Toleranz u
nd Gewalt

Über das Verhältnis von Religion und Politik

Rede zur Eröffnung der Lessingtage im Hamburger Thalia Theater
am 29. Januar 2017


Meine Damen und Herren, sehr geehrte Frau Bürgermeisterin, Herr Kultursenator, Frau Bischöfin, verehrte Gäste,

als der Intendant des Thalia Theaters mich vor mehr als einem halben Jahr einlud, den Eröffnungsvortrag zu den diesjährigen Lessingtagen zu halten, habe ich gern spontan, ohne größeres Zögern, aber auch ohne ernsthaftes Nachdenken zugesagt. Die Einladung war ehrenhaft, die Zusage gut gemeint – und viel zu spät ist mir aufgefallen, dass die Ankündigung, in Hamburg ausgerechnet im Namen Lessings, ausgerechnet über Religionen und Toleranz zu reden, ziemlich übermütig, geradezu tollkühn wirken muss. Ich bin überrascht, dass dennoch so viele gekommen sind. Das macht die Aufgabe allerdings auch nicht viel leichter.

 

Zum Thema Toleranz im Kontext von Religionen ist von Lessing alles Notwendige ge-sagt: „Der rechte Ring war nicht erweislich, fast so unerweislich wie uns jetzt der rechte Glaube“. Besseres, Klügeres gibt es dazu nicht zu sagen, jedenfalls nicht von mir. Deshalb werde ich über Gewalt reden und über Politik und über Religion, die sich der Politik ebenso gerne und häufig schamlos bedient wie diese der Religion und beide der Gewalt, um ihre jeweiligen Gestaltungsansprüche auch gegen Widerstände durchzusetzen. Mein wichtigster, nicht einziger Zeuge wird Martin Luther sein, nicht Lessing, wofür es im Jahr des 500. Reformationsjubiläums immerhin eine hinreichende Rechtfertigung gibt.

Dieses Jubiläumsjahr – vom Deutschen Bundestag schon 2011 als „Ereignis von Welt-rang“ definiert – lässt uns in vielerlei Weise Martin Luther und seine überragende Per-sönlichkeit wiederentdecken, nicht nur als Rebell und bedeutenden Reformator, son-dern in vorauseilender Begeisterung über dieses Weltereignis gleich auch als Vorläufer von Grundrechten und Freiheitsrechten, von Meinungsfreiheit, Demokratie und Pluralismus. Tatsächlich aber zeichnen sich die zahlreichen Pamphlete von Martin Luther gegen Juden und Türken, Bauern, Täufer und Baptisten auch und gerade wegen der von verbalen Injurien geprägten Sprache durch eine geradezu demonstrative Intoleranz aus. Der Bestsellerautor Martin Luther würde für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels schwerlich nominiert werden, wenn es den damals schon gegeben hätte oder dieser Autor heute mit ähnlichen Schriften aufwarten würde. Martin Luther war naturgemäß ein Mann des Mittelalters und nicht ein Repräsentant der Neuzeit. Sein Freiheitsbegriff bleibt weit hinter dem zurück, was wir uns heute scheinbar selbstverständlich unter individueller Freiheit vorstellen. Seine Vorstellung von Freiheit ist immer strikt religiös bezogen und findet im unbedingten Gehorsam gegen Gott und göttliche Gesetze seine nicht diskutierbare Grenze. Ein von Gott losgelöstes Gewissen, wie es uns im neuzeitlichen Freiheitsverständnis als selbstverständlich erscheint, war für Luther schlicht Teufelszeug. Trotzdem trifft sicher zu, dass Luther einer der Schrittmacher der Moderne war – allerdings vermutlich gegen seine eigenen Absichten. Den modernen Rechtsstaat mit der Trennung von Staat und Kirche, Politik und Religion, dem Grund-recht auf Religionsfreiheit, verstanden auch als Recht zum Wechsel der Religion und dem Abfall vom tradierten Glauben, hat er sich weder vorstellen können noch wollen.

Das Thema Religion und Gewalt ist ebenso alt wie aktuell. Es fehlt nicht an Anlässen, über die heimliche wie unheimliche Verbindung von Religion und Gewalt nachzudenken und dabei auch die Rolle der Politik gegenüber Religion und Gewalt in den Blick zu nehmen, die auch und gerade in Gesellschaften des 21. Jahrhunderts immer häufiger als schreckliches Bündnis auftreten. Die Literatur befasst sich mit diesem Thema, seit es sie gibt. Die großen Mythen, die älteren Texte der Kulturgeschichte handeln von Göttern und Menschen, von Liebe und Gewalt, von Krieg und Frieden im Götterhimmel wie beim irdischen Bodenpersonal. Die Bibel beginnt bekanntlich im Alten Testament mit der Schöpfungsgeschichte. Auf die Vertreibung aus dem Paradies folgt die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain. Vielleicht ist dieser Eintritt von Gewalt in die Menschheitsgeschichte überhaupt der harte Kern der Vertreibung aus dem Paradies, einem Paradies, das die Menschheit seitdem verzweifelt sucht und mit gut gemeinten wie untauglichen Mitteln wiederzugewinnen hofft.

