„Man muss ne
ue, utopische Instit
utionen Vorbereiten"


Milo Rau im Gespräch mit Harald Welzer über die "General Assembly"

Worüber wurde bei  der  Bundestagswahl  nicht  gesprochen, obwohl es entscheidend für die Zukunft ist, Herr Rau?

Zum Beispiel, wie unsere Güter produziert werden – und wie sie zu uns gelangen. Nehmen wir  das  im  Kongo  abgebaute  Coltan  oder Gold.  Das  EU-Parlament  verabschiedet  ein  Gesetz, das  sagt:  Wir wollen keine Konfliktmineralien, wir wollen saubere Produktionsbedingungen. Das klingt erstmal toll, aber dann stellst du dem Rohstoffexperten der EU die Frage: Was heisst eigentlich ‚Konfliktmineral’? Und der antwortet ganz entspannt: Das ist ein Mineral, das wir nicht haben, das wir aber in Europa benötigen. Deshalb brauchen  wir  dieses  Regulierungs-Gesetz,  um  die  kongolesischen  Produzenten zu kriminalisieren und die Rohstoffe zu billigstmöglichen Preisen nach Europa zu schaffen.

Das  Gesetz  soll  den  Zusammenhang  zwischen  Konflikten, Menschenrechtsverletzungen und unserem Konsum von Alltagsgütern prüfen?


Genau,  das  ist  der  moralische  Anspruch.  Aber  in  Wahrheit  ist  es ein  imperiales  Monopolgesetz:  denn  das  Label  „sauber“  kriegen nur die europäischen Multis. Die kongolesischen Klein-Produzenten haben keine Lobby im EU-Parlament. Das ist so, als würde das ZK der  chinesischen  Kommunistischen  Partei  Ethik-Gesetze  verabschieden für die deutsche Autoindustrie, VW schliessen lassen und dann  chinesische  Autos  importieren.  Das  klingt  völlig  absurd,  für die  Kongolesen  und  riesige  Weltteile  ist  das  jedoch  Alltag.  Und diese Lobbylosen nennen wir in unserem Welt-Parlament den globalen  Dritten  Stand.  Bei  der  Französischen  Revolution  hat  man gesagt:  95  Prozent  der  Einwohner  dieses  Landes  sind  nicht  im französischen Parlament. Das ist der Dritte Stand, die Nation. Und diese  absolute  Mehrheit,  die  alle  Güter  produziert,  braucht  eine Lobby. Die muss im Parlament repräsentiert sein.

Sie  haben  das Kongo  Tribunal  veranstaltet  und  planen  nun im  Theater  ein  Welt-Parlament.  Das  ist  eine  neue  Dimension politischer Kunst.

Wir haben das Zeitalter der Skandalisierung verlassen, in dem wir Künstler sehr lange festsaßen. An die Stelle der Kritik der Gegenwart  tritt  der  symbolische  Entwurf  des  Zukünftigen.  Skandalisierung nutzen wir allenfalls noch als Gewürz, um etwas Schärfe reinzubringen. Aber im Grund stehen wir am Beginn einer Epoche der Institutionalisierung: der Schaffung symbolischer Formen,  symbolischer Praktiken und Solidaritäten.

Aber  warum  tun Sie  das  eigentlich?  Warum  ziehen Sie  sich nicht  auf  die  alte  Künstlerposition  zurück  und  sagen  einfach: Ich habe keine Lösungen, ich habe nur Fragen.

Der Planet kann sich diese lauwarme Bequemlichkeit nicht leisten. Ich  bevorzuge  deshalb  das brechtianische  Künstlermodell:  Der Schüler  fragt,  der  Lehrer  antwortet.  Weil:  Die  Fragen,  die  Probleme sind ja da.
Wir brauchen jetzt Antworten. Man kann sich irren, aber  es  geht  darum,  es  zu  versuchen.  Die  postmoderne  Vernunft gefiel sich 60 Jahre darin, Institutionen zu hinterfragen, sie zu dekonstruieren.  Ich  glaube  aber,  das  reicht  nicht  mehr.  Man  muss ausserhalb  der  Herrschafts-Institutionen  neue,  utopische  Institutionen  vorbereiten,  die  dann  da  sind,  wenn  die  aktuellen  zusammenbrechen.  Und  das  werden  sie  im  Lauf  der  nächsten  Generation.

