Es gibt keine Wahrheit.

Ein Gespräch mit dem Regisseur Luk Perceval

Welche ist Ihre erste Erinnerung an die Kennedys?
Die ist eigentlich ganz konkret und betrifft den Zeitpunkt des Dallas-Attentats. Obwohl ich 1963, als John F. Kennedy ermordet wurde, erst sechs Jahre alt war, kann ich mich sehr genau an das Ereignis erinnern. Vor allem emotional. Meine Eltern besaßen ein Schiff, und oft sind sie von Antwerpen aus nach Mannheim den Rhein hochgefahren und haben, um ihr Deutsch zu verbessern, den „Stern“ gekauft. In dieser Zeitschrift habe ich dann als kleiner Junge die Bilder vom Attentat gesehen. Die haben mich sehr beschäftigt. Vor allem aber erinnere ich mich an die Aufgeregtheit meiner Eltern. John F. Kennedy war für sie eine Art Heilsbringer gewesen, ein Politiker ihrer Generation, darauf waren sie sehr stolz. Ich wurde in dem Jahr geboren, als Caroline, JFKs Tochter zur Welt kam, und meine Eltern identifizierten sich sehr mit der Kennedy-Familie. Meine konkrete- ste Erinnerung gilt allerdings meinem Vater. Er, der niemals etwas glaubte, nicht einmal die Mondlandung, war sich sicher, dass an der offiziellen Dallas-Geschichte etwas nicht stimmte. Wie konnte ein einzelner Mann dieses Attentat ausführen? Im „Stern“ gab es Fotos, die jede Sekunde des Attentats in Einzelbildern zeigte und man konnte die Bewegungen des Präsidenten sehr genau anschauen. Mein Vater, der zu seiner Armeezeit für die Schießausbildung der Rekruten verant- wortlich war, erkannte sofort, dass Kennedys Körperbewegungen nicht mit der Behauptung in Einklang zu bringen waren, die Schüsse seien alle aus dem Schul- buchlager abgefeuert worden. Vom Tag des Attentats an hat mein Vater damit begonnen, eine eigene Recherche zu betreiben. Er sammelte alle verfügbaren Informationen. Immer habe ich seine Stimme im Ohr, wenn es um die Frage geht, ob Lee Harvey Oswald der alleinige Täter war. Mein Vater war sich sicher, dass es sich beim Attentat um eine Inszenierung handelte, und dass uns jemand etwas verkaufen will, was nicht stimmen kann. Er entwickelte Theorien über CIA und Mafia, und stellte die offizielle Version des Attentats immer wieder in Frage. Diese Haltung hat mein Bewusstsein über die Kennedys sehr geprägt. Und mein Vater hat mich angesteckt, denn die Frage, was hinter dem Attentat steht, wer sich das Ganze ausgedacht hat, beschäftigt auch mich bis heute. Darüber hinaus begann ich mich zu fragen: Wer waren diese Kennedys? Und wieviel Inszenierung steckt im Auftritt dieser Familie? Was ist das: „the truth about the Kennedys“? Gibt es die überhaupt?

