Die Flammen der wahren Hölle

Marion Tiedtke im Gespräch mit den Autoren Feridun Zaimoglu und Günter Senkel

Marion Tiedtke: Am Beginn unserer Vorbereitungszeit zu Othello hat Luk Perceval sehr früh signalisiert, dass für seine Inszenierung eine neue deutsche Bearbeitung notwendig sei. Bei der Suche, welchen Autor wir dafür beauf- tragen könnten, haben wir uns letztlich für euch entschieden. Bevor wir uns in Antwerpen kennen gelernt haben, hattet ihr Othello noch einmal neu gelesen. Was hat euch bei der ersten Lektüre fasziniert?
Günter Senkel: Bei der ersten Lektüre des Reclam-Hefts, also der Baudissin- Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert, hat mich eigentlich nichts fasziniert. Ich habe dann das englische Original gelesen und fand es großartig.

Woran lag das? Was hat euch am englischen Text interessiert, was in der deutschen Übersetzung geradezu verloren geht?
Feridun Zaimoglu: Das Original, wie wir es kennen, war zum Zwecke der Volksbelustigung geschrieben und inszeniert. Aber diese erste Übersetzung ist eine politisch korrekte Version des Ganzen, eine Verharmlosung des Originals durch ungeschriebene moralische Standards.

Senkel: Die erotischen Anspielungen sind weitgehend draußen, der ganze Rassismus ist gedämpft, der Humor nahezu verschwunden. Diese Erstübersetzung entspricht konventionellen Vorstellungen des letzten Jahrhunderts, wie man einen Klassiker auf die Bühne zu bringen habe.

Zaimoglu: Es war im Grunde genommen eine durchgehende Auslassung. Nur durch die Lektüre des Originals stießen wir auf den Sinn des Ganzen: Wir flogen über die Zeilen, und es war unwichtig, wenn wir das eine oder andere englische Wort nicht gleich kannten. Die Figuren waren plötzlich keine Sprechapparate mehr sondern Menschen. Auch wir hatten vorher nicht nur Baudissin, sondern mehr als ein Dutzend anderer Übersetzungen gelesen und fanden immer wieder unseren Eindruck bestätigt, dass durch den Versuch der wortgetreuen Übersetzung wesentliche Aspekte des Stücks verloren gehen, oder aber die jeweilige Übersetzung stark geprägt ist durch ihre eigene Entstehungszeit.

Für euch war es schließlich der erste Auftrag, ein Theaterstück neu zu bearbeiten. Bis dahin hattet ihr vor allem Drehbücher gemeinsam geschrieben – hat sich eure Zusammenarbeit durch diese Aufgabe verändert? Wie ist die Bearbeitung überhaupt entstanden?
Senkel: Die Drehbücher waren eigentlich nur eine Vorstufe zu unserer gemeinsamen Arbeit am Theaterstück, wir haben sie uns gegenseitig hin- und hergeschoben. Das hängt damit zusammen, dass es für uns beide nicht einfach ist, wenn der Kollege in dem Text herummalt und verändert, den man gerade geschrieben hat. Wir haben vor der Arbeit an Othello nie zusammen vor dem Computer gesessen, aber für die Othello-Fassung haben wir das plötzlich häufig gemacht. Zunächst einmal habe ich eine relativ direkte Übersetzung ins Deutsche angefertigt. Während dieser ganzen Übersetzerei ist der alte Text von Shakespeare für mich so heilig geworden, dass ich eine Veränderung daran nicht mehr ertragen konnte. Meine Übersetzung ist bei Feridun auf dem Tisch gelandet, er hat brachial darin herumgeschrieben und die erste veränderte Fassung gemacht. Er gab sie schließlich an mich zurück. Ich konnte nicht akzeptieren, was Feridun gemacht hatte. Letztlich saßen wir gemeinsam vor dem Computer und haben uns doch geeinigt.