Wie  meinen  Sie  das  konkret:  Das  Theater  soll  fehlende  Institutionen ersetzen?

Ein  Theaterabend  kann  drei  Stunden  dauern,  drei  Tage  oder  drei Wochen – und dann bin ich drei Stunden, drei Tage oder drei Wochen  in  einer  möglichen  Institution:  einem  Gericht,  einem  Tribunal,  einem  Parlament.  Das  Theater  ist  eine  symbolische  und  zugleich totale Institution – jedoch nur, solange es dauert.

Mit  dem  Kongo  Tribunal  haben  Sie  die  die  globalen  Rohstoffkonflikte und die Ausbeutung der kongolesischen Menschen verhandelt.

Was nicht darstellbar ist, ist nicht denkbar, und das Kongo Tribunal  hat etwas  real  gemacht,  was  vorher  nicht  einmal  in  den  verrücktesten Träumen vorstellbar war. Der Rebell stand hier wirklich dem Minister gegenüber, der Schürfer dem Konzern-Manager, und hinterm  Richter-Tisch saßen  Anwälte  aus  dem  Kongo  und  Den Haag. Und plötzlich sagen die Leute: Ach so, man kann die anklagen, man kann jemand aus Den Haag einfliegen lassen, man kann lokales  Bodenrecht  und  internationales  Menschenrecht  kombinieren.  Und  plötzlich  versteht  man:  Das  geht  ja!  Und  so  bekommt man,  nach  und  nach,  eine  neue,  realistische  Wahrnehmung  und Empfindung  von  dem,  was  global  läuft  und  möglich  ist.  Auf  welcher  Deutungs- und  Solidaritätshöhe  wir  der  globalen  Wirtschaft begegnen müssen.

Es geht am Ende aber keiner ins Gefängnis.

Nein. Aber zwei Minister wurden entlassen, und die Aktien der angeklagten  Goldfirma  BANRO  fielen  um  mehrere  Prozentpunkte.
Was  geschah  also  im  Kongo  Tribunal?  Es  wurden  Realitäten  in einem  artifiziellen  Rahmen  geschaffen,  den  es  vorher  als  Institution noch nicht gab. Im Vorfeld sagte uns ein Rechtsprofessor: Ja,
aber  welche  staatlichen  und  politischen  Akteure  sollen  das  denn umsetzen? Wer sorgt für die Rechtsfolge? Wir sagten: Das ist nicht unsere Aufgabe zu sagen, wer das auf Dauer stellt. Wir zeigen, wie
es gemacht wird. Machen muss es dann die Menschheit.

Die  Lobbylosen  von  heute  bekommen  also  in  Ihrem  Weltparlament eine Lobby. Und was passiert dann?

Es geht darum, nach 60 Jahren Manöverkritik wieder in utopische Bewegung  zu  kommen.  Es  gibt  ja  zwei  apokalyptische  Reiter,  die in  Deutschland  gepeitscht  werden,  bis  sie  irgendwann  den  Geist aufgeben  werden:  der  eine  ist  der  Moralismus,  der  andere  der Alarmismus. Es geht darum, diese beiden Gäule nun endlich mal in Rente zu schicken und einen globalen Realismus zu entwerfen. 

Das heißt?