Politik und Religion sind zwei ganz unterschiedliche, aber bedeutende, formell wie in-formell mächtige, rechtlich oder faktisch bindende Gestaltungsansprüche gegenüber einer Gesellschaft und ihren Mitgliedern. Nach meinem Verständnis ist eine der wesentlichen Aufgaben der Politik wie der Religion der Versuch der Domestizierung von Gewalt: entweder durch Sinngebung wie in der Religion – durch Vermittlung gültiger oder jedenfalls für allgemeingültig erklärter zeitlos verbindlicher Werte, in der Erwartung, dass sie das Verhalten der Mitglieder einer Gesellschaft nachhaltig und verlässlich prägen – oder wie in der Politik: durch Strukturen und Institutionen, welche die Anwendung von Gewalt bei der Austragung von Interessen verhindern oder jedenfalls vermeiden sollen. Religion ist der ältere, Politik der jüngere Versuch in der Menschheitsgeschichte, Gewalt zu domestizieren. Beide sind damit offenkundig nicht durchgreifend erfolgreich gewesen. Hinsichtlich der Gewalt ist die Religionsgeschichte wie die politische Geschichte eine Geschichte des Scheiterns. Das betrifft die Religion fast noch mehr als die Politik. Die Kreuzzüge waren weder die ersten noch die letzten religiös motivierten Eroberungskriege. Und spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg in der Folge der Reformation zieht sich die blutige Gewaltspur von Religionskriegen durch die Geschichte der Neuzeit bis zur Gegenwart fundamentalistischer, religiös motivierter Regime.

Wenn man im weitesten Sinn unter Religionskriegen solche Kriege versteht, in denen Religion als Anlass oder als Ursache, als Motiv oder als Methode den Streitgegenstand bestimmt oder beeinflusst, dann hat es in diesem allgemeinen, umfassenden Sinne in allen Religionen und Epochen der Menschheitsgeschichte Religionskriege gegeben. Da-zu gehören die klassischen Konflikte um Heiligtümer, die jüdischen Aufstände gegen die Seleukidenherrschaft und das Römische Reich, die Christenverfolgung der Antike wie die ebenso gnadenlosen Feldzüge zur Christianisierung von Konstantin dem Großen bis Karl dem Großen, die für ihr brutales Verständnis von Christianisierung prompt heiliggesprochen wurden, die Expansionskriege des Islam bis zum 8. Jahrhundert bis hin zu den Spielarten des Heiligen Krieges vom jüdischen Jahwe-Krieg über den islamischen Dschihad bis zu den Kreuzzügen und Ketzerkriegen des Mittelalters, der Reconquista und Conquista Spaniens.

Im engeren Sinne sind Religionskriege eine Erscheinung der Neuzeit, jedenfalls taucht der Begriff interessanterweise erst im 16. und 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit den bewaffneten innenchristlichen Auseinandersetzungen bei der Ausbildung frühmo-derner Territorialstaaten auf. Und prompt haben wir wieder die Verbindung von Politik und Religion und ihre wechselseitige Instrumentalisierung. Hier im 16. und 17. Jahrhundert wird der Begriff Religionskrieg verwandt, um die Konfessionskriege dieser Zeit zu charakterisieren. Dazu zählen die Hugenottenkriege Frankreichs sowie im Deutschen Reich der Schmalkaldische Krieg und natürlich der Dreißigjährige Krieg. Auch heute finden im Übrigen die meisten gewalttägigen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen der gleichen Religion statt.

Dass Menschen für ihre jeweilige Religion Kriege führen, hat schon Cicero für nahezu alle Völker der alten Welt vorausgesetzt und spricht es lediglich den vermeintlich gott-losen Kelten ab. Kriege sind immer wieder von religiösen Riten begleitet und gerne im vermeintlichen Auftrag der Götter geführt worden. Keineswegs nur bestimmte Religio-nen haben eine erkennbare Neigung und Nähe zur Gewalt. Vielmehr finden sich Erzäh-lungen von heiliger Gewalt, heiligen Kriegen, Ausmerzung des Bösen, Kampf gegen das sündhaft Unreine, Vernichtung der jeweils Ungläubigen in nahezu allen religiösen Überlieferungen. In der hebräischen Bibel, im Alten Testament der Christen, werden wir immer wieder mit Mord und Totschlag und Vergewaltigung konfrontiert. Und auch das Neue Testament, das sich zugegebenermaßen deutlich freundlicher liest, kennt eben nicht nur die Bergpredigt und das Gebot der Feindesliebe, sondern die erstaunlichen, endzeitlichen Gewaltphantasien der Offenbarung des Johannes. Und im zehnten Kapitel des Matthäusevangeliums wird Jesus von Nazareth so zitiert: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Die heiligen Texte aller drei monotheistischen Religionen enthalten Passagen, die wörtlich genommen die unnachgiebige Vernichtung von Gottesfeinden, Gottesfrevlern und Gotteslästerern fordern, dies als Befehl Gottes an seine Auserwählten deklarieren und verheißen, dass diesbezüglicher Eifer durch Gott reich belohnt werde.