Zaimoglu: Ich hasse Originaltreue wie die Pest. Dass ein Text hoch und heilige Miasmen ausströmt, das peitscht mich eher dazu an, dem Text den Garaus zu machen. Ich will die Menschen vor mir haben, ich will die Geschichte verstehen, und was im Original steht, das interessiert mich überhaupt nicht vom Wortlaut her, sondern vom Sinn. Ich habe das gelesen und nicht einen Zweifel gehegt, dass man es mit einem großartigen Text und mit einem Genie zu tun hat. Und trotzdem habe ich den Acker umgepflügt, denn ich hatte die Geschichte verstanden. Wir haben uns ständig darüber unterhalten, immer und immer wieder. Wir sind in die Rollen geschlüpft und zunächst sah es so aus, als wäre ich Jago, seine kalte Bosheit machte mir Spaß. Und Günter war zunächst einmal, beziehungsweise ich legte es ihm nahe, Othello. Aber dann – und das hat dem Text auch gut getan – stellten wir fest, dass wir zwischen den Figuren hin und her geeilt sind. Wir changierten. Mal war ich Othello, mal Jago, mal war ich Desdemona. Mal war Günter plötzlich Jago, weil er mit einer noch schlimmeren Bosheit aufwartete, mal war er Emilia. Nicht nur, dass wir von unserer Zettelwirtschaft profitierten, nicht nur, dass es uns Spaß machte, unsere Versionen hin und her zu reichen, plötzlich bewegten sich die Figuren in uns. Plötzlich waren sie keine bloßen Figuren mehr. Ich meine damit nicht ein Einfühlungsvermögen, das sich darin erschöpft, ein Gefühl für die Figuren zu entwickeln – Blödsinn, viel mehr als das! Wir verwandelten uns vom gerissenen Schwein Jago zur wirklich sehr leichtfüßig daher kommenden Intrigantin Emilia – das alles hat uns große Lust bereitet.

Wenn ihr auch manchmal nicht gemeinsam am Computer sitzt, so wohnt ihr doch Tür an Tür – und das seit mehr als zehn Jahren, seit eurer gemeinsamen Studentenzeit. Wie habt ihr euch denn kennen gelernt?

Zaimoglu: Schieß los, Baby!

Senkel: Ich hatte mich in seine Schwester verliebt, die hat uns vorgestellt.

Zaimoglu: War’s das?

Senkel: Was? – Ja, so im Prinzip...

Zaimoglu: Ja, dann schmücke ich das mal aus: Günter war schwer mit Büchern zugange. Er war aber nicht der übliche Buchhändler, er war der Hexenmeister. Im ehemaligen Fahrradkeller der Kieler Uni bot er Bücher feil. Ich bin immer wieder hingegangen, und das habe ich exzessiv betrieben, jeden Tag war ich dort. Ich habe damals bildungsbürgerliches Kulturgut gekauft: Thomas Mann und Kafka – die Lektüre machte mich nicht froh. Und Günter – das war kurz bevor wir einander vorgestellt worden sind – hat sich das wohl eine Weile angesehen und sprach mich vor dem Belletristik-Regal an und sagte: Das wird so nichts. Er hat mir dann einen Stapel mit hard-boiled Krimis und Science- Fiction überreicht und gesagt: Lies! Ich hab’s natürlich brav gelesen. Es war großartig.

Senkel: Das muss irgendwann Ende der 80er gewesen sein.

Zaimoglu: Ende 84 kam ich nach Kiel. Ich hatte einen Studienplatz für Medizin bekommen. Aber Medizin war nicht meine Sache, das stellte sich bald heraus. Und so bin ich durch die Antiquariate gestreift. Damals gab es ja sehr viele in Kiel, und unter anderem war ich in Günters Büchergrotte. Wenige Monate später trat meine Schwester auf den Plan. Es gibt hier den Club 68. Günter ist immer wieder dort hingegangen und sah meine Schwester, die gekellnert hat – es war um ihn geschehen. Ich weiß nicht, ob er gedacht hat: Oh Gott, Türkin – die hat doch nen Türken-Bruder. Hatte sie.