Globaler  Realismus  will  klären,  wie  man  lokale  und  globale  Probleme  miteinander  verschaltet.  Ganz  real  und  pragmatisch.  Zum Beispiel, CO2-Ausstoß runter drehen, was heißt das denn? Darf der Kongo  keine  Industrie  aufbauen  oder  stellt  die  Alte  Welt  ihre  Industrie  jetzt  mal  hundert  Jahre  ab,  weil  der  Kongo  dran  ist?  Wir versuchen nun, Institutionen zu schaffen, in denen all diese Paradoxien  verhandelbar  werden,  und  zwar  unter  Einbezug  aller  Betroffenen. Es geht um ein internationales Wirtschaftsrecht, um ein internationales  Völkerrecht  und  Strafrecht,  das  mit  den  lokalen Gegebenheiten  rückgekoppelt  ist.  Und  dabei  merkt  man ständig: Ach,  das  ist  ja  gar  nicht  so  einfach.  Der  Einbau  eines  Kohlefilters 16 von 30 zum Beispiel ist in der Logik der Ersten Welt eine Lösung, aber in der Dritten denkst du plötzlich: Was machen die denn da? Warum baut man nicht erstmal eine verarbeitende Industrie bei uns auf?

Sie  gehen  davon  aus,  dass  wir  in  eine  Phase  eintreten,  die man  analog  zur  Zeit  vor  der  Französischen  Revolution  formulieren  kann?  Wir  Europäer  sind  Teil  der  Aristokratie.  Es gibt einen globalen Dritten Stand, internationales Subproletariat,  Menschen,  die  migrieren  und  flüchten  müssen.  Norbert  Elias  würde  das  so  beschreiben,  dass  wir  ein  neues Syntheseniveau  erreichen,  was  aber  genau  die  gleichen Probleme  aufwirft,  wie  die,  die  im  Westen  bereits  im  frühindustrialisierten 18. Jahrhundert aufgekommen sind. Richtig?

Absolut.  Mit  der  Revolution  des  Dritten  Standes  in  Frankreich  beginnen das nationale und das imperiale Zeitalter. Nationen müssen plötzlich  Absatzmärkte  und  Rohstofflieferanten  woanders  finden, die Nationen werden zu kapitalistischen Schicksalsgemeinschaften.
Das  ist  das  damalige  Syntheseniveau:  Der  Merkantilismus  wird plötzlich  internationaler  Finanzkapitalismus.  Und  plötzlich  werden gewaltige  vereinheitlichte  Märkte  geschaffen,  Monster-Fabriken, Frankreich ist ja riesig für die damalige Zeit.

Und was heißt das heute für den Kongo?

Was die Ressourcen angeht, sind wir an einem ganz anderen Punkt als  im  18.  Jahrhundert.  Der  Kapitalismus  ist  in  seiner  Endphase, nachhaltige  Industrialisierung  kommt  für  ein  Land  wie  den  Kongo garnicht mehr in Frage, dafür hat man keine Zeit mehr. Deshalb ist es so verlogen, wenn man in Bezug auf den Ostkongo von Industrialisierung spricht: Die Kongolesen werden einfach auf industrielle Weise enteignet –Zynaid in den Boden, raus mit dem Gold und Tschüss.  Wir  haben  heute  imperiale  Räume  und  Räume außerhalb  der  Imperien,  das  ist  das  Problem.  Ende  der  1950er, Anfang  der  1960er  dachte  man  vielleicht  noch,  diese  Räume  zusammenschließen zu können. Es gab gewaltige Industrie- und Bildungsprogramme für die Dritte Welt. Das ist vorbei. Man weiß, es wird  ökologisch  nicht  mehr  gehen,  der  Planet  hat  die  Ressourcen nicht  mehr,  es  ist  zu  spät.  Die  Kongolesen  werden  uns  in  dieser Season  der  Menschheitsgeschichte  nicht  mehr  einholen.  Damit haben  wir  abgeschlossen, das  ist  der  fatalistische  Zug  unserer Zeit.

Was folgt für Sie daraus?

Man  muss  die  näher  kommende  Katastrophe  verlangsamen  und gerecht  organisieren.  Wir  müssen  gewissermaßen  für  die  nächste Season der Menschheitsgeschichte Parallelstrukturen schaffen, um vorbereitet zu sein, wenn die tot gelaufenen Strukturen der Alten Welt wegfallen.

Stimmt  es  denn,  dass  der  Kapitalismus  in  seiner  Endphase ist, das war er doch schon bei Adorno?