Vieles, was uns heute bei den abendlichen Fernsehnachrichten entsetzlich neu vor-kommt, ist entsetzlich alt und in allen großen Religionen der Welt über Jahrhunderte tradiert worden. Der Begriff Umsturz findet sich in Luthers Bibelübersetzung zum ers-ten Mal bei seiner Übersetzung des Buches Exodus, als Gott Mose mit auf den Weg gibt, sich gegen die fremden Völker und ihre Götter ablehnend zu verhalten: „Ihre Altäre sollst du umstürzen und ihre Steinmale zerbrechen und ihre heiligen Pfähle umhauen, denn du sollst keinen anderen Gott anbeten.“ Der erste Umsturz, von dem Luther in seiner Sprache als Auftrag an das Volk Israel berichtet, ist die Aufforderung zu einem Religionskrieg. Das Verständnis der radikalen Folgsamkeit gegenüber dem einen einzigen Gott begreift sich gleichzeitig als Legitimation zur Zerstörung der Anbetungsorte von Andersgläubigen. Und die Leviten, die beim Tanz der Israeliten um das goldene Kalb dem Befehl von Mose folgten, erschlugen nach diesen Berichten in einer Nacht 3 000 ihrer Verwandten und Freunde, weil sie Gott beleidigt hatten.

Nun kann man und sollte man auch, bei einer freundlicheren Wahrnehmung der historischen Lektionen, die wir inzwischen mindestens zur Kenntnis genommen, wenn nicht gelernt haben, mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass die Erfahrungen von Verwüstung und Tod, das Trauma völliger Friedlosigkeit, des Ausgeliefertseins an Willkürherrschaft zumindest in Deutschland und Europa, wenn schon nicht zu einer Tabuisierung von Gewalt, so doch mindestens zu einer erheblichen Ernüchterung und zu einer wesentlich höheren Rechtfertigungslast gegenüber jeder auch und gerade staatlicher Gewalt geführt haben, als dies über Jahrhunderte zuvor der Fall gewesen sein mag. Aber die ganze Wahrheit ist wohl, dass es zu den Unergründlichkeiten der menschlichen Natur gehört, dass solche Traumata irgendwann wieder aufgebraucht sind und dass sich in der Abfolge von Generationen bestenfalls Erfahrungen im Gedächtnis der Menschheit speichern lassen, aber keinesfalls gesicherte Verhaltensmuster. Anders wäre völlig unerklärlich, warum ausgerechnet das zivilisierte Europa, ausgerechnet Deutschland, ausgerechnet das 20. Jahrhundert bislang beispiellose Gewaltexzesse in staatlicher Regie gesehen haben.

Das 21. Jahrhundert hat, wie manche Publizisten geschrieben haben, am 11. September 2001 begonnen – mit den Terroranschlägen auf die Türme des World Trade Centers in New York. Das ist – wie so viele ähnlicher Datierungen – natürlich übertrieben; dennoch ist dieser Hinweis alles andere als zufällig, und er ist auch nicht völlig willkürlich. Mit oder besser seit dem 11. September 2001 stehen wir vor einer völlig neuen Dimension von Gewalt. Vieles von dem, was wir seitdem erleben, ist neu, völlig unverständlich. Für Vieles fehlen uns die Begriffe und die Möglichkeiten der Erläuterung oder gar der Rechtfertigung. Neu ist die Unvorhersehbarkeit, die Unmittelbarkeit der Bedrohung, die sich daraus nahezu für jeden prinzipiell ergibt, weil die Zielgruppen dieser Form willkürlich organisierter Gewaltanwendung nicht identifizierbar sind. Man kennt die möglichen Opfer erst, nachdem sie Opfer geworden sind. Nicht neu ist die Unmittelbarkeit der Inanspruchnahme von Religion für die Anwendung aggressiver Gewalt. Gewalt wird nicht mehr versteckt umschrieben und umgedeutet, sondern es wird – nicht nur damals im konkreten Fall des 11. September und seitdem immer wieder – ein direkter Zusammenhang hergestellt zwischen dem vermeintlichen Willen Allahs und der Zerstörung der westlichen Zivilisation. Dies gilt für den sogenannten Islamischen Staat wie für Boko Haram. Mit Recht wehren sich die Muslime in aller Welt und westliche Islamkenner dagegen, dies als originäre Stimme des Islam zu werten. Natürlich sind allen, die über Religion zu reflektieren in der Lage sind, die Instrumentalisierung des Glaubens und die krude Missachtung jeder Friedensbotschaft im Islam durch die Ideologen des Terrors bewusst. Dennoch bleibt bemerkenswert und im wörtlichen wie im übertragenen Sinne des Wortes bedenklich, dass Religion hier wieder in einem Gewand auftaucht, das wir für längst überholt gehalten haben: als skrupellose Bemäntelung primitiver Aggression, als fadenscheiniger, gleichwohl von den Betroffenen in ihrem Fanatismus subjektiv wohl ernst genommener Vorwand für Mordlust. Unter dem heiligen Anspruch des Un-bedingten, des absolut Gültigen, also von allen sonstigen Verpflichtungen und Vereinbarungen losgelösten Absoluten, werden auch die Bedingungen der Zivilisation disponibel.

Warum kann Religion dafür herhalten? Warum ist sie nicht dagegen immun? Warum ist auch und gerade die Geschichte des Christentums durch eine Serie nicht nur von Versuchungen, sondern von einschlägigen Niedergängen gekennzeichnet?

