Wieviel Freiheit verträgt der Mensch?

Benjamin von Blomberg im Gespräch mit Nicolas Stemann

Benjamin von Blomberg: Früher hast du als Klavierspieler gejobbt, du singst, spielst Gitarre. Deine alte Band ‚Musik für alle' gibt es auch wieder. Wärst du lieber Musiker geworden?
Nicolas Stemann: Nun ja … Ich habe immer Musik gemacht, seit ich Kind war, zunächst ganz klassisch mit Klavier- und Gitarrenunterricht, später dann in Bands; seit ich elf war habe ich eigene Songs geschrieben, mein erstes Geld habe ich mit Musik verdient – im Grunde klingt das ja nach dem klassischen Beginn einer Musikerkarriere. Ich habe aber außerdem auch immer viel geschrieben, mit Freunden kleinere Filme auf Video gedreht, und irgendwie bin ich dann im Theater gelandet, wo ich wohl gehofft habe, all diese Tätigkeiten zu einer Kunstform bündeln zu können. Das Gefühl „Hätte ich nicht besser Popstar werden sollen?“ überkommt mich immer wieder, wie ein Phantomschmerz meines eigentlichen, verpassten Lebens, vor allem, wenn die Theaterarbeit mal wieder schwierig ist … Aber ich weiß natürlich, dass ich mich nicht beklagen kann – die Situation, in der ich am Theater arbeite, ist in ihrer künstlerischen Freiheit und den Möglichkeiten, Themen zu verhandeln und damit ein großes Publikum zu erreichen, einmalig. Lustigerweise versuchen ja fast alle Hamburger Musiker mittlerweile, Theater zu machen – als Theatermusiker oder gar als Regisseure.

So wie du in deinen Arbeiten für das Theater das „Material“ Text, Körper, Raum, Musik und Video anordnest, so würde ich auch deine Dramaturgien als musikalische beschreiben. Stimmt für dich diese Beschreibung – und wenn ja, lässt sich darüber womöglich deine Art zu inszenieren charakterisieren?
Ja, das ist sicher so, dass meine musikalischen Wurzeln in meinem Theater wieder auftauchen, und zwar nicht nur dadurch, dass oder wie ich Musik einsetze. Als ich angefangen habe, mich für Theater zu interessieren, habe ich oft stundenlang auf leeren Probebühnen gesessen, weil mich die Erotik eines leeren Raumes fasziniert hat.
Man kann im Theater ja sehr gut Atmosphären über Licht, Raum und Sound herstellen – mit Menschen und Sprache ist das schwieriger. Weil der Mensch im Theaterraum so konkret ist: Er spuckt und schwitzt, seine Schritte stampfen – im Film kann man all das beliebig dosieren oder ausblenden, Theater aber hat diese Konkretheit des Live-Moments. Das ist ja auch der Reiz, die Kraft, und da mit muss man umgehen. Wenn es gelingt, dass die Elemente verschmelzen, dann wird es magisch. Wenn die Körper, Psychologien und Bedeutungen ihre Konkretheit behalten, aber gleichzeitig die Leichtigkeit des Lichtes und des leeren Raumes, der toten Materie annehmen – das hat nicht nur etwas Schönes, sondern geradezu Erhabenes. Oder mehr noch: etwas Utopisches! Da findet etwas statt, was so in der Alltagswirklichkeit nicht möglich ist, das geht nur in der Kunst!