Ja,  klar.  Ich  habe  bei  Wolfgang  Streeck  den  Satz  gefunden,  dass der  Begriff  Kapitalismus gleichursprünglich  ist  mit  der  Ankündigung seines baldigen Todes. Dass der Kapitalismus stirbt, gilt also schon, seit es ihn gibt. Eine bald 200jährige Agonie.

So  wie  Sie  drauf  sind,  würden  Sie  bei  der  Bundestagswahl gar keine Partei wählen?

Ich würde die wählen,  die mir am nächsten sind. Da  gibt es aber inhaltlich  eigentlich  keine.  Was  es  gibt,  sind  Freundschaftsbeziehungen in die Linke und zu den Grünen, und da gibt es auch den einen oder anderen Konsens in globalen Fragen. Die gleiche Frage stellt sich mir in der Schweiz auch, da lande ich bei den Sozialdemokraten, die dort eine andere Struktur haben und nicht so degeneriert sind wie die SPD in Deutschland.

Was  halten  Sie  vom  Gerechtigkeitspathos  der  Linkspartei und der SPD?


Der  Dritte  Stand  hierzulande  ist  ins  Kleinbürgertum  abgesunken, das  jenseits  seiner  Spendenseligkeit  über  kein  globales  soziales Bewusstsein  verfügt.  Warum  auch?  Für  die  Europäer  kann  es  ja nur  schlechter  werden.  Es  gibt  den  Dritten  Stand  aber  außerhalb Europas, weil die Weltwirtschaft ohne Proletariat nicht funktioniert, also  ohne  all  die,  die  die  Sachen,  die  auf  wundersame  Weise  in unsere  Regalen  zu  Billigstpreisen  auftauchen,  anpflanzen,  ernten, abbauen. Die sind nicht mehr hier, die sind jetzt da, im Kongo, in Lateinamerika, in China – unser  eigenes Proletariat wird mindest-versorgt und langweilt sich zu Tode.

Ihr  Manifest  des  zynischen  Humanismus  wirft  Europäern einen völlig indiskutablen Gerechtigkeitsbegriff vor.

Die  Idee  der  Gerechtigkeit  wird  im  Zynischen  Humanismus  partikularisiert,  in  den  Rahmen  eines  Kontinents,  eben  des  europäi-schen  reingepresst.  Wenn  wir  zur  Klassen-bzw.  Ständefrage  zurückkommen:  Früher  hatte  man  ein  vertikales  Mitleidsempfinden, das sich durch die Schichten hindurch universalisierte. Im Theater taucht  im  18.  Jahrhundert  plötzlich  der  Kleinbürger  als  fühlendes Wesen  auf,  im  19.  Jahrhundert  dann  der  Proletarier.  Den  gab's vorher  nicht  in  diesem  Format  der  öffentlich-medialen  Wahrnehmung.  Bei  Lessing  haben  plötzlich  die  Kleinbürgermädchen  geweint,  und  bei  Ibsen,  100  Jahre  später,  haben sie  politische  Ansichten. Und hier kommt Hoffnung auf: Denn die aktuelle Theatergeschichte  ist  voller  Anzeichen,  dass  sich  in  der  Ausdehnung  des Weltgeistes etwas vorbereitet. Dass so etwas wie eine Horizontalisierung der dramatischen Empfindsamkeit stattfindet, dass sich ein globaler   Realismus   vorbereitet.   Und   das   ist   irreversibel.   Die Schichten, die ins Theater reingerutscht sind, die zu dramatischen Figuren wurden, sind nie wieder rausgerutscht.

Sie haben in Ihrem Stück Mitleid den Flüchtling reingeholt.


Genau,  als  ich  Mitleid  schrieb  und  den  Begriff  des  Zynischen  Humanismus benutzte, waren plötzlich Flüchtlinge ein Thema. Zuerst auf einer paternalistischen Moralebene, dann wurde der Flüchtling zu einer Figur, die einfach da war und die dablieb. Das wurde zur täglichen Figur, zur Erfahrung. Im Kosmos der Figuren ist da jetzt eine  mehr:  der  Flüchtling.  Ich  sage  voraus,  dass  die  auch  in  20 oder 50 Jahren noch da sein wird. Das ist keine Mode.