Senkel: Mir war nicht ganz klar, was für ein Türken-Bruder jetzt kommt.... Ich hab fast fünfzehn, zwanzig Jahre lang mehr oder weniger intensiv Buchhandel betrieben. Es war in der Tat so, dass ich immer wieder erleben musste, wie jemand mit einem ganzen Packen Literatur ankam, von Remarque bis zu den Mann-Brüdern. Ich hab mir die Leute angesehen und hab ihnen einen richtig schönen Krimi in die Hand gedrückt. Man soll nicht nur depressive Bücher lesen.

Also ihr schreibt keine Literatur, die deprimiert?
Zaimoglu: Gute Frage.

Senkel: Man kann das machen, aber man muss wissen, wo die Grenzen sind. Man soll sich nicht in Depression verlieren, die man letztlich aus seiner eigenen oder aus anderer Literatur schöpft.

Zaimoglu: Es geht ja darum, dass man sich nicht nur spezialisiert auf das Bildungsbürgergut. Das bedeutet wiederum nicht, dass man auf die Regression zum halben Analphabeten hin lebt. Wir haben ein Wort geprägt, und das ist, glaube ich, in diesem Falle angebracht, nämlich: Partisanentum. Wir können uns nicht verstellen und irgendetwas schreiben, was nicht von uns ist. Das trifft für die meisten zu, dass ihre Erfahrungen, ihre Erlebnisse, ihre psychologischen Muster in die Texte einfließen. Im Grunde genommen habe ich in Günter zum ersten Mal den Menschen getroffen, der ähnliche Lebens- und Kulturtechniken hat wie ich. Bislang hatte ich immer so gelebt, dass ich ein Hund war, der raus geht und abends heim kommt und die Kletten in seinem Fell bemerkt. Also hinschauen, aufsaugen. Ich würde von einer selbstentgrenzenden Kulturtechnik sprechen. Deshalb habe ich auch Günters Bücherstapel angenommen. Es war dann Schluss mit dieser selbstauferlegten Disziplinierungsmaßnahme, den klassischen Literaturkanon lesen zu müssen.

Senkel: Eigentlich kommt man darüber auch wieder zu dem Punkt, warum uns der Shakespeare so viel Spaß gemacht hat.

Zaimoglu: In Shakespeare begegnen wir einem Menschen, der sich nicht dieser typisch abendländischen Spaltung von Geist und Körper oder Volksbelustigung und Bildungsgut unterwirft. Das Platonische ist in seinen Stücken aufgehoben. Es gelingt ihm, in jedem Stück eine Art Tiefenauslotung der Figuren vorzunehmen.

Othello, das Eifersuchtsdrama eines schwarzen Generals, ist eines der meist gespielten Stücke Shakespeares, und doch sah man die Eifersucht von Othello oftmals sehr kritisch: Othello, ein leichtgläubiger Fremdling, der sich nicht der Realität stellt... Habt ihr schon mal eine Othello/Desdemona-Situation erlebt? Ist Eifersucht ein Thema für euch?
Zaimoglu: Das war eine Fangfrage! Aber wir geben Auskunft.

Senkel: Die Eifersucht als Teufel, der sich einschleicht und die Beziehung vergiftet, so dass nichts hilft: Im Grunde hat sie sich in jeder Beziehung irgendwann mal mehr oder weniger stark bemerkbar gemacht. Man erkennt sie ganz genau. Plötzlich hat man einen Verdacht und dann vermeint man die Zeichen zu sehen, wo sich der Verdacht erhärtet, und in Wirklichkeit ist es alles Schwachsinn. Das ist ein Teil der eigenen Erfahrung.