Ich kann die Frage selbstverständlich auch nicht und schon gar nicht abschließend be-antworten, aber ich will den nach meiner Überzeugung wichtigsten einzelnen Grund nennen, der leider auch nicht die Zuversicht begründet, dass zukünftige Generationen im Verhältnis von Religion und Politik mit sehr viel günstigeren Voraussetzungen rech-nen dürften. Religionen handeln von Wahrheiten. Sie definieren Wahrheitsansprüche. Der Anspruch auf Wahrheit schließt Abstimmungen aus. Mehrheiten können über Wahrheiten nicht befinden. Ob eine Botschaft wahr ist, darüber kann man möglicher-weise auf ganz unterschiedliche Weise urteilen. Durch Mehrheit ist der Nachweis der Wahrheit jedenfalls nicht zu führen. Das gilt leider auch umgekehrt. Der höchst subjek-tive Anspruch auf Wahrheit ist durch den Hinweis auf haushohe gegenteilige Mehrhei-ten in einer Gesellschaft nicht ernsthaft gefährdet. Politik handelt nicht von Wahrheiten, sondern von Interessen. Der moderne Politikbegriff beruht geradezu auf der Bestreitung ewiger Wahrheiten. Was gelten soll, muss Zustimmung finden. Maßstab allgemeiner Geltung ist die Mehrheit. Was die Mehrheit beschließt, gilt – auch wenn es nicht wahr ist oder jedenfalls unabhängig davon, ob es wahr ist. Seit wenigen Tagen haben wir dafür auch einen erstaunlichen neuen Begriff: „alternative Fakten“. Und was gelten soll, gilt auch nur so lange, bis eine andere Mehrheit etwas anderes beschließt. Insoweit ermöglicht Politik die Integration des Unvereinbaren in einer Gesellschaft – allerdings unter der Bedingung der unverrückbaren Geltung von Regeln, nicht von Wahrheiten.

Das Thema wird noch komplizierter durch die Einsicht, dass der moderne Politikbegriff ohne den Beitrag der Religionen gar nicht zustande gekommen wäre. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist selbstverständlich keine Verfahrensregel, sondern ein nicht beweisbares, nur behauptetes Prinzip, ein Wahrheitsanspruch. Der schönste und wichtigste Satz unseres Grundgesetzes, „die Würde des Menschen ist unantastbar“, ist offensichtlich kein empirischer Befund; als solcher wäre er falsch. Er formuliert ein Prinzip als verfassungsrechtliche Norm. Und dieses Prinzip verdankt sich der jüdisch-christlichen Tradition der Vorstellung vom Menschen als Ebenbild Gottes. Jürgen Habermas, der tatsächlich den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, hat sich damals bei seiner Dankesrede selbst als einen „religiös unmusikalischen Menschen“ vorgestellt und hat schon zwei Jahre zuvor, 1999, in einem sehr lesenswerten Gespräch über Gott und die Welt unter genau diesem Titel folgende Einsichten formuliert: „Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur eine Vorläufergestalt oder ein Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative.“ Soviel übrigens auch zur Spurensuche der Urheberschaft für die Behauptung der Alternativlosigkeit zeitgenössischer Diskurse. Aus dieser Norm folgen Regeln, die für allgemein verbindliche Entscheidungen die Legitimationsgrundlage darstellen und auf dem Ausschluss von Wahrheitsansprüchen zugunsten von Verfahrensregeln beruhen. Ohne dieses innere Spannungsverhältnis geht die Beziehung von Interessen und Über-zeugungen auf der einen Seite und von Verfahren und Institutionen auf der anderen Seite nicht auf. Aber weil sie nicht aufgeht, wird auch die Spannung erhalten bleiben. Das Problem ist nicht ein für alle Mal gelöst; es wird sich vermutlich auch nicht ein für alle Mal lösen lassen.

Deshalb muss ich wohl Lessing zum Trotz und Lessing zum Dank doch noch ein paar Bemerkungen zur Toleranz machen. Toleranz ist sicher eine der populärsten und zu-gleich folgenlosesten Begriffe unserer Zeit. Fragt man Google, was man sich unter Toleranz vorzustellen habe, werden dort fast 10 Millionen Ergebnisse angezeigt. Das allein ist ein starkes Indiz dafür, dass weder der Begriff unmissverständlich und eindeutig ist noch die damit verbundenen Sachverhalte. Wie ist der Begriff überhaupt in die deutsche Sprache gekommen? – Sie ahnen es: durch Luther. Er hat den lateinischen Begriff der Tolerancia als „Tollerantz“ in die deutsche Sprache übertragen und eingeführt. Im römischen Sprachgebrauch umschrieb „tolerancia“ die individuelle Tugend des Ertragens von Unrecht, Leid, Schmerzen, Schicksalsschlägen oder auch Naturkatastrophen. Diese Bedeutung wurde von den früheren Kirchenvätern unter dem Eindruck der Christenverfolgung als göttliche Gabe überhöht, die die Christen zur standhaften Erduldung von Verfolgung und Tod befähigen sollte. Dass in der Lutherdekade, die jetzt im Reformationsjubiläumsjahr zu Ende geht, unter den Themen jedes einzelnen Jahres Toleranz ein solch zentraler Begriff war, hat natürlich nicht nur mit der Bedeutung Martin Luthers für unser heutiges deutsches Sprachverständnis zu tun, sondern mit der historischen Erfahrung, die wir mit diesem Begriff und dem, was damit gemeint sein könnte, gemacht haben. Toleranz ist nicht das herausragende Merkmal der Kirchengeschichte – weder vor der Reformation noch danach. Die dunklen Schatten oft brutaler Intoleranz begleiten die Religions- und die Kirchengeschichte durch die Jahrhunderte: Inquisition, Hexenprozesse, Ketzerverbrennungen und Glaubenskriege. Auch die Entdeckung der Freiheit des Christenmenschen, eine der großen Errungenschaften der Reformation, hat damals nicht zugleich auch die Glaubensfreiheit gemeint und schon gar nicht akzeptiert. Auch Martin Luther war ein mittelalterlich geprägter Mensch, der sich nicht vorstellen konnte, dass unterschiedliche Wahrheits- und Glaubensvorstellungen nebeneinander bestehen können. Und der berühmte Augsburger Religionsfrieden von 1555 mit der Vereinbarung, dass derjenige Glaube für alle Menschen gelten solle, der vom jeweiligen Herrscherhaus eines Gebietes übernommen wurde, war eine friedensstiftende Maß-nahme, aber nur unter der zutiefst intoleranten Voraussetzung, dass in einem Staatsge-biet verschiedene Glaubensweisen nicht nebeneinander leben und ausgeübt werden können.