Und bedeutet was?

Die  Frage  ist:  Wie  wird  sich  die Empfindsamkeit  verändern,  wie wird  sie  sich  politisieren?  Das  Kleinbürgermädchen  darf  im  18. Jahrhundert  bei  Schiller  eigentlich  nur  weinen,  bei  Ibsen  hält  sie
dann  politische  Reden,  bei  Jelinek  mordet  sie.  Diese  Ausweitung und  Politisierung  der  Wahrnehmung  der  Welt  ist  die  Aufgabe  der realistischen  Generation.  Es  geht  darum,  sie  mit  Modellstücken voranzutreiben: Welche Apparate holen diese Figuren aus der Opferperspektive heraus in die politische Sphäre?

Die  Aristokratie  deliriert  sich  an  ihren  identitätspolitischen Fortschritten – und blendet den globalen Rest aus?

Das  denke  ich  überhaupt  nicht.  Nur  weil  man  plötzlich  mit  der Klassenfrage  einen  tatsächlichen  Hauptwiderspruch  entdeckt  hat, bleiben  die  Nebenwidersprüche  doch  relevant.  Dieses  Bashen  der Identitätspolitik  von linker  Seite  nervt  mich,  auch  wenn  es  natürlich  das  normale  Verhalten  frisch  Bekehrter  ist:  die  besonders strengen  und  damit  besonders  vulgären  und  brutalen  Kommunisten waren ja die, die erst nach dem siegreichen Ende des Bürgerkriegs  in  die  Partei  eingetreten  sind,  als  Kommunismus  Common Sense  war.  So  ist  das  bei  jeder  intellektuellen  Mode  oder  Bewegung.  Bei  Didier  Eribon,  um  beim  Hauptfetisch  unserer  heutigen Hobby-Marxisten  zu  bleiben,  geht  es  in  Wahrheit  ja  auch  immer darum,  dass  er  schwul  ist  und  das  politisiert.  Da  bin  ich  absolut gleicher  Meinung:  Es  gibt  eine  Gleichzeitigkeit  von  Kämpfen,  die man  in  ihrer  Gleichzeitigkeit  akzeptieren  muss,  ohne  sie  hierarchisch zu ordnen. Was man finden muss, sind die Bezüge. Und das ist auchdas Ziel unseres Welt-Parlaments: Horizontale Grenzen zu überwinden,  aber  darüber  hinaus  auch  Zeittiefe  in  Vergangenheit und  Zukunft  herzustellen.  Gleichzeitigkeiten,  Solidaritäten  über Zeit und Raum hinweg zu erobern und zu politisieren.

Trotzdem:  Das  Homo-Adoptionsrecht  als  emanzipatorische Gerechtigkeit  beschäftigt  die  Gesellschaft,  nicht  aber  die damit   zusammenhängenden   verdeckten   Herrschaftsverhältnisse, etwa eine ukrainische Leihmutter.

Wie gesagt: Die einzige Lösung ist die Ausweitung des Blickwinkels und dessen Politisierung. Weil bezahlte Leihmutterschaften bei uns verboten  sind,  wird  das  ausgelagert.  Nicht  mal  nach  Afrika,  nicht mal in die Ukraine, sondern nach Spanien, nach Griechenland. Fürs Weltparlament sind wir mit mehreren Leihmüttern aus diesen Ländern in Kontakt, denn es geht darum, Menschen, die nicht im Fokus  stehen,  eine  Stimme  und  politische  Macht  zu  geben.  In  Peru gibt  es diesen  Bergbauern,  der  unter  einem  Gletscher  lebt  und RWE  verklagt  hat,  weil  der  Gletscher  aufgrund  der  Klimaerwärmung  bald  abstürzen  wird.  RWE  hat  einen  Anteil  von  0,5  Prozent an den globalen CO2-Emissionen und soll deshalb 0,5 Prozent der Katastrophe  bezahlen.  Und  darum  geht  es,  um  Realitäten.  Denn erst in dem Moment, in dem es in Deutschland kriminalisiert wird, wenn  man  einen  Gletscher  in  Chile  indirekt  zum  Einsturz  bringt, wird es verhandelbar.