Zaimoglu: Ich bin ein Schwerathletiker der Eifersucht gewesen. Ich war immer einer, der nichts anderes erwartet hat, als dass der Verdacht sich erhärtet. Irgendwann stößt man natürlich an seine eigenen Grenzen. Noch besser: Man entlarvt sich als Kontrollfreak. Ich habe mich zudem als Prolet entlarvt, der sich selbst nicht an die eigenen Spielregeln gehalten hat. Das heißt, die Frau hatte sich bußfertig und keusch zu geben, aber das galt nicht für mich. Die schleichende Vergiftung ist immer wieder ein Teil meines Programms gewesen, bis ich wachgerüttelt wurde oder mich im Staub wand – und am Ende blieb nur eine große Kluft, wo einmal die Liebe war. Und dann kam Günter ins Spiel. Er hat mich darauf hingewiesen, wie öde ich sei und wie öde das sei, was ich inszeniere. Von der eigenen Inszenierung kommt man unmittelbar zu Shakespeares Geschichte. Nun kann man sich vorstellen, wie großartig uns Othello vorkam, weil er uns sehr verwandt schien. Wir waren angetan von seinem naiven Pathos, von seiner bisweilen ins Poetische abtrudelnden Selbstherrlichkeit, von seiner Liebesanrufung und von seinem fast schon minnesängerischen Temperament. Diese Geschichte ist einfach wahr, sie hat einen hohen Wiedererkennungswert.

Das Thema der Eifersucht ist mit dem Thema des Fremdsein verbunden: Die Eifersucht zerstört Othellos ganze Identität, am Ende empfindet er sich nicht nur als betrogener Ehemann, sondern auch als fremder Eindringling, als Neger. Feridun, du bist in der Türkei geboren und in Deutschland aufgewachsen, würdest du sagen, dass man, aus einer anderen Kultur kommend, auch anfälliger ist für Eifersucht, weil das Problem des gekränkten Stolzes ein größeres ist?
Zaimoglu: Was nützt das Fremde, wenn das Maß der Entfremdung alle Figuren schleift. Das Fremde ist ja eigentlich nichts weiter als ein kunsthandwerkliches Motiv. Das sage ich nach fast 34 Jahren, die ich hier in Deutschland lebe. Man kann das Fremdsein bemühen, aber dieses Motiv zeugt auch vom eigenen Unvermögen. Es gibt sie, diese eindeutig ausstoßenden Situationen und Denkmuster. Immer wieder wird der sogenannte Fremde als Fremder markiert. Für mich ist das nicht unbedingt inspirierend. Für mich ist, wenn wir von der Kunst sprechen, der Bezug zur Fremde der beste Weg zum Kunsthandwerk. Es geht doch darum, Kunst zu machen, und sich nicht in eine Ethno-Niesche drängen zu lassen. Wenn man immer wieder die Fremdheit bemüht, dann hat man versagt. Nehmen wir Othello. Immer dann, wenn er das Fremde bemüht, ist es so, als würde er ein tatsächliches Gefühl überspringen. Wir reden immerhin von einem General, von einem Menschen, der sich hochgearbeitet hat, der verdienstvoll ist und im Krieg gegen die Türken die Integrität und die Interessen des Vaterlandes bewahrt. Wann stoßen wir bei ihm auf das Fremde, auf die falsche Hautfarbe? Es ist sehr leicht sich vor den Spiegel zu stellen und zu sagen: Aber selbstverständlich, es liegt an der Hautfarbe. Die Probleme sind jedoch vielschichtiger. Und so war es für uns großartig, dass ihr uns nicht irgendeine mühselige Anti-Rassismus-Hausaufgabe aufgegeben habt, als wir in Antwerpen zum ersten Mal über eine neue Bearbeitung sprachen.