Meine Damen und Herren, Religionen haben ein ambivalentes Verhältnis zur Toleranz. In der Lehre vermitteln sie diese; in der Praxis verweigern sie diese – jedenfalls allzu oft – nach innen wie nach außen. Erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert, die ihre wesentlichen Einsichten weitgehend gegen den erbitterten Widerstand der Kirche durchsetzen musste, wurde die Freiheit des Christenmenschen als individuelle Freiheit des Bürgers im Staat, gegenüber dem Staat und auch gegenüber den Kirchen reklamiert und durchgesetzt. Die Einsicht der Aufklärung in die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der Wahrheitsfrage hat Demokratie nötig und möglich gemacht. Ihre Folge war die Trennung von Politik und Religion in zwei eigenständige Verantwortungsbereiche. Das spätere Missverständnis, beide Bereiche sollten oder dürften möglichst nichts miteinander zu tun haben, ist freilich ein nicht geringerer Irrtum als die jahrhundertealte Vorstellung, das eine dürfe von dem anderen nicht unterschieden werden. Unter den Bedingungen eines aufgeklärten, modernen Staats- und Gesellschaftsverständnisses sind Toleranz und Freiheit Geschwister. Die Toleranz ist gewissermaßen der größere Bruder der Freiheit, die ohne die Bereitschaft zur Toleranz jedenfalls keine allgemeine Freiheit sein kann, sondern bestenfalls die zum Standard erhobene Umsetzung von je eigenen Freiheitsvorstellungen, die für allgemein und zugleich für alle verbindlich erklärt werden. Wer wirklich individuelle Freiheit will, muss zur Toleranz bereit und in der Lage sein oder er muss auf Freiheit verzichten.

Die Legitimation von Entscheidungen in demokratischen rechtsstaatlichen Mehrheits-voten hat immer wieder bis in die Gegenwart hinein zu dem Missverständnis geführt, die Mehrheit sei Nachweis der Richtigkeit der eigenen Meinung. Das Gegenteil ist rich-tig. Wäre die Richtigkeit offenkundig oder nachweisbar gewesen, hätte eine Abstim-mung gar nicht stattfinden müssen. Jede Mehrheitsentscheidung hat zur logischen Vo-raussetzung, dass keine Wahrheitsansprüche erhoben und schon gar keine Richtig-keitsnachweise geführt werden können. Das gilt für Erbschaftsrecht und Ehegattensplitting, die Höhe des Rentenalters und soziale Leistungsansprüche, für Bundeswehreinsätze in Mali oder Afghanistan, für den Umfang und die Bedingungen von Migration und Flüchtlingshilfen bis hin zur Entscheidung über Neubauprojekte für Bahnhöfe oder Flughäfen. In all diesen Fällen geht es nicht um Richtigkeits- noch um Wahrheitsansprüche, sondern um notwendige Entscheidungen über legitime Alternativen, über die durch Mehrheit entschieden wird. Durch die Mehrheitsentscheidungen werden sie rechtlich verbindlich, aber nicht notwendigerweise richtig. Sie gelten folgerichtig auch nur so lange, bis neue Mehrheiten anderes beschließen.

Wo beginnt Toleranz und wo hört sie auf? Toleranz beginnt immer mit der Erfahrung des anderen, des anderen Menschen, seiner jeweils besonderen Eigenart, seiner Veranlagungen, seiner Interessen, seiner Auffassungen und Meinungen, seiner Ziele und Bedürfnisse. Toleranz ist eben nicht die schlichte Kenntnis oder Kenntnisnahme, dass es so ist, wie es ist – und sie ist mehr, als die Duldung des anderen, weil es sich ohnehin nicht verändern oder vermeiden lässt. Toleranz ist Akzeptanz des anderen, die Bereitschaft zu verstehen, warum es so ist, wie es ist und sich darauf einzulassen, es möglich werden zu lassen. Toleranz darf allerdings nicht die Legitimation für Rücksichtslosigkeit sein. Die Grenzen der Toleranz sind spätestens dann erreicht, wenn es um Anwendung oder Androhung von Gewalt geht: um Terror, auch Gesinnungsterror, um Diskriminierung oder Privilegierung, soweit diese nicht in der Sache geboten und begründet sind. Nicht alles, was sich als Toleranz ausgibt, genügt höheren Ansprüchen. Toleranz ist nicht immer und überall weise. Sie kann auch dumm sein, blind, bequem, leichtfertig, gefährlich und manchmal lebensgefährlich. Deshalb ist es im Namen der Toleranz erlaubt und manchmal dringend geboten, Intoleranz nicht zu tolerieren.