In  Ihrem  Weltparlament  soll  die  repräsentative  Öffnung noch weiter gehen. Die Dinge, die nichtmenschlichen Akteure,  aber  auch  die Toten und  Ungeborenen  sollen in der  General  Assembly vertreten  sein. Wie  verleiht  man dem  Wasser, der Ozonschicht, den Bienen, den Toten des Kautschuk-Genozids   im   Kongo   Anfang   des   20.   Jahrhunderts   eine Stimme?

Das Problem  ist ja  einmal mehr nicht das fehlende Wissen.  Wenn man  eine  Sitzung  im  deutschen  Parlament  verfolgt,  dann  ist eigentlich  ständig  von  den  kommenden  Generationen,  von  der Umwelt,  von  den  Tieren,  von  der  Bewältigung  vergangener  Massenverbrechen  und  der  Zukunft  die  Rede.  Unter  der  Glaskuppel des  deutschen  Bundestags  herrscht  eine  extreme  Zeittiefe,  aber eben bloß rhetorisch. Es gibt keine parlamentarische Lobby für die oben  genannten  Kategorien,  die  wollen  wir  schaffen. Denn  angesichts der Tatsache etwa, dass in den letzten 20 Jahren 80 Prozent der  Biomasse  der  Insekten  verschwunden  ist,  müssten  wir  ja  im Kreis rennen vor  Entsetzen. Der  Grund, warum wir das nicht tun, ist  sehr  einfach:  Weil  jeder  über,  aber  niemand  für  die  Bienen spricht, ist ihr Da- oder Weg-Sein keine Kategorie, die politisierbar wäre. Dabei sind die Maßnahmen, die das Insektensterben stoppen würden,  wissenschaftlich  bekannt.  Das  ist  der  Kern  der  Verrücktheit unserer Zeit: Wir haben uns derart an die Beschränktheit des politischen Raums und damit unserer Handlungsfähigkeit gewöhnt, dass wir dauernd Dinge als unabwendbar ansehen, die es in keiner Weise  sind.  Das  deutsche  Parlament  ist  wie  Kafkas  Schloss:  Für alles, worauf es wirklich ankommt, gibt es keinen Zutritt.

War der  ganze  Bundestagswahlkampf  ein  Ablenkungsmanöver für Sie?

Der deutsche Bundestag ist kriminell in dem Sinn, dass nicht einmal  5  Prozent  der  von  seiner  Politik  Betroffenen  darin  vertreten sind.  Egal,  wie  gut  ein  Regulierungsgesetz gemeint  sein  mag:  Es wird  von  der  deutschen  Wirtschaft  und  ihrer  Lobby  so  angepasst, dass es sich ins Gegenteil verkehrt. Vor allem aber: Unsere Parlamentarier  sind  dem  Nationalstaat  verpflichtet.  Sie  sind  damit  rein strukturell  Opfer  des  Widerspruchs  zwischen  globaler  Wirtschaft und Nationalstaat. Ob sie nun Linke oder Grüne oder Konservative sind, da stecken sie alle drin und kommen nicht raus. Diese Leute machen  völlig  selbstverständlich  Gesetze,  die  Griechenland  oder Zentralafrika  ruinieren.  Und  da  stellt  sich  die  Frage,  ob  die  politischen Unterschiede zwischen den Parteien noch von Belang sind.

Ja, und?

Unter revolutionärer Perspektive: Nein. Denn wenn jemand dieses System,  in  dem  globale  Entscheidungen  nationalstaatlich  gefällt werden, abschaffen will, dann gibt es seit den 1950ern keine Partei mehr für ihn. Der Systemwechsel als programmatisches Ziel ist ja seit dem KPD-Verbot nicht mehr erlaubt.

