Vom Träumen
Lessings Aufklärungsprojekt, sein Wunsch nach der Erziehung eines Menschgeschlechtes, man könnte auch sagen: sein Entwurf einer praktischen Ethik jenseits jeder religiösen Bevormundung war nicht bloß das Kanzelgespräch eines entrückten Weisen. Wenn Lessing vom süßen Wahn träumt, „in dem sich Jud' und Christ und Muselmann vereinigen“, dann ist das eben auch sein Traum, den er trotz der Welt träumt, wie sie sich ihm in all ihrer Schicksalsmächtigkeit offenbart: der Streit mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze um die rechte Auslegung der Bibel, die ihm schließlich die Aufhebung der Zensurfreiheit einbringt, der Verlust des gerade geborenen Kindes, wenig später auch seiner Frau. Es ist diese Dimension, die Lessing zu einem „vollendeten und vollendenden Menschen des 18. Jahrhunderts“ macht und seinem Traum universelle Wahrhaftigkeit verleiht. Was von diesem Traum aber lässt sich fortträumen? Was kann uns, Lessings Kindeskinder, den allemal ausgekühlten Aufgeklärten, Vater Lessing mehr sein, als der Märchenonkel vergangener Tage? Oder: warum hat sein Traum sich ausgeträumt, wenn allein der Blick auf Jerusalem genügt, um stets erneut zu verzweifeln: Die Stadt der nach wie vor extremen religiösen wie spirituellen Anziehungskraft, wo Fromme Fromme töten wegen ihres Glaubens, ihrer Glaubensbücher (und natürlich wegen Land)? Und wenn auch das „Große Ganze“ wenig zuversichtlich stimmt, da offenkundig scheint: gerade unsere utopie- und glaubensferne Zeit ist empfänglich für religiös kontaminierte Heilsversprechen? Also doch zurück zu Lessing? Wie aber soll der Mensch ganz auf sich und in sich selbst zurückgeworfen existieren, ohne dem anderen zum Wolf zu werden? Nur mittels der Einsicht, dass alle verwandt sind? Genügt der Geist, genügt dies Bewusstsein, um die Ängste, die Gewalt, die Triebe in uns abzuleiten, zu sublimieren? Lessing suggeriert Ja. Jelinek raunt unbehaglich: Nein! Doch alles umsonst? Auch das Träumen? Nein: die kalte Physik allein wird niemals lebensfähig sein. Wir brauchen Wunschenergien und den lebensnotwendigen Überschuss an Möglichkeiten. Vermutlich aber muss jede Zeit den ihren Traum finden – ohne dass je die Träume vergangener Zeiten ganz aus ihm verschwänden. (BvB)
Benjamin von Blomberg