Wann kamen Sie auf den Gedanken, den Kennedy-Stoff für die Bühne zu bearbeiten?
Ich habe meinem Vater ein Buch gekauft über Joseph „Joe“ Patrick Kennedy, den Vater von JFK. Und bevor ich das Buch verschenkte, habe ich es erst einmal selber gelesen. Nach dieser Lektüre ist mir dann klar geworden, dass in dieser Familiengeschichte etwas verborgen ist, was ich schon viele Jahre für die Bühne gesucht hatte: ein zeitgenössischer Mythos. Die Kennedy-Geschichte beinhaltet all das, was auch die griechische Tragödie kennzeichnet, vor allem solche Figuren, die sich weniger in der konkreten, als in einer vorgestellten Welt be- finden. Die Kennedys verkörpern scheinbar all das, was der Kleinbürger sich erträumt: Macht, Geld, Ruhm, Sex. Bei den Kennedys allerdings stimmt das öffentliche Bild nicht mit der Wirklichkeit überein. Eine ziemlich perfekte Lüge. Und hier liegt der Kern für mein Interesse an diesem Stoff. Wir alle brauchen solche Lügen, um zu überleben. Wir brauchen Märchen. Nicht ohne Grund waren die Kennedys die ersten Pop-Ikonen der Politik, größer noch als die Filmstars der 1960er Jahre, von denen einige mit den Kennedys verbunden waren. Mehr noch, sie befanden sich auf sehr besondere Weise in den Händen der Kennedys: Gloria Swanson, Marylin Monroe, Frank Sinatra, Marlene Dietrich. Die große Lüge, mit der sich die Kennedy-Familie verkaufte, ist für mich auch eine Metapher für unsere kapitalistische Kultur. Die Kennedys behaupteten einen starken Zusammenhalt, vermarkteten sich als „ideale“ Familie. Aber hinter den Kulissen sieht die Sache anders aus. Der Vater war nie da, sondern immer mit seinen (größenteils kriminellen) Geschäften beschäftigt. Die Mutter kannte keine zärtliche Zuwendung, sondern erzog vor allem ihre Söhne zu Soldaten des Familienkapitals. Das Ziel war immer die Erweiterung der Macht, und niemals das persönliche Glück der Familienmitglieder. Stets herrschte große Angst vor dem Machtverlust. In diesem Zusammenhang muss ich immer an Shakespeare und den „King Lear“ denken: Ted Kennedy, jüngster Bruder JFKs, der das Erbe der Familie weitertragen soll, und sich außerstande sieht, den Familienmythos zu verwalten. Dieser Mann scheitert tragisch an seiner Aufgabe. Jetzt haben die Kennedys in Barak Obama, an dessen Aufstieg sie wesentlich mitwirkten, einen Stellvertreter gefunden. Und angesichts der zahllosen Schattenseiten der Kennedy-Familie beginne ich zwangsläufig, mir viele Fragen über die Obamas zu stellen.

Welche Analogien erkennen Sie zwischen den Kennedys und den Obamas?
Sehr viele. Angefangen mit der Tatsache, dass die Kennedys die Medien instrumentalisiert und bewusst manipuliert haben, um ihre Macht zu stärken. Obama tut heute ähnliches, er hat sogar über das Internet den Dialog zwischen Politiker und Wähler auf eine ganz andere Ebene verschoben. Ich habe selbst den Versuch gemacht, mit Obama in Kontakt zu treten. Man braucht sich nur auf seiner Homepage anzumelden, dann kann man eine Frage an den Präsidenten stellen und es wird umgehend versprochen, dass die Frage innerhalb einer Woche beantwortet wird. Sozusagen vom Präsidenten selber. Das gab es natürlich bei den Kennedys nicht, und doch haben sie sich die Macht der Medien auf eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Weise zunutze gemacht. Wenn man sich an die Zeit vor den Kennedys erinnert, in der Politik etwas war, das durch das Radio in endlosen Predigten und Monologen auf das Publikum herab donnerte, dann gab es mit John F. Kennedy eine deutliche Verschiebung von Ton zu Bild. Das ist ja eine der interessantesten Erkenntnisse aus John F. Kennedys Wahlkampf, dass nicht mehr derjenige, der (wie früher über das Radio) „akustisch“ überzeugt, ein Rededuell gewinnt, sondern derjenige, der am besten aussieht, der fotogen ist. Die wichtigste Analogie zwischen den Kennedys und Obamas ist jedoch eine, die von Obamas Beratern bewusst konstruiert wird. Es geht um das Erscheinungsbild der Obamas und eine Wiederholung bestimmter Kennedy-Bilder, die tief im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung verankert sind. Damit erhofft man sich eine Wiederholung bestimmter Empfindungen. Und genau das ist ja auch passiert. In den USA gibt es mittlerweile ganze Studien mit Bildvergleichen zwischen JFK und Obama, bzw. Jackie und Michelle – und die Parallelen sind geradezu erschreckend.

Dazu kommt die Assimilationsgeschichte; das heißt, dass der Drang zur Macht verbunden ist mit der Position des Außenseiters, der sich in der Gesellschaft bis zur höchsten Stelle hoch arbeitet. So etwas finden wir bereits bei John F. Kennedys Großvater. Und jetzt auch in der Familiengeschichte von Obama.
Und natürlich das Phänomen der Jugend. John F. Kennedy hat sich ja ständig über seine Jugend profiliert: Der jüngste Senator der USA, der jüngste Präsident aller Zeiten usw. Ein Mensch, der jung und idealisitisch an der Seite der Außen- seiter der Gesellschaft steht. Auch das findet man bei Obama wieder. Ich grusele mich manchmal sehr vor diesen Marketingstrategien. Vor denen der Kennedys, wie vor denen der Obamas.

