Geschlossenheit Fehlanzeige oder die heillose Ewigkeit des kein Entweder-Oder

Von Benjamin von Blomberg

„Die Kontrakte des Kaufmanns“, Elfriede Jelineks neuester Text, ist sicher kein Lesedrama. Ganz anders als Lessings „Nathan der Weise“ beispielsweise, das vielleicht das ganze Theater um sich gar nicht bräuchte, um zu wirken – durch und durch der Idee verpflichtet, dass Literatur, dass das Wort, dessen intellektuelle Kommunikation, Bewusstsein schafft. Das Papier, auf dem es geschrieben steht, ist alles (nur den Leser freilich braucht es). Jelineks Art dagegen, ihre Texte dem Theater zu überantworten, ist radikal unmissverständlich: "Macht was ihr wollt damit! Wie's beliebt!“ ruft sie ihm zu, also kürzt, stellt um, d.h. verdichtet, versetzt in Energie. Das Papier, das sie bedruckt, ist viel, fast alles, zumindest nicht nichts, aber doch auch nicht das Eigentliche. Ohne Theater: Keine Verdichtung, null Energie; oder: nicht gut bis gar nicht in Form. Nicht umsonst hat Jelinek schon einmal verfügt: Die Veröffentlichung bleibt aus! „Ulrike Maria Stuart“ erschien bis heute nicht, der Text findet auf dem Theater statt oder eben gar nicht!

Auch „Die Kontrakte des Kaufmanns“ sind keine Lesefrucht. Nicolas Stemann, das Theater, hat für das Eigentliche kaum gekürzt, nicht irgendwie umgestellt, - wohl aber verdichtend energetisiert. Er hat eine Art Textverarbeitungsmaschine eingerichtet, das Theater als kalkuliert unkalkulierbaren Organismus aus Schauspielern, Musikern, einer Live-Videokünstlerin, der Regieassistentin, dem Dramaturgen und sich selbst gesetzt, der jede Vorstellung wieder den einen einzigen, unerschöpflichen Dienst verrichtet: sich der Maßlosigkeit des Textes auf jede nur erdenkliche Art und Weise und mit allen Sinnen und jedem Verstand, also ganz ohne den einen Sinn und/oder Verstand, auszusetzen. Eine regelnde Verabredung nur gibt es, die alle teilen: 99 Seiten hat unser Stück, mit der letzten, der Seite 1 endet der gemeinsame Vertrag, der freilich nur für jene auf der Bühne verbindlich gilt - die Zuschauer können, da die Türen nicht verschlossen werden und das Zuschauerlicht nicht erlischt, wann immer sie wollen, den Saal verlassen.

Das Kommen und Gehen nämlich ist jederzeit, das Entkommen aber keinesfalls möglich: der Text wird mittels Lautsprecher in alle Flure und Winkel des Theaters übertragen. Er ist das Totale, total in seiner Permanenz, total in seiner Überforderung, dem enervierenden immer und immer wieder, dem viel zu viel, und viel zu lang. Er ist alles Leben hier, er ist überall und ewig (ausdauernder noch als die dreieinhalb bis vier Stunden, die er bei uns wirkt), und ist es vielleicht schon immer gewesen. Bis an den Rand hat Jelinek ihre „Kontrakte“ mit dem Jargon des freien Marktes angefüllt, er bekommt jeden Raum, die Inszenierung muss ihm jeden Raum eingestehen – der Mensch aber kommt darin nicht vor, er füllt ihn nicht an. Der Freiheit des Geldes, nicht unserer führt er das Wort. Dieser Text verhilft uns zu(m) n(N)ichts. Ein anderer aber ist nicht in Sicht. Und sein Ende?

Erst recht nicht. Und das ist nicht bloß sprichwörtlich gemeint: die Anordnung "Kontrakte" ist unbegrenzt, Jelinek hat bereits an ihr fortgeschrieben, so wie die Wirklichkeit sich immer zu fortschreibt. Noch ehe die "Kontrakte" überhaupt Geschlossenheit hätten behaupten können, haben sie sie gesprengt; "Schlechte Nachrede" hat Jelinek ihren Epilog genannt, auf Stemanns Anregung hin hat sie ihn geschrieben und zwei Wochen vor der Uraufführung haben wir ihn erhalten. Geschlossenheit Fehlanzeige - angesichts einer Wirklichkeit, die so offenkundig wie schon lange keine mehr in sich trägt, auch nicht weiter verwunderlich. Auch mit dem Epilog zum Epilog, dem Dauerzustand: „kein abschließender Epilog in Sicht!“, oder auch dem Fortdauern eines fragwürdigen Heilsversprechens (der einen resistenten Ideologie?) in ideologiebefreiten Zeiten, ist daher zu rechnen.

Die Offenheit der theatralen Anordnung Stemanns für die "Kontrakte des Kaufmanns" hat eben darauf reagiert: auch der Abend wird nie abgeschlossen sein, wird sich selbst immer zur Disposition stellen. Sicherheit ist nicht zu gewinnen – die 15% Rendite will heute ja auch niemand mehr mit Sicherheit versprochen haben! Was vielleicht bleibt, ist die Begegnung, die er stiftet. Die im Theater gemeinsam verbrachte Lebenszeit. Dass unser Scheitern daran, die bösen Geister zu bannen nicht trennt, sondern schließlich verbindet, ist trostvoll. Muss der Text vielleicht doch nicht das letzte Wort haben?

Daran zu glauben, darauf zu hoffen, wäre schön. Das Theater schickt uns durch die heillose Ewigkeit des kein Entweder-Oder, damit die Sehnsucht, dass wir dieses Andere zu hoffen, daran zu glauben wagen, auftaucht.


Benjamin von Blomberg