Das ist ein systematisches Problem?

Ja.  Meine  Hoffnung  ist  deshalb  das  erste,  eigentlich  methodologische  Treffen  der  General  Assembly  im  November.  Da  fragen  wir: Wie universal kann ein Antrag sein, dass er im Weltparlament beschlussfähig wird und nicht von lokalen Probleme überdeckt wird? Wie hängt Globales und Lokales strukturell zusammen? Man würde denken,  dass  das  etwa  bei  Waffenexporten  klar  ist.  Ist  es  aber nicht: Im Nordirak, wo ich oft unterwegs bin, wurde mit Heckler & Koch  etwa  der  Vormarsch  des  IS  aufgehalten,  zugleich  aber  das Gebiet der Kurden auf Kosten des irakischen Staates ausgedehnt. Im Weltparlament haben wir also zwei Lobbys, die eine findet Waffenexporte super, die andere scheiße. Das sind unauflösbare Antagonismen,  und  deshalb  brauchen  wir  endlich  einen  Apparat,  der diese Fragen bearbeitet, Lösungsansätze anbietet und beginnt, die Leute  an  die  konsequente  Politisierung  solcher  Paradoxien  zu  gewöhnen. Kulturelle Fragen nehmen wir übrigens aus dem Weltparlament  fast  völlig  raus,  aus  methodologischen  Gründen:  sie  sind nicht  sinnvoll  universalisierbar.  Insofern  machen  wir  im  Weltparlament   genau   das   Gegenteil   der   aktuellen   imperialen   Politik Deutschlands  oder  der  EU.  Dort  werden  kulturelle  Fragen – etwa die  Bedeutung  der  Religion  im  Staat – globalisiert,  aber  ökologische Probleme – etwa der abrutschende Gletscher in Peru – lokalisiert. Das ist vollkommen widersinnig.

Was meinen Sie konkret?

Ich meine einen Widersinn, der im Grund noch viel weitergeht als in  diese  seltsame  Verwechslung  von  lokalen  und  universalen  Fragen.  Ethnologen  nennen  es  die  Adoleszenzkrise  der  Menschheit: Wir haben das Gefühl, immer mehr zu wissen und immer schneller zu  handeln – in  Wahrheit  findet  aber  eine  Einschränkung,  fast Lähmung  unserer  Entschlussfähigkeit  statt.  Wie  Teenager  sitzen wir unbeweglich und lethargisch in unseren Zimmerchen, in unseren  Köpfen  aber  rasen  die  Gedanken.  Die  technische  Entwicklung hat  unseren  Willen  gelähmt  und  unsere  seelischen  und  sozialen Algorythmen  völlig  ins  Ungleichgewicht  gebracht.  Auch  in  einer Mine im Kongo ruft der eine heute den anderen 20 Mal an, um zu sagen,  dass  er  gleich  kommt  oder  doch  nicht  gleich  kommt  oder jetzt doch gleich kommt. Und am Ende passiert gar nichts.

Das  zeigt,  dass  die  Universalisierung  der  kulturellen  Form auch  die  Minenarbeiter  im  Kongo  beteiligt.  Während  die Universalisierung  materieller  Teilhabe  eben  nicht stattfindet.  Dafür  haben  auch  die  linken  Parteien  keine  Lösung. Vielleicht  bedarf  es  einer  anderen  Formatierung  des  Gerechtigkeitsproblems?