Ist es Ihnen aufgrund Ihrer Kenntnisse über die Kennedy-Familie und die Parallelen, die sich zwischen Kennedy und Obama abzeichnen, überhaupt möglich, eine ungebrochene Euphorie für den neuen amerikanischen Präsidenten zu entwickeln?
Nein. Und diese Skepsis habe ich wohl von meinem Vater geerbt. Gerade bei den Amerikanern muss man sich ja immer bewusst sein, dass es sich bei ihnen um „the best showmakers of the world“ handelt. Ein Talent, das vor allem die amerikanischen Politiker immer mehr perfektionieren. Man spürt das hinter dem ganzen Obama-Phänomen. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Bilder der Messe am Morgen von Obamas erstem Arbeitstag als Präsident, mit allen Entscheidungsträgern des Landes. Aufgestellt war ein riesiger Chor, der „He’s got the whole world in his hands“ singt, während der neue Präsident mit seiner Familie die Kirche betritt. Wie ein selbstbewusster Schauspieler inszeniert Obama eine Art göttlichen Auftritt, und alle Welt bekommt – absurderweise – eine Gänse- haut. Diese wirkungsvolle Dramaturgie löst in mir ein tiefes Misstrauen aus.

Kann man denn vor diesem Hintergrund überhaupt noch Vertrauen in politisches Handeln haben? Was ist für Sie Politik, heute im Juli 2009?
Ich kann das nur aus der europäischen Perspektive beschreiben. Hier habe ich die letzten Wahlbeteiligungen als alarmierend empfunden und als einen Beweis, dass das Vertrauen in politisches Handeln gesunken ist. Auch das Vertrauen in die Idee eines vereinten Europa. Bei der Europawahl gingen in Deutschland nur knapp 40 Prozent der Berechtigten zur Wahl und selbst in Belgien, wo es eine Wahlpflicht gibt, blieben 20 Prozent der Menschen zuhause.

Eine Wahlpflicht?
Ja, wer nicht zur Wahl geht, muss eine Strafe zahlen und kann sogar, zumindest theoretisch, verhaftet werden. Aber trotz dieser Wahlpflicht entsteht eine Art kollektiver Ungehorsam. Dieses Phänomen zeigt, dass die Menschen der global ausgerichteten Politik unserer Tage ohnmächtig gegenüber stehen. Ich glaube auch, dass jene, die in Europa zur Zeit extrem rechts wählen, dies nicht aus poli- tischer Überzeugung tun, sondern auf diese Weise ihrer Protesthaltung gegen die etablierten politischen Mächte Ausdruck verleihen. Die Menschen fühlen sich nicht mehr wirklich vertreten. Zu abstrakt erscheinen ihnen die globalen Zusammenhänge. Und das macht es jedem Wähler noch schwerer als jemals zuvor, an so etwas wie wahrhaftiges politisches Handeln zu glauben. Andererseits sieht man dann wieder diese unfassbare Verehrung für Figuren wie Obama. Dort entdeckt man den Märchenprinzen, an den man unbedingt glauben möchte. Mich erstaunt es, wie viele – auch sehr intelligente Menschen – davon überzeugt sind, dass Obama es schaffen könnte, die Ordnung der Welt zu verändern. Damit ist ja, und davon erzählt auch die Kennedy-Geschichte, nicht zu rechnen. Zu viele Abhängigkeiten und Begehrlichkeiten schränken den Handlungsspielraum des Hoffnungsträgers ein. Ich bezweifle sogar, dass Obama überhaupt eine eigene Entscheidungsgewalt besitzt, geschweige denn eine umwälzende politische Idee. Ich habe neulich eine Sendung gesehen, in der ein Journalist die Wahlprogramme von Obama und McCain verglichen hat und zu dem Schluss kam, dass, wenn man die dazugehörigen Bilder der Politiker löschen würde, 16 kaum ein Unterschied erkennbar wäre. Die Programme werden lediglich anders verkauft. Es sind zwei verschiedene Schauspieler, die die großen Bühnen betreten. Kann man noch an demokratisch organisierte Politik glauben? Mit Blick auf die „öffentliche“ Politik muss ich daran sehr zweifeln. Allerdings bin ich mir sicher, dass es im täglichen Handeln, in unseren Familien und Arbeitszusammenhängen Möglichkeiten gibt, ein starkes politisches Bewusstsein zu entwickeln und demokratisch zu agieren. Übrigens auch im Verhältnis zwischen Theatermachern und Publikum. Ich bin davon überzeugt: wenn es den Künstlern gelingt, in ihrem Theater einen bestimmten kritischen Geist zu entwickeln, dann überträgt sich dieses Denken auf das Publikum. Aber dass man auf diesem Wege die Weltpolitik verändern könnte, daran glaube ich nicht. Dafür gibt es zu viele unkontrollierbare Kräfte, die unser Handeln steuern.