Meine Damen und Herren, der echte Ring ging vermutlich verloren, aber wir ahnen: Wenn es einen Gott gibt, haben wir alle denselben. Beim bedeutenden islamischen Mystiker Rumi habe ich einen Satz gefunden, der in einer kaum zu überbietenden Prägnanz verdeutlicht, worum es geht im notwendigen, ständigen Dialog der Gläubigen und der Ungläubigen untereinander und miteinander: „Draußen, hinter den Ideen von rechtem und falschem Tun kommt ein Acker. Wir treffen uns dort. Das ist die ganze Aufgabe. Aber um diese Aufgabe zu erledigen bedarf es zweier Voraussetzungen: Erstens muss man sich treffen wollen und zweitens muss man den Acker tatsächlich bearbeiten.“

Man muss sich treffen. Man muss sich bemühen. Und vor allem muss man es wollen.



NORBERT LAMMERT IM GESPRÄCH MIT JOACHIM LUX

Joachim Lux:    Vielen Dank, Norbert Lammert, für diesen sehr eindrucksvollen Vortrag in viele Richtungen. Ich möchte uns jetzt alle davor schützen, das zu zerreden, sondern nur noch auf ein, zwei Punkte zu sprechen kommen. Sie haben im letzten Viertel der Rede gesagt: Toleranz ist manchmal dumm, Toleranz hat ihre Grenzen, zum Beispiel Intoleranz. Intoleranz muss man bekämpfen. Das ist genau die Schnittstelle, wenn wir es ins Praktische übersetzen: Wie, mit welchem Instrumentarium kann ich sowohl politisch wie auch als einzelner Mensch intolerante Haltungen bekämpfen, ohne selbst intolerant zu sein oder welche Art von Intoleranz ist dann überhaupt noch erlaubt, um die andere Intoleranz zu bekämpfen? Wie funktioniert das?

Norbert Lammert:    Es funktioniert leider nicht, jedenfalls nicht hinreichend. Der Kern des Problems besteht darin, dass Toleranz eine Haltung ist, und Haltungen können Sie nicht verordnen – die werden in einer Gesellschaft vermittelt und tradiert oder auch nicht. Sie sind stabile oder eher instabile Verhaltensmuster. Wenn man mit sich selbst-kritisch umgeht, dann wird man einräumen müssen, dass im Kontext von Toleranzer-wartungen die Neigung zur Großzügigkeit bei einem selbst regelmäßig stärker ausge-prägt ist als in Kontexten, die man als Beobachter betrachtet. Für die staatliche Verfas-sung einer Gesellschaft stellt sich die deswegen nicht einfachere Aufgabe, dort, wo es Formen von artikulierter oder gar organisierter Intoleranz gibt, diese gegebenenfalls auch durch Strafandrohungen nicht tolerieren zu dürfen. Aber auch darüber ist der Streit nicht nur erlaubt, sondern nötig.

Joachim Lux:    Aber solange ich mich in einem diskursiven Prozess befinde, ist es richtig, sich mit intoleranten Haltungen tolerant auseinanderzusetzen, also den Dialog zu su-chen, oder begegnet man intoleranten Haltungen anderer mit der eigenen Intoleranz und sagt: Nein, da ist die Grenze überschritten?

Norbert Lammert:    Das ist wohl schwer abstrakt, sondern immer im konkreten Zu-sammenhang zu beantworten.

Joachim Lux:    Was ich meine, ahnen Sie?

Norbert Lammert:    Das ändert nichts am Befund. Wenn die vorhin vorgetragene Be-obachtung richtig ist, dass man Intoleranz regelmäßig bei anderen häufiger beobachtet als bei sich selbst, dann spricht die Vermutung ja dafür, dass man auch in den Zusam-menhängen, von denen ich ahne, dass Sie sie meinen, auf genau diese Versuchsanord-nung stößt, dass diejenigen, die man für abgrundtief intolerant hält, diese Intoleranz an sich selbst gar nicht beobachten, was durch die Verweigerung eines Gesprächs ganz offenkundig nicht befördert werden kann. Also muss man sich in eine dann doppelt komplizierte Auseinandersetzung begeben, die mit fast schon platonischer Weisheit zunächst den Sachverhalt freischaufelt, um sich dann ebenso behutsam wie sorgfältig auf das zuzubewegen, was in einer Gesellschaft tolerabel und was nicht mehr tolerabel sein sollte.

Joachim Lux:    Eine zweite Frage bezieht sich auf das Grundgesetz, über das Sie gespro-chen haben, in das, wie Sie sagten, letztlich bestimmte Traditionen der christlich-jüdischen Geschichte eingeflossen sind, wenn wir beispielsweise an die Menschenrechte denken. Das heißt, bestimmte Reste dieses Absolutheitsdenkens, des Absolutheitsanspruchs sind dort enthalten, die setzt der Staat und der Rest ist – verkürzt gesagt – das Aushandeln von Interessen. Gleichzeitig ist es sicher richtig zu sagen, dass es schwer ist, mit Absolutheitsansprüchen zu handeln. Entsteht da nicht eine Konfliktlage zwischen den eigenen absoluten Werten und den gegenteiligen absoluten Werten aus andren Kulturen?