Es ist, als würden wir von den technischen Apparaten in einer totalen Gegenwart festgehalten, während der Planet in den Untergang rauscht.  Insofern  bin  ich  auf  der  Seite  von  allen,  die  die  Handlungsfähigkeit  der  Individuen  und  zivilgesellschaftlichen  Akteure wieder wachrütteln wollen. Viele, mit denen ich im Kongo eng zusammenarbeite,   sind   nach   politischen   Begriffen   rechtsliberal. Weltanschaulich  passt  das  überhaupt  nicht  zu  meinen  Überzeugungen,  aber  politisch-strategisch  machen  diese  Kollaborationen Sinn. Da geht es um Nationalisierung, um Aufteilung in verwaltbare  Einheiten,  eine  langsam  aufgebaute  Form  lokaler  Subsistenzwirtschaft,  um  Mikrokredite  und,  in  klar  abgegrenzten  Bereichen, sogar um Zusammenarbeiten mit Playern wie der Weltbank. Denn bei  aller  Zuversicht,  was  die  allmähliche  Legitimation  neuer  internationaler Institutionen durch eine kontinuierliche Anwendung betrifft: Die Hauptmacht liegt ja im globalen Kapitalismus immer bei den  Kapitalverhältnissen:  bei  den  Finanzmärkten,  den  großen Fonds usw.

Das klingt wie Abkopplung?

Ja.  Aber  wenn  der  Kongo  seine Rohstoffe  nicht  nutzt,  um  eine eigene  Industrie  aufzubauen,  dann  sehe  ich  schwarz  für  dieses Land.  Hegel  sagt  bekanntlich,  Afrika  habe  keine  Geschichte.  Ökonomisch  stimmt  das:  die  afrikanischen  Länder  sind  im  aktuellen Finanzkapitalismus  nichts  weiter  als Nebenschauplätze  in  der  Geschichte Europa  und der USA. Mein alter Freund Jean Ziegler und ich sprechen oft über Regulierungsgesetze, und Jean findet sie toll, weil  er  ans  Konzept  des  Weltbürgers  glaubt.  An  ein  Einsehen  der Europäer,  an  die  Zärtlichkeit  der Völker.  Aber  wenn  du  dich  zwei Jahre  mit  dem  Ostkongo  beschäftigst,  siehst  du,  dass  es  in  der Welt,  wie  wir  sie  leben,  nicht  einmal  den  Ansatz  von  Zärtlichkeit zwischen  Erster  und  Dritter  Welt  gibt.  Wir  Europäer  brauchen  etwas, das die Kongolesen haben, und deshalb müssen wir es ihnen wegnehmen.  Punkt.  Sie  sind  die  Ukraine,  und  wir  sind  Hitlerdeutschland. Da hilft nur Selbstverteidigung.

In  Ihrem  Manifest  zur  Überwindung  des  Zynischen Humanismus empfehlen Sie Menschen, die sich für engagiert halten, zu erkennen: Ich bin auch nur ein Arschloch. Warum?

Das  ist  wie  bei  den  anonymen  Alkoholikern:  Es  geht  darum,  eine Basis  zu  finden,  auf  der  man  ehrlich  miteinander  umgehen  kann. Indem man anerkennt, dass wir trotz aller Pseudoregulierungsgesetze und guten Absichten in einer ungerechten Welt die Gewinner sind, kann man über Lösungsansätze nachdenken. Und der Gewinner ist immer das Arschloch, genau wie der Boss immer das Arschloch  ist.  Das  muss  man  einfach  mal  laut  sagen:  In  der  Welt,  wie sie ist, sind wir Europer die Arschlöcher, und zwar durch Geburt. Das ist höchst unerfreulich, aber leider ein Fakt.

Wenn  Sie  mir  sagen,  dass  ich  ein  Arschloch  bin,  denke  ich nicht: Vollkommen richtig, ich bin ein Arschloch. Ich denke, Sie sind ein Arschloch.

Ich will ja nicht geliebt werden für das, was ich sage. Wir sind die Generation vor der Revolution, vor den grossen Veränderungen. Wir sind in einem  funktionierenden Ausbeutungskapitalismus aufgewachsen, und im Grund nehmen wir an, dass es so immer weitergehen wird. Gefangen in der Alten Welt, zu der wir ge-hören,  haben  wir  keinen  Sinn  für  das,  was  kommen  wird.  Kommende  Generationen  werden  einmal  voller  Verwunderung  und Ämusement, aber auch mit viel Verachtung und Fassungslosigkeit auf uns zurückblicken.