Aber hat die Euphorie für Obama nicht auch mit einer perfiden Sehnsucht nach einer verloren gegangenen Schutzmacht zu tun? Hier gibt es doch Parallelen zwischen der Zeit des Kalten Krieges mit dem Hoffnungsträger Kennedy und Barack Obama, der in einer äußerst komplizierten politischen Situation Präsident der USA wird. Wollen wir nicht (zumindest insgeheim), dass diese Macht, die uns schützen soll, wieder ein positives Image erhält? Haben wir Sehnsucht nach dem Mythos einer starken amerikanischen Schutzmacht?
Ja, das glaube ich auch. Die Situation ist durchaus vergleichbar. Nur haben sich die Pole des Kalten Krieges jetzt verlagert und sich zu einem Konflikt zwischen christlichem Kapitalismus und den Machtansprüchen von Teilen der muslimischen Welt zugespitzt. Es gibt dieses Bedürfnis nach einem Übervater, der uns schützt vor dem Unbekannten. Diese Sehnsucht wird über die Medien extrem zugespitzt.

Welche Rolle spielt die mediale Maschinerie in „The truth about THE KENNEDYS“?
Es geht vor allem um die Mediengeschichte. Diese ist präsent durch unsere Projektionen, durch die Fotos und Filme, die eine eigene Geschichte an diesem Abend erzählen. In den drei Teilen der Inszenierung spiegeln wir den Entwick- lungsstand der Medien: Im ersten Teil Schwarz-Weiß-Fotografie, später Farbfotos und erste, unscharfe Filme. Ganz zum Schluss Filmaufnahmen aus dem Internet und bearbeitetes Material. Die Medien sind ja wesentlicher Bestandteil von Geschichtsschreibung. Film und Fernsehen haben ein Bewusstsein für die Parallelität von Ereignissen geschärft, gleichzeitig sind sie, mehr als jemals zuvor, unberechenbare Instrumente zur Meinungsbildung. Bei den Kennedys kann man das sehr gut beobachten. Zuerst manipulieren Joe Sr. und sein Sohn John F. die Medien zu ihrem Vorteil, bestechen Journalisten und kontrollieren auf diese Weise die Berichterstattung über die Familie. Später wendet sich das Blatt. Auf einmal werden die Kennedys von den Medien verfolgt, wie z.B. Jackie, die nach Robert Kennedys Tod sogar aus Amerika flieht, um der Hetzjagd zu entkommen. Oder Ted Kennedy, dem die Berichterstattung über seinen Autounfall und die Trunksucht seiner Frau verunmöglicht, jemals selbst Präsident zu werden.

Sie haben vom „Kennedy-Mythos“ gesprochen. Welche archetypischen Muster erkennen Sie in der Kennedygeschichte?
Vor allem den Archetypus der Familie, die ihre Kinder für den Machterhalt opfert. Und dann: die Hybris. Der Mensch, der sich stärker erachtet als das Leben (bzw. die Natur) und letztendlich gnadenlos vom Leben eingeholt wird. Das alles lässt sich in der Geschichte der Kennedyfamilie auffinden: Der Übervater Joe, dessen Kinder nach und nach in den Tod gehen, sich „opfern“ für „die gute Sache“: zwei Söhne werden ermordet, ein Sohn und eine Tochter stürzen mit dem Flugzeug ab. Dadurch erreichen diese Menschen den archtetypischen Status der Unsterblichkeit. Sehr oft muss ich an die „Orestie“ denken: das Opfer des eigenen Kindes, die endlosen Kriege, die Rückkehr in ein zersplittertes Land. Die Familie ist zerstört, und die Demokratie muss ganz neu erfunden werden. Da sehe ich sehr starke Parallelen.