Norbert Lammert:     Zunächst einmal: Diesen Konflikt oder – wie ich es lieber nennen würde – dieses Spannungsverhältnis zwischen Absolutheitsansprüchen auf der einen Seite und einem im Großen und Ganzen verfahrensgesteuerten, regelgesteuerten, nicht durch Wahrheitsansprüche gekennzeichneten System habe ich ausdrücklich einge-räumt. Das gehört zur Paradoxie unseres Verständnisses, ich glaube auch nicht nur unseres deutschen Verständnisses, einer aufgeklärten demokratischen Ordnung, sondern – auch wenn es hier erkennbar unterschiedliche Traditionsstränge gibt – im Kern schon zum Selbstverständnis der westlichen Zivilisation. Aber man muss eben doch deutlich die wenigen Ansprüche, die mit – bleiben wir bei diesem Begriff – absolutem Geltungsanspruch reklamiert werden, vom eigentlichen Gegenstand von Politik und auch gesellschaftlichem Interessenumgang trennen. Wir haben das in unserer Verfassung ja auch in der Weise zum Ausdruck gebracht, dass wir die Grundrechte, also die in Artikeln 1 bis 20 aufgeführten Freiheits- und Gleichheits- und Würdeversprechen, für unantastbar erklären und damit auch Mehrheitsentscheidungen entziehen, was übrigens wiederum eine innere Logik hat. Denn wenn sie wahr sind, kann darüber durch Mehrheiten nicht befunden werden, während für alles andere Mehrheiten darüber entscheiden, ob es überhaupt gilt oder nicht gilt. Nun kann man natürlich – aber das wäre aus meinem Verständnis heraus doch eine sehr utilitaristische Verkürzung des Demokratieprinzips – sagen: Wenn das Mehrheitsprinzip gilt, dann muss es für alles und jedes gelten. Aber dann ist Folter erlaubt, wenn die Mehrheit es so beschließt. Und deswegen halte ich gerade dieses zugegebenermaßen extrem komplizierte Spannungsverhältnis für den eigentlichen Kern unserer Zivilisation.

Joachim Lux:    Was unterscheidet diese Art, sich absolute Regeln zu setzen, von der Art, wie Religionen oder auch Kirchen sich absolute Regeln setzen?

Norbert Lammert:     Na ja, Kirchen sind nunmal andere Veranstaltungen als Staaten und auch wenn sich historisch der Beitrag der Religionen – nicht der Kirchen – für die Entwicklung unseres heutigen Freiheits- und Menschenrechtsverständnisses mühelos zeigen lässt, lässt sich genauso mühelos zeigen, dass die Kirchen noch länger gebraucht haben als die Staaten, diese von ihnen selbst produzierten Wahrheiten als gültig anzu-erkennen.

Joachim Lux:    Nun würde ich mir wünschen die Hamburger Bischöfin Fehrs säße hier oben. Sie hätte sicher viel zu all dem zu sagen. – Wie setzt sich das von Ihnen Gesagte in praktische Politik um? Ich möchte nur ungern tagespolitisch werden, aber wenn ein Staat wie Deutschland mit sich selbst absolut setzenden hehren Regelwerken, Verhand-lungen mit Staaten aufnimmt, die genau diese Grundrechte ablehnen, und mit diesen Staaten sogar Geschäfte macht, gehört das zum Toleranzbegriff, der sich dann in be-triebswirtschaftliche Geschäftemacherei übersetzt oder wie bewerten Sie das?

Norbert Lammert:     Also ich will das, von dem ich wiederum ahne, was Sie meinen, jetzt nicht banalisieren, aber zunächst gilt auch dort ein ähnlicher Zusammenhang, wie wir ihn vorhin im privaten Umgang zwischen Leuten entdeckt haben: Wie geht man mit einem toleranten Grundverständnis mit intoleranten Gesprächspartnern um? Und wenn vorhin die Schlussfolgerung nicht ganz falsch war, dass die Gesprächsverweigerung wohl nicht die Lösung ist, dann wird es wohl auch im Verhältnis von Staaten zueinander nicht die Lösung sein. Aber die gleichen Mindestansprüche auf Nicht-Verhandelbarkeit von solchen Haltungen und Geltungsansprüchen müssen dann natürlich auch und gerade im Verhältnis von Staaten zueinander reklamiert werden wie innerhalb einer Gesellschaft auch. Das lässt sich allerdings zugegebenermaßen hier oben am Mikrofon mit einem aufgeschlossenen Publikum viel leichter abstrakt vortragen als am Telefon zwischen real existierenden Regierungschefs ausdiskutieren.

Joachim Lux:    Welche Möglichkeiten hat denn Politik – und das vielleicht nicht total ge-neralisiert –, welche Möglichkeiten haben westliche Demokratien in der Mischung von gebotener Toleranz und notwendiger Intoleranz, sich gegenüber den Absolutheitsan-sprüchen und Fundamentalismen dieser religiösen Strömungen durchzusetzen? Wie funktioniert das sowohl innerhalb unserer Gesellschaft – dort gibt es ja auch diese Konflikte – wie aber auch gegenüber Staaten oder supranationalen Organisationsformen?