Senkel: Die Frage nach der richtigen Hautfarbe streift nur ein Problem, ein ganz wesentliches Motiv des Stückes ist auch die Frage des Alters. In Othello begegnet uns ein alter Mann mit einer jungen Frau. Das schafft in der Umgebung erst einmal Naserümpfen: Wie kommt er zu der, das passt doch gar nicht... und dadurch kommt man auch zur Frage des Selbstwertgefühls dieses alten Mannes. Er sieht sich die vermeintlichen oder auch wirklich- en Konkurrenten an und stellt fest, sie sind jünger und schöner als er, sie können seiner Frau mehr bieten. Er bewegt sich in einer Reflexionsschleife, in der auch sein Selbstvertrauen zugrunde geht. Das ist die heute geradezu aktuelle Frage des Alterns, und die Hautfarbe kommt als zusätzliches Gewürz dazu.

Zaimoglu: Es ist im Grunde eine Fabel über Alter, über junge Körper, über verbrauchte Körper. Noch einmal: Othello hat sich verdient gemacht um sein Land, ein Othello hat Geld, er verfügt über Reputation, er ist ganz oben in der Hierarchie. Nun sollen wir ihm abnehmen, dass er diese Frau liebt. Wir nehmen ihm das ab, aber sofort schleicht sich der Verdacht ein. Wie kommt es, dass diese schöne junge Frau, die nur mit den Fingern schnipsen muss und zehn Galane werfen sich ihr zu Füßen, sich nicht nur verliebt hat in diesen alten Mann, sondern sie liebt ihn tatsächlich, und er liebt sie. Das ist die Anfangssituation. Wollen wir es ihnen glauben? Es bleibt immer ein Verdachtsmoment, man will es nicht. Shakespeare hat diesem Stück sehr viele Motive beigegeben. Man redet über die Hautfarbe, man redet über den Fremden, den Eindringling, der sich in irgendeinen Körper hinein bohrt im doppelten Sinne des Wortes. Damit spielen auch Othellos Feinde. Er ist plötzlich umzingelt von Menschen, die ihn ansprechen auf Eifersucht, auf sein Alter, auf seine Verbrauchtheit. Man stößt auf so viele Motive, dass Fremdheit für uns nur eines von vielen sein kann.

Dennoch ist es ein spannendes Motiv, gerade im Zusammenhang mit einem Autor wie dir, Feridun, dem das Thema der Fremde in die eigene Biographie eingeschrieben ist – ob du willst oder nicht.
Zaimoglu: Es ist tatsächlich so: Will ich es oder will ich es nicht? Wenn man in einigen kleinen Vorhöllen geschmort hat, weiß man, wovon man redet. Von meinem Selbstverständnis bin ich Deutscher. Es gab viele Menschen, die mich trotzdem im dritten oder vierten Satz als Türken angesprochen haben. Das zieht mich runter. Wenn ich mich auf meine ethnischen Muster oder aber auf die Muster der Aufnahmegesellschaft beziehe, dann merke ich, dass ich mich auf einem sehr niedrigen Niveau bewege. Diese Vorhöllen, von denen ich gesprochen habe, gab es in der Kindheit. Damit meine ich die ganzen Schauplätze wie die Klassenzimmer, den Pausenhof, die Diskotheken, die Strassen: Dort wird man plötzlich als einer angesprochen, der man so nicht ist. Aber schon als Kind habe ich sehr schnell begriffen, dass ich darauf keine Lust habe. Ich habe festgestellt, je mehr ich mich dem entziehe, desto näher komme ich einem wesentlicheren Gefühl. Ich gehe auf die ganzen Spielchen nicht ein. Wichtiger ist für mich, was ich bin. Wichtiger ist für mich, wie ich mich fühle. Wichtiger ist für mich in den letzten Jahren, den Versuch zu unternehmen Kunst, Kultur zu machen. Existenzialistisch gesehen sprechen wir davon, dass jeder Mensch sich selbst erfindet. Und genauso wie ich damals begriffen habe, ich überlebe nur, wenn ich meine Lust am Rollenwechsel auslebe, wende ich das heute auch an.