Vielleicht auch der Aspekt des Schicksals, des Verhängnisses. In der „Orestie“ muss eine Schuld durch eine andere gesühnt werden. Ähnlich ist es bei den Kennedys. Immer wieder scheint es, als rächten die Schicksalsschläge bestimmte Vergehen innerhalb der Familie. Zusätzlich gewinnt man den Eindruck, dass es bei den Kennedys eine ausgeprägte Sehnsucht nach dieser Form der Sühne gibt. Wie bei Ted Kennedy, bei dem das Schicksal nicht will, wie es soll, und er verzweifelt damit beginnt, es aktiv herauszufordern.
Ja, auch davon handelt unsere Erzählung über die Kennedys. Wir sind zwar noch nicht am Ende der Proben, aber ich mag unsere Idee, dass die Geschichte der Kennedys von einem Botenchor erzählt wird. Alle Schauspieler sind Boten, die über die große Katastrophe berichten. Das verbindet unsere Arbeit mit dem klassischen Theater des Erzählens. Die Kennedy-Geschichte ist eine Erzählung über die unstillbare Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Gleichzeitig werden in dieser Geschichte Menschen sichtbar, die total angreifbar sind, von Krankheiten gepeinigt, ständig in Angst und unter Drogeneinfluss. Das alles zeigt, dass der mit Macht ausgestattete Mensch gar nicht in der Lage ist, so viel Glanz zu tragen, 18 wie er gerne möchte. Ich denke zum Beispiel oft: Diese Sexsucht, von der die Männer des Kennedy-Clans befallen sind – ist die nicht auch irgendwie nach- vollziehbar? Wenn man niemals in der Lage ist, ein normales Privat- oder Intimleben zu haben, weil man unter ständiger Beobachtung steht, erzeugt das nicht eine Perzeption von Welt, die mit einer Sucht nach Überkompensation des Fehlenden einhergeht? Vollkommen neurotisch fangen diese Leute an, Drogen zu benutzen oder zu wichsen wie Affen im Käfig, weil sie im Grunde ein äußerst unfreies Leben führen. Was von Außen wie eine Welt aussieht, in der man tun und lassen kann, was man will, ist ja in Wirklichkeit ein von Geheimdiensten und den Medien kontrolliertes Gefängnis. Bei den Kennedys setzt diese Kontrolle sogar schon innerhalb der Familie ein: Zunächst überwacht die Mutter, Rose Kennedy, jeden Schritt ihrer Kinder. Später kontrolliert Joe die politischen Karrieren von John, Robert und Ted. Ein einziger innerfamiliärer Überwachungsapparat.

In Ihrer Inszenierung sprechen die Boten. Sind diese Boten neutrale Chronisten? Oder Figuren, die doch von einer subjektiven Faszination für die Menschen, über die sie berichten, erfasst sind?
Ich muss bei unseren Figuren immer an eine Gruppe von Menschen denken, die sich zusammenfindet, wenn große Katastrophen stattgefunden haben. Wie damals, als über Amsterdam eine Boeing abgestürzt ist. Der Schock reichte bis zu uns nach Antwerpen. Jedem wurde auf einmal bewusst: das kann jederzeit hier auch passieren, vor unser Haustür. Wenn etwas passiert, was die Welt schockt, ist man immer umgeben von unzähligen Menschen, die aus lauter verschiedenen Quellen etwas über das Unglück gelesen oder gehört haben und ihr vermeintliches Wissen und ihre Vermutungen weitergeben. Unsere Figuren sind also nicht unbedingt Spezialisten. Zwar sind einige unserer Textquellen durchaus wissenschaftlicher Natur, und doch sprechen unsere Figuren vor allem in Hypothesen. Es gibt ja kaum Fakten, die von der Kennedy-Familie selbst freigegeben wurden. In den meisten Fällen handelt es sich um Informationen aus zweiter und dritter Hand. Nach dem Boeing-Absturz über Amsterdam habe ich ein interessantes Buch von dem holländischen Philosophen Jos De Mul gelesen. Er sagte, jetzt sei die Zeit gekommen, in der wieder griechische Tragödien aufgeführt werden müssten. Weil angesichts des Scheiterns moderner Technologie ein Bewusstsein dafür entstanden sei, dass die Natur nach ihren eigenen, unkontrollierbaren Gesetzen agiert. In solchen Momenten entsteht eine fast vergessene Form der Demut. Wie in der griechischen Tragödie, die ja immer den Menschen zeigt, mit einem Zuviel an Hybris, der einen Prozess durchschreiten muss, um am Ende zu erkennen, dass er nur Teil einer übermächtigen Natur ist und in Demut vor dieser Gewalt leben sollte. So ist es auch in der Kennedygeschichte. Die Leute, die davon erzählen, sind alle fasziniert von der Frage, wie in einer einzigen Familie das Schicksal derart zuschlagen kann. Ist es die Familie selber, die diese Schicksalsschläge provoziert? Die Hybris, die Joe, John, Robert usw. so weit vorantreibt, dass sie abstürzen müssen? Oder ist es die natürliche Gewalt, die über das Schicksal der Familienmitglieder entscheidet? „The Truth about THE KENNEDYS“ ist nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit den Fragen: Wie groß ist der Mensch? Wie groß ist die Natur?