Und sind es dann musikalische Prinzipien, die das Geschehen auf der Bühne zusammenhalten?
Ich würde sagen ja. Eigentlich tut dies ja die Handlung, ebenso wie die Sprache durch den Bezug zu ihren Bedeutungen. Beides gehorcht normalerweise Gesetzen einer Logik, mit der wir auch im Alltag umgehen. Wenn man diese logischen Gesetze aber erweitert oder ersetzt durch musikalische Gesetze, dann öffnen sich ungeahnte Möglichkeiten – man kann auf einmal Dinge zeigen und auch Dinge denken, die man so vorher nicht gesehen oder gedacht hat. Ich habe das früher immer „Energielogik“ genannt, aber man kann es vielleicht ebenso treffend „musikalische Logik“ nennen. Das Interessante dabei ist, dass sowohl das Geschehen auf der Bühne als auch die Sprache eines Textes Bedeutungssysteme sind, die wir automatisch auf ihren Bezug zur Alltagslogik hin lesen wollen. Wir sind so konditioniert. Wir wollen, dass Sprache eine Bedeutung, und wir wollen, dass das Geschehen auf einer Bühne eine Handlung hat. Sonst fühlen wir uns so verloren, alles erscheint beliebig, uns wird langweilig. Gerade diese Kombination eines rationalen, bedeutungsorientierten Systems wie dem Theatergeschehen mit einem zunächst jenseits des Rationalen angesiedelten wie der Musik, macht für mich den Reiz aus. Vielleicht kann man sagen, dass der Bereich des bloß Sinnvollen verlassen wird und die Intuition ins Bewusstsein eindringt, das Bewusstsein wird intuitiv. Das ist ein Zustand, wie man ihn sonst mit Hilfe von den richtigen Drogen erreichen kann oder durch Meditation. Das, was mich allen Musiker-Sehnsüchten zum Trotz wirklich immer wieder mit dem Theater als Medium versöhnt, ist der Moment, wenn das Publikum sich auf diesen Trip einlässt und sich in ein Reich begibt, in dem das Bewusstsein auf diese Art erweitert wird.

Oft beschreibst du – jetzt auch bei den ‚Räubern‘ – deinen Zugriff als den eines Wortkonzertes. Du möchtest die Sprache erst einmal herstellen, als das, was sie ist, auch abgekoppelt von einem konkreten Körper oder von Figuren. Was versprichst du dir davon?
Davon, einen klassischen Text in Form eines Wortkonzerts auf die Bühne zu bringen, habe ich schon lange geträumt. In der Konsequenz wie jetzt habe ich mich das bislang nicht getraut. Gerade bei klassischen Texten ist man ja immer in dieser komischen Zwickmühle, den Text einerseits herstellen, andererseits aber auch vermitteln zu müssen. Das führt dann zu den bekannten Spannungen und Problemen, die normalerweise immer in der Forderung nach mehr Werktreue ihren hilflosen Ausdruck findet. Das alles hat glaube ich weniger mit neuen Regieformen zu tun oder dem Einsatz von Video oder Nackten, oder was dann immer alles herhalten muss.

Wo genau liegt denn das Problem?
In dem dem Theater ureigenen Problem der Verbindung von Sprache und Körper. Die findet ja im Schauspieler statt, in der Psychologie und Handlung einer Figur. Wenn ich will, dass die Kunst-Emphase einer Hochsprache, wie etwa der Schillers, sich im Ausdruck eines echten und im Theater ja auch noch lebensgroßen Menschen verbürgt, dann habe ich ein Problem: Entweder verkleinere ich die Sprache oder ich vergrößere den Menschen. Ersteres findet heutzutage in fast allen Klassikerinszenierungen statt – und sei es nur, indem man kürzt bzw. der Sprache einen Klang gibt, der suggeriert, es handle sich um moderne Alltagssprache. Für Letzteres gibt es keine wirklich überzeugenden Angebote: Der uns affig vorkommende Stadttheater-Manierismus kann es ja wohl nicht sein. Dieses Problem zieht sich dann weiter durch alle Bereiche. Die Zeichen, die von Kostüm- und Bühnenbild gesendet werden, befinden sich ebenso in diesem Konflikt wie die Art, in der die Handlung erzählt wird, und letztlich gipfelt dann alles in dieser leidigen Regietheater-Frage, was uns das den heute alles noch zu sagen hat. Und dann beginnt die verkrampfte Arbeit des Regietheater-Regisseurs, der im schlimmsten Fall so tut, als gäbe es dieses Problem gar nicht und als wäre Schiller ein Zeitgenosse und Karl Moor ein Taliban auf einem Motorrad.