Senkel: Die Denunziation des Fremden, des Unbekannten, das Misstrauen ihm gegenüber ist letztlich eine zutiefst menschliche Eigenschaft, die sich zu allen Zeiten durch jede Gesellschaft durchgezogen hat. Sie beginnt im Innern der heutigen Gesellschaft, wenn eine Familie zum Beispiel aus Frankfurt in eine Vorortsiedlung nach Neumünster oder Kiel zieht. Auf dem Dorf ist derjenige fremd, der aus der Stadt kommt. So fängt es an, und es hört bei Leuten mit anderer Hautfarbe, aus fremden Ländern, aus anderen Erdteilen nicht auf. Man sucht sich immer irgendwelche Maßstäbe, an denen man die eigene Gruppenzugehörigkeit festmacht. Rassismus ist in diesem Stück als Alltäglichkeit eingeflochten, weil es eine zutiefst menschliche Eigenschaft ist.

Die Herkunft Othellos wird bei Shakespeare auch durch einen gehobenen Sprachstil deutlich. Er ist sehr eloquent, verwendet viele poetische Bilder und erzählt zwei unglaubliche Geschichten: Seine Lebensbeichte und die Beschreibung des Taschentuchs, das nicht nur die Unschuld darstellt, sondern auch seine enge Bindung zur Mutter symbolisiert. Uns muten diese Schilderungen eher märchenhaft an, sie spiegeln andere ethnische Lebens- und Denkmuster wider.
Zaimoglu: Ja, es war für mich gleich nach der ersten Lektüre erstaunlich, welche persönlichen Parallelen es in dieser Taschentuch-Geschichte gab. Mit fünfzehn hatte ich eine brutale Akne vulgaris. Mein Gesicht glich einem Tomatenfeld. Ich war entstellt, die Pubertät war für mich die Hölle. Als alles nichts half, sagte meine Mutter, es gäbe eine Möglichkeit: Eine Jungfrau müsse sieben Tage lang ein weißes Taschentuch an ihre intimste Stelle legen. Mit diesem Taschentuch müsse ich dann sieben Tage hintereinander nach dem Waschen das Gesicht trocknen. Das habe ich gemacht – und es half nichts. Ich wurde sauer. Es ging schließlich um mein Gesicht, meine Vorzeigefläche. Man kann sich also vorstellen, was das Taschentuch für mich bedeutete. Ich bin mit Kalendersprüchen, mit Koranweisheiten und abergläubischen Praktiken aufgewachsen, und dafür bin ich meiner Mutter sehr dankbar. Das ist ein Schatz, auf den ich nicht verzichten mag. Sie hat mir auch erzählt, dass ich in einer unversehrten Fruchtblase aus ihrem Körper ausgestoßen worden sei, die Krankenschwestern hätten sich auf diese Fruchtblase geradezu gestürzt, um ein Stück zu erheischen und in ein Taschentuch einzuschlagen. Es war für sie ein Amulett, ein Glücksbringer, weil es die Legende gibt, dass auch der Prophet Mohammed in einer unversehrten Fruchtblase zur Welt gekommen sei.

Die Frauen werden in der Othello-Rezeption weniger berücksichtigt, meist konzentrieren sich die Interpretationen des Stückes auf die beiden Haupt- figuren, Jago und Othello. Tatsächlich haben die Frauen bei Shakespeare immer nur den reagierenden, nicht den agierenden Part. Sie bleiben sehr eindimensional: Die untergeordnete Kammerzofe Emilia und das bekannte Bild der Heiligen in Desdemona und das der Hure in Bianca. Luk Perceval wollte deshalb von Anfang an die Figur Bianca streichen und zugleich die Figur Emilia in der Bearbeitung aufwerten. Wie beurteilt ihr das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in Othello?
Senkel: Man hat bei Shakespeare den Eindruck, dass die Männer über die Frauen herrschen, aber letztlich von ihnen abhängig sind, so dass der Spieß eigentlich umgedreht wird.

Aber die Männer führen das Wort in dem Stück.
Senkel: Die Männer führen das Wort, aber die Frauen führen die Männer.