Die berühmteste Figur der Kennedy-Familie, John F., ist an unserem Abend mehr oder weniger abwesend. Viel wird über ihn erzählt, aber keiner der Schauspieler unternimmt den Versuch, sich mit ihm zu identifizieren. Vielmehr vermissen sie das Familienmitglied auf der Bühne. Irgendwann verwandelt sich dann Joe Sr., Jacks Vater, auf eigenartige Weise in seinen Sohn. Wie nah treten in „The truth about THE KENNEDYS“ die Schauspieler an die Figuren heran, über die sie berichten?
Bei der heutigen Probe zum Beispiel habe ich wieder einmal bemerkt, dass es, obwohl wir über Projektionen authentische Bilder der Familienmitglieder wie aus einem Photoalbum einblenden, immer wieder einzelnen Schauspielern gelingt, die Figur, über die sie berichten, tatsächlich zu sein. Ohne, dass „ich“ gesagt wird. Und immer nur für kurze Momente. Das ist ein verrückter Vorgang. Man hat zum Beispiel faktisch den Schauspieler André Szymanski vor sich auf der Bühne, aber dieser Schauspieler hat sich so umfassend mit Robert Kennedy befasst, dass diese Auseinandersetzung in ihm ein authentisches Gefühl von Ernsthaftigkeit (und auch Humorlosigkeit) erzeugt hat, das viel mit der historischen Figur zu tun zu haben scheint. Man sieht auf der Leinwand das echte Bild von Robert Kennedy, aber durch die Art und Weise, wie André über Robert erzählt und sich auf der Bühne behauptet, glaube ich nach einer Weile: Er ist Robert Kennedy und das Foto im Hintergrund eine eigenartige Fälschung. Ich kann nicht erklären, woran das liegt. Ich denke, es hat mit einer naiven Sehnsucht zu tun, unbedingt die „Wahrheit“ über diesen Menschen erfahren zu wollen. Ein fast kindlicher Impuls, der diese merkwürdige Übereinstimmung zwischen dem Erzähler und dem Erzählten erzeugt. Ich hab neulich gelesen, dass, wenn wir jemandem beim Reden zuhören, ganz viele Muskeln in unserem Gesicht die Sprechbewegungen des Gegenüber mitmachen, ohne dass wir es wissen. Wir sind ständig dabei, andere zu imitieren. Und erst durch diese Form der Imitation entsteht Emphatie. Jetzt wurde herausgefunden, dass Menschen, die durch Schönheitskorrekturen ihre Gesichtsmuskulatur verändern und einschränken, nicht mehr zu dieser Imitation fähig sind und emotional verkümmern. Bei ihnen ist dann seelisch die Hölle los, weil diese Menschen sich plötzlich als völlig kalt und abgetrennt von der Welt empfinden. Das Imitieren ist ja auch das wesentliche Element von Theater: Menschen auf der Bühne, die andere Menschen und Situationen nachspielen und auf diese Weise im Publikum Empathie erzeugen.