Das Wortkonzert blendet diesen Konflikt zunächst aus.
Ja, die Schauspieler gehen auf die Bühne, und wie eine Band, die Musik herstellt, stellen sie den Text her. Nicht mehr und nicht weniger. Bei einem Konzert guckt man ja auch den Musikern zu und denkt nicht, sie wären die Klänge, die sie produzieren. Und dennoch erzeugen sie diesen Klang, und ich kann ihn ganz direkt genießen.

Und wer ist das dann, der da spricht? Die Figur?
Warum muss man im Theater immer denken, die Schauspieler wären die Figuren, die sie sprechen? Wenn man nichts sieht als einen sprechenden Schauspieler und wenn dieser Schauspieler gut und suggestiv, plastisch und rhythmisch spricht, warum soll sich für mich als Zuschauer dann nicht diese Figur ebenso herstellen wie für den Konzertbesucher der Klang? Hat man sich so des Problems von Herstellung und Vermittlung entledigt, kann es dann losgehen. Wir Zuschauer wollen Handlung – und wir wollen auch Figuren und Psychologien. Auch wenn das Geschehen auf der Bühne das erst einmal verweigert, werden wir immer danach suchen. Tritt also ein Schauspieler auf und sagt: „Ich bin hier nur ein musizierender Sprecher, keine Figur“, dann warten wir darauf, was diesem musizierenden Sprecher passieren wird. Wird er schwitzen, wird er zittern, wird er umfallen? Oder wird ihm sogar etwas zustoßen? Ist sein Sprechen nicht schon Ausdruck einer Handlung? Ist er getrieben, dass er diese ganzen manischen Schiller-Suaden von sich geben muss? Wovon ist er getrieben, warum, wohin? Jetzt habe ich als Regisseur die Möglichkeit, auf der Bühne eine Handlung zu entwickeln – und so wird das Ganze natürlich dann doch mehr als nur ein Konzert. Diese Handlung wird mit dem Stück in einer Beziehung stehen, diese Beziehung ist aber schwebender, als wenn ich nur versucht hätte, das geschriebene Geschehen eins zu eins mit der entsprechenden Situation abzubilden.

Die Besetzung für die „Räuber" scheint eben dieses Schweben zu ermöglichen. Sie ist zuerst einmal ganz und gar nicht selbst redend: Vier Männer, eine jüngere, eine ältere Frau und zwei ältere Männer.
Ich versuche immer kreisförmig in alle möglichen Richtungen zu denken. Das ist sozusagen eine Grundlage oder eine Bedingung meiner Arbeit. Wenn ich konzeptuelle Setzungen gemacht habe, dann stelle ich sie sofort in Frage und mache etwas vollkommen anderes, als ich mir eigentlich vorgenommen habe. Waren die Ideen oder Pläne gut, so werden sie sich durchsetzen, angereichert durch Dinge, die man auf den Umwegen gefunden hat. Waren sie schlecht, so ist es nicht weiter schade drum. Der Probenprozess wird da durch ziemlich anstrengend, aber organisch und lebendig. Theoretisch kann alles auch immer ganz anders sein. Theoretisch steht jede Setzung zur Disposition. Praktisch hat das natürlich Grenzen: Relativ früh legt man sich auf ein Stück fest, das dann als Titel in den Ankündigungen des Theaters gedruckt wird. Irgendwann wird ein Bühnenbild gebaut und: Wenn man sich einmal für die Schauspieler, also: die Menschen, entschieden hat, die diese Inszenierung verkörpern sollen, dann ist das auch verbindlich, und ich möchte mich dadurch binden lassen – wenn irgendwann nicht mehr klar ist, was man damit ursprünglich wollte, dann muss man genau das wieder herausfinden. Die Existenzialistische Philosophie geht ja davon aus, dass das Leben nicht a priori einen Sinn hat, dass man ihm erst dadurch, dass und wie man es lebt, einen Sinn verleiht. So verhält es sich in meiner künstlerischen Arbeit auch. Viele Dinge sind zwar a priori gesetzt, erhalten ihren Sinn aber dadurch, dass und wie man mit ihnen umgeht. Das Ziel ist natürlich, dass am Schluss alles vollkommen zwingend ist, so, dass man es sich nicht mehr anders vorstellen kann. Das aber muss man sich erarbeiten.