Zaimoglu: Wir wollten es so verstehen. Im Original ist es jedoch so, dass die Frauen bessere Statisten sind. Uns hat das von Anfang an missfallen. Die Frauen werden, und das hat bis heute mit der gesellschaftlichen Realität zu tun, von Männern als Vollzugsorgane für die niederen Geschäfte oder Belange angesehen. Sie sind nicht nur Stichwortgeber, sie sind Gebrauchsartikel.

Senkel: Auf der emotionalen Ebene nutzt Othello all dies nichts, weil er von der Liebe zu Desdemona abhängig ist und ohne sie nicht leben kann. Er kann das Leben auch nicht dadurch ertragen, dass er sie tötet. Ebenso ist Jago von seiner Emilia letztlich abhängig: Zwei Sätze von ihr reichen, um seinen ganzen Plan und ihn selbst zu zerstören.

Ist Othello ein Stück, das unsere heutige Gesellschaft widerspiegelt?
Senkel: Othello ist ein Stück, das mit Emotionen spielt, mit Leidenschaften, und diese Leidenschaften sind so grundlegend menschlicher Natur, dass sie von den gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängig sind. Man kann sich an Äußerlichkeiten festhalten, indem man darauf besteht, Othello sei ein Söldnergeneral in einer Adelsgesellschaft. Natürlich stimmt das: Wir haben es hier mit Großkapitalisten zu tun und mit einfachen Soldaten, die untergeordnete Söldner sind. Die Leidenschaften aber, die diese Figuren haben, sind von ihren gesellschaftlichen Funktionen völlig unabhängig.

Zaimoglu: Das Stück ist so aktuell, dass man die menschlichen Motive, von de- nen du sprichst, eins zu eins auf unsere heutige Gesellschaft übertragen kann.

Senkel: Die Eifersucht ist heute noch dieselbe, das Gefühl des Alterns ist dasselbe, das Gefühl des Misstrauens ist dasselbe, das Gefühl zurückgesetzt zu werden, das Jago umtreibt, ist dasselbe. Es sind grundlegend menschliche Eigenschaften, die für jede Gesellschaft und für jede Zeit Gültigkeit besitzen.

Bei Shakespeare gibt die aristrokratische Gesellschaft ihre rassistischen Vorurteile nur zu, wenn sie sich wie Brabantio geschädigt fühlt. Jago allerdings formuliert zu Beginn der Tragödie einen schonungslos rassistischen und sexistischen Standpunkt. In eurer Bearbeitung wird diesem Aspekt des Originals große Bedeutung beigemessen, sie ist vor allem durch Rassismus, Sexismus und Zynismus geprägt. Beabsichtigt ihr den Tabubruch anhand eines Klassikers im Kulturtempel Theater? Oder zeigt sich darin die Dekadenz unserer Gesellschaft?
Zaimoglu: Tabubruch ist was für pubertierende Bettnässer, um mich selbst zu zitieren. Darum geht’s natürlich nicht. Es geht um ein wirkliches Stück. Wir wollten dem Original dahin gehend entsprechen, dass wir die tatsächlichen Verhältnisse bewahren wollten. Man mag das als sexistisch oder rassistisch bezeichnen, aber wir sind Realisten. Die Geschichte geht so und nicht anders: Wenn man sie durchliest, stößt man im wahrsten Sinne des Wortes auf Kriegsschauplätze. Alle Figuren sind Söldner des Lebens. Mann wie Frau sind nicht Herr der Lage, auch wenn sie sich als Herr und Herrin ausgeben, auch wenn sie glauben, sie hätten das Leben unter Kontrolle – es kommt anders als geplant. Es ist eine sehr oberflächliche Lesart, wenn man im Original und in unserer Fassung sich nur auf Worte und Handlungen bezieht, denn das ist nur die dünne Kruste, aber darunter lodern die Flammen der wahren Hölle.



Marion Tiedtke