Wie würden Sie den Unterschied beschreiben, der entsteht, wenn man kein fertiges Stück inszeniert, sondern eine Montage aus dokumentarischen Botenberichten?
Das kann ich nur so beantworten: Die letzten zwei, drei Jahre habe ich mich viel mit Dokumentarfilm beschäftigt und einige eigene Filme gedreht. Gestern zum Beispiel habe ich meinen Film für die Kulturhauptstadt Linz fertig geschnitten. Ein Film, in dem es um die Nazi-Vergangenheit dieser Stadt geht. Und wieder ist mir aufgefallen, wie sehr ich von einer sehr einfachen Tatsache berührt werde: Dort sind die Hauptfiguren echte Menschen, die einfach erzählen. Über ihre Stadt, den Krieg und darüber, was sie gesehen haben, oder nicht gesehen haben, was sie erfahren haben und was sie angeblich nicht wussten. Mit der Kamera einfach diese Menschen zu beobachten, wie sie erzählen, lügen, vielleicht zögern, die Vergangenheit verdichten, ausblenden. Dieser Prozess des Beobachtens ist für mich von großer Faszination. Dazu kommt, dass ich schon seit einiger Zeit nicht mehr so richtig an das illusionistische Theater glaube. Mich interessiert ein Theater, dass innere Bilder beim Zuschauer provoziert, eine Art von Kopfkino. Das ist natürlich keine Neuerfindung, ganz im Gegenteil, viel eher handelt es sich hierbei um die Urform mündlichen Erzählens, lange bevor Theater, Film oder Fernsehen erfunden wurden. Ein Mensch gibt Gehörtes und Überliefertes an einen anderen weiter. In unserem Fall der Schauspieler an den Schauspieler, bzw. der Schauspieler an das Publikum. Und so stellt sich auf der Probe immer wieder die Frage, wie sehr ist derjenige, der erzählt, verbunden, mit dem, was er erzählt. Damit ist nicht gemeint: wie gut kennt der Schauspieler seinen Text, sondern: wie sehr ist der Schauspieler durchdrungen von dem, was er erzählt. Eigentlich müsste man eine Woche vor der Premiere sagen können: „Ok, vergesst unsere Fassung, ihr wisst alles, erzählt einfach drauflos und ergänzt einander.“ Natürlich würde die totale Panik ausbrechen, aber es wäre kein schlechtes Experiment. Denn ich wünsche mir eine Gruppe von Menschen, die so besessen ist von ihrem Thema, dass die Einzelnen nicht mehr aufhören können, einander zu ergänzen und zu übertrumpfen. Bezogen auf unseren Abend hieße das: nicht nur besessen sein von der Geschichte der Kennedys, sondern besessen davon, dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen. Auf der Suche nach einer Antwort, die es nicht gibt, die in der Anhäufung aller Geschichten immer dringlicher und gleichzeitig immer unwahrscheinlicher wird. Und deshalb mag ich unseren Titel, „The truth about THE KENNEDYS“ – denn es gibt keine Wahrheit.

Aus welchen Gründen haben Sie sich dafür entschieden, mit der Kennedy- Story das Thalia Theater zu eröffnen? Warum die Kennedy-Geschichte in Hamburg? Sie haben mal beschrieben, dass Hamburg auch eine Stadt der Familien-Clans ist, der traditionellen Familienunternehmen. Außerdem eine Hafenstadt, in der das Aus- und Einwanderungsthema zur Geschichte gehört.
Das stimmt. Aber die Eröffnungspremiere sollte vor allem etwas sein, das den Geist des neuen Ensembles ausdrückt, ein Statement für die innere Haltung unseres Hauses. Am Thalia Theater arbeitet jetzt eine Gruppe von Schauspielern, Regisseuren und Künstlern zusammen, die sich immer schon intensiv mit Projekten und zeitgenössischen Interpretationen von Stücken bzw. Stoffen auseinander gesetzt haben und dieses Interesse jetzt, in neuen Konstellationen, weiterverfolgen möchten. Insofern ist das Kennedy-Projekt vielleicht Ausdruck vergleichbarer künstlerischer Biographien und gleichzeitig Ausblick auf Zukünftiges. Wenn ich auf meine eigene Biographie schaue, dann habe ich Hamburg mit „Schlachten“ ja eine sehr epische Erfahrung zu verdanken. Natürlich werde ich jetzt oft gefragt, ob „Schlachten“ wieder gezeigt wird, oder ob wir eine Art Fortsetzung planen. Beides möchte ich auf keinen Fall. Aber es war mein Wunsch, mit einem Stoff zu eröffnen, der über eine vergleichbare epische und politische Dimension verfügt. Etwas, auf das die ganze Stadt Lust bekommt, weil das Thema in jedem Einzelnen Erinnerungen weckt. Und eine große Neugier auf unsere Version der Wahrheit über die Kennedys.

Das Gespräch führten Marion Tiedtke, Karolin Trachte und Malte Ubenauf während der Proben im Juli 2009.



Luk Perceval
Marion Tiedtke
Malte Ubenauf