Norbert Lammert:     Das sind leider oder glücklicherweise zwei ganz unterschiedliche Sachverhalte. Einen Anspruch auf Durchsetzung dessen, was wir für die Verfassung von Staaten für richtig halten, in anderen Staaten haben wir selbstverständlich nicht. Es wäre im Übrigen schon logisch ziemlich schwierig zu begründen, warum wir von anderen erwarten, dass sie das, was wir für uns für nicht verhandelbar gültig halten, bitte schön akzeptieren, wenn wir gleichzeitig sagten, wir seien aber selbstverständlich nicht bereit, den gleichen Anspruch dieser Staaten für sich selbst zu akzeptieren. Das ist genau das Problem, das Sie zu Beginn auch angedeutet haben, dass es über das, was wir für universale Werte halten, keineswegs einen universalen Konsens gibt. Und ob die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg noch konsensfähig war, heute in den Vereinten Nationen noch beschlossen werden könnte, ist eine bestenfalls offene Frage. Und was bedeutet das für den Umgang mit Menschen, die mit ganz anderen Haltungen, ganz anderen Sozialisationserfahrungen in unsere Gesellschaft kommen? Von denen dürfen und müssen wir erwarten, dass sie sich an die in dieser Gesellschaft für nicht verhandlungsfähig erklärten Grundsätze halten. Punkt.

Joachim Lux:    Warum ist letzteres so? Muss ich nicht anfangen, meine eigenen Werte neu auszuhandeln, sei es im Geschlechterverhältnis oder in anderen Fragen, wenn in unsere Gesellschaft andere Kräfte kommen? Oder ist es wie beim Augsburger Religionsfrieden?

Norbert Lammert:     Nein, ich werde jetzt nicht zum zweiten Mal etwas Unfreundliches über Augsburg sagen. Aber Sie haben einen interessanten Punkt angesprochen. Wenn wir einmal nur die vergleichsweise kurze Zeitspanne von 1949 – das war der Zeitpunkt der Verkündung des Grundgesetzes – bis heute nehmen, dann hat sich unser Verständ-nis vieler der Festlegungen von Rechten, von Grundrechten, von Bürgerrechten, wie sie in den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes formuliert sind, ja offenkundig deutlich verändert, am auffälligsten sicher in allem, was mit Familie im weitesten Sinne des Wortes und mit Geschlechterverhältnis zu tun hat. Das ist ein starkes Indiz dafür, dass auch ein solches Wertesystem nicht ein für alle Mal fixiert ist, sondern dass es sich in einem gesamtgesellschaftlichen Diskurs weiterentwickelt. Dafür haben wir übrigens auch wieder eine interessante Konstellation: Wo sich an der einen Stelle wie etwa beim Thema Umgang mit Sexualität und den sich daraus ergebenden Rechtsansprüchen und Freiheitsansprüchen unser heutiges Verständnis sicher auch von dem der Verfassungsväter und -mütter deutlich unterscheidet, ist dies im Diskurs einer Gesellschaft mit sich selbst für die einen viel zu schnell und für andere viel zu langsam so gewachsen, wie es gewachsen ist – bis es dann irgendwann auch wiederum über das Mehrheitsprinzip in veränderte gesetzliche Regelungen umgesetzt worden ist. Und für die dann auf der Strecke immer mal wieder auftauchende Frage: „Aber ist das, was der eine fordert oder der andere beschließt, eigentlich noch durch dieses Grundwerteverständnis gedeckt?“ haben wir dann wiederum eine unabhängige Instanz, das Bundesverfassungsgericht, das zu solchen Fragen angerufen beispielsweise erklärt: „Nein, das geht zu weit“ oder in anderen Fällen – wie interessanterweise im Familienrecht im Zusammenhang mit der Gleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften – dem Gesetzgeber gelegentlich erstaunlicherweise voraus ist und ihn gewissermaßen zum Nachvollzug von in die Verfassung hinein oder aus ihr heraus gelesenen Konsensen veranlasst, die dann auch wiederum das Regelgerüst dieser Gesellschaft modernisieren. Da liegt im Übrigen für mich auch die Brücke zu dem, was Sie ein bisschen zu großzügig in Ihrer Frage ange-deutet haben, ob nämlich diejenigen, die mit ganz anderen Wertvorstellungen zu uns kommen, nicht auch das Recht haben müssten, sie gegen den Konsens dieser Gesell-schaft zu behaupten: nein, gegen den Konsens dieser Gesellschaft nicht. Aber dieser Konsens ist kein ein für alle Mal fixierter Kanon, sondern einer, der sich fortschreibt und an dem mitzuwirken alle eingeladen sind, die in dieser Gesellschaft leben, solange und soweit sie sich dabei an die Regeln halten, die bis auf Weiteres in dieser Gesellschaft gelten.

Joachim Lux:     Sehr geehrte Damen und Herren, ich denke, es gibt genug Stoff zum Nachdenken, genug Stoff auch um die Gespräch in anderen Konstellationen weiterzuführen. Ich bedanke mich für Ihr Interesse, für Ihr Erscheinen. Ich danke aber insbesondere Norbert Lammert dafür, dass er nach Hamburg gekommen ist. Dankeschön!


Prof. Dr. Norbert Lammert