte Kost; schließlich werden die beiden verstoßenen Geschwister von einer kannibalischen Hexe versklavt und gemästet, bis diese ihn einem Ofen ihr Ende findet.
Aber die Inszenierung von Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoos will noch brutaler, noch radikaler sein als das Original; und das mit allen Mitteln. Kein Wunder also, dass sich auf der Bühne gehäutete Mäuse, eine Travestithexe und ein alternder Rockstar tummeln.

Gut, der alternde Rockstar heißt Till Lindemann und ist der Frontsänger von Rammstein. Und so richtig findet man ihn auch nicht in persona auf der Bühne wieder; er wird nämlich auf eine gewaltige Leinwand projiziert. Und von da aus kann er seine schaurig schönen Lieder zum Besten geben, während Hänsel und Gretel gerade die Wirren des Waldes erleben dürfen.
Till Lindemanns Schaueinlagen passen dabei ziemlich gut zum verwirrend-gruseligen Ambiente des Stücks; vor allem wenn man bei den Songtexten genauer hinhört. Und auch ist es eine gute Möglichkeit, hart gesonnene Rammsteinfans ins Theater zu locken. Aber irgendwann wird es auch zu viel mit dem Gesinge/Gekreische, vor allem wenn die Bühne an Wahnsinn und Verrücktheit überzuquellen scheint.

Und das passiert spätestens nach der Pause. Auf einmal stehen Figuren auf der Bühne, die man so zwar auch im Hamburger Dungeon vorfinden könnte, die jedoch mit der Handlung selber nicht viel zu tun haben. Und Gretel ist nun auch ein Stein. Ja, die Handlung wird nach der Pause noch ein bisschen sinnfreier, aber wenigstens macht eines Sinn, dass Hänsel nach seiner Fresserei bei der Hexe so richtig fett geworden ist.

Und diese Fresserei bei der Travestithexe (schaurig gut von Björn Meyer gespielt) hat es ganz schön in sich. Wie im Wahn stopft sich Kristof van Boven als Hänsel die Schlemmereien in den Mund, sodass man es schon als besondere schauspielerische Leistung betrachten muss, dass dieser dabei nicht einmal erbrach. Denn nach diesem abartigen Gestopfe und Geschlinge gab es sicherlich Zuschauer, die sich gerne ihres Mageninhaltes erledigt hätten.

Diese besondere Einlage war aber nicht das Einzige, was dem Auge an Schrecken geboten wurde: Neben einem an Fettwülsten erstickenden Hänsel gab es noch Gesichter, die mit Wunden, Blutgerinnsel, Narben und Pickeln bis an die Unkenntlichkeit geschminkt wurden. Die Maskenbildner haben bei dieser Inszenierung wohl ihr Bestes getan, dass wirklich niemand auf dieser Bühne auch nur ansatzweise dem Ideal von Schönheit nahekommt; und diese hässlichen, verformten Gestalten haben zum grotesken Horror dieses Stückes wahrlich beigetragen.

Letztendlich ist diese Inszenierung von „Hänsel und Gretel“ nicht für jedermanns Gemüt gemacht; wer also ein Sinn ergebendes Märchen mit Happy End sucht, der ist bei Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoos Inszenierung wahrlich im falschen Stück. Doch wer skurrilen Horror, radikalen Wahnsinn oder Till Lindemann mag, dem wird diese besondere Variante der Rocky-Horror-Picture-Show gefallen. Ansonsten ist diese Inszenierung ziemlich gut gelungen, doch irgendwann hat man sich auch sattgesehen an dem abgedrehten Wahnsinn, vor allem wenn nichts mehr einen Sinn ergeben will.
Luise Lämmerhirt, Leibniz Privatschule Elmshorn, Jg 12