Eines hat sich dann erwiesen: Im Zentrum deiner „Räuber" stehen vier Männer.
Alle vier starke Schauspielerpersönlichkeiten, Protagonisten. Die entwickeln als vielsprachiger Chor eine Energie, die mit der ungestümen Ich-Bezogenheit, der Rücksichtslosigkeit, dem Freiheitsdrang zu tun hat, der sich auf jeweils unterschiedliche Art sowohl bei Franz wie auch bei Karl findet. Dieser Kern des Ensembles ist umstellt von zwei Polen: Einmal ist da eine Frau, dann eine Gruppe älterer Schauspieler. Die Liebe und die Tradition stehen dem freiheits- und ich-durstigen Aufbruch gegenüber. Und das führt ins Zentrum der ‚Räuber‘: Ein wesentliches Thema des um 1780 geschriebenen Stücks ist ja der Vatermord. Eines der Themen der Moderne: die Überwindung von überkommenen Traditionen und die damit einhergehenden Probleme. Sowohl Franz als auch Karl schaffen zunächst die Welt ihrer Väter ab. Sie tun das auf unterschiedliche Art und Weise, bei beiden steht aber zu Beginn die maßlose Enttäuschung durch die Welt der Väter und der Wunsch, eigene, neue Regeln zu schaffen, die ihnen ein Leben jenseits der traditionellen Moral erlauben. Am Ende des Stückes stehen beide in den Trümmern ihrer Entwürfe: Das Schloss brennt, letztlich als Folge ihrer emanzipatorischen Entwürfe, und sie wünschen sich, dass es noch ein Schloss gäbe, in das sie zurückkehren könnten. Der Vater, die abgeschaffte Tradition, ist zwar noch nicht ganz tot, er bzw. sie spukt als lebendig begrabenes Gespenst noch im Keller, und die verlassene, geschändete Liebe hat sich zwar in Form von Amalia zu erhalten versucht, doch ist es nicht mehr möglich, daran anzuknüpfen: Die Liebenden erkennen einander nicht mehr oder tun zumindest so – und Karl versetzt Amalia den endgültigen Todesstoß. Eine ganz schön pessimistische Vision Schillers.
Ja, das ist das wirklich Erstaunliche an diesem Stück: Ein jugendlicher Dichter träumt mit 19, 20 Jahren in seinem Gefängnis in der Karlsschule einen Traum von Freiheit und lässt diesen Traum am Schluss in seiner ganzen ihm eigenen Dialektik an die Wand krachen. Der unterdrückte und eingesperrte Schiller schreibt ein Stück, das in seiner ungestümen Sprachgewalt und mit all seinen formalen und inhaltlichen Zumutungen zunächst einmal ein gewaltiger Schrei nach Freiheit ist – und gleichzeitig stellt er damit relativ pessimistisch die Frage: Wieviel Freiheit verträgt der Mensch? Oder, anders formuliert: Wieviel Vatermord verträgt der Mensch? Kann man ohne Vergangenheit eine Zukunft schaffen? Oder ist dann die Gegenwart mit sich so überfordert, dass im Grunde gar kein Fort schritt mehr möglich ist? Das sind genau die Fragen, die hundert Jahre später auch Dostojewski, der andere große Dichter des Vatermords, stellen wird – Schiller dabei vielfach zitierend, aufgreifend und paraphrasierend. Heute wissen wir mehr denn je, was diese Dichter mit ihrer Freiheits- und Moderne-Skepsis im Sinn gehabt haben. Der Punkt, an dem wir modernen Menschen uns mittlerweile befinden, ist jener, an dem das Stück ‚Die Räuber‘ endet: in den Trümmern des Schlosses, uns ins Schloss zurücksehnend, wissend, dass kein Weg zurückführt – und dass wir, würde es diesen Weg geben, das Schloss dennoch jederzeit wieder anzünden würden.