Stichwort „Kennedy“

Einblick in einen Arbeitsprozess Von Marion Tiedtke

Begonnen hat alles im Mai 2007. Ich fragte Luk Perceval am historischen Ort Berlin, ob er nicht Lust habe, für einen künstlerischen Workshop an die Frank- furter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst zu kommen, genauer gesagt, im Ausbildungsbereich Schauspiel und Regie zu arbeiten. Die Unterrichtstätigkeit lässt sich für einen Theaterpraktiker entweder als Vermittlung seines künstleri- schen Wissens verstehen oder aber als Forschung an einem neuen theatralen Stoff. Letzteres hat Luk Perceval sofort interessiert. Angestachelt von seiner Lektüre des Buches „Sins of the Father“ von Ronald Kessler verwies er auf das komplexe Thema der Kennedys, deren Geschichte nicht nur unmittelbar das Welt- geschehen unserer Nachkriegsjahre bestimmt hatte, sondern sich vor allem durch politische Ränkespiele und tragische Schicksale auszeichnete. Da die Geschichte der Kennedys mit der Einreise des irischen Urgroßvaters von JFK nach Amerika beginnt, hieß dies, einen Stoff von ungefähr 150 Jahren aufzuarbeiten, dramatisch in eine Form zu bringen und szenisch umzusetzen. Das konnte lange dauern und sah nach viel Arbeit aus. So wollten wir ein Drei-Jahres-Projekt starten: zunächst einmal die Recherche von Literatur, Film, Video- und Tonmaterial gemeinsam mit den Studierenden des ersten Ausbildungsjahres beginnen, dann im zweiten Jahr den Versuch einer Dramatisierung und szenischen Umsetzung des Materials starten, um schließlich im dritten Jahr an einer Kennedy-Inszenierung zu arbeiten. Im Februar 2008 haben wir begonnen: jeder Student musste mindestens 150 Seiten der umfangreichen Literatur lesen und vorstellen. Damit war ein Grundstein gelegt. Sofort verwandelte sich das Wissen der Studierenden von den Magazinabbildungen Jackies auf irgendwelchen Illustrierten ihrer Großmütter in eine spannende Politstory, die von Geld, Macht, Sex und Gewalt erzählte. Doch es war eben keine Story, sondern Historie unserer unmittelbaren Vergangenheit, von der wir alle mehr oder weniger direkt betroffen schienen, und sei es nur durch die Erinnerung der Bilder vom politischen Aufbruch und den Idealen einer zukünftig besseren Welt, die JFK verkörperte.

Wir gaben uns mit der ersten Recherche nicht zufrieden. Es wurden Filme geschaut, Videos aus Youtube runtergeladen und, und ...dann? Die Recherche konnte endlos weitergehen, wenn wir uns nur die Archive in Deutschland und in den USA vor Augen führten, in denen unendliches Material schlummerte. Es musste eine Setzung her, die das Seminar vom Historienthema weg zur ersten theatralen Behauptung führte. Sie war schnell gefunden. Als Ausbildungsdirektorin des Schauspiels hatte ich mit meinen Kollegen zufällig neun Studierende für das erste Ausbildungsjahr aufgenommen, und dies entsprach schicksalhafter Weise der Geschwisterkonstellation von JFK: Vier junge Männer, fünf junge Frauen. Jeder Studierende bekam eine Geschwisterfigur zugewiesen, mit der er sich intensiv beschäftigen musste, denn vielleicht sollte er sie tatsächlich einmal darstellen. Die drei Regiestudierenden waren Springer in der Recherche mit der 51 Aussicht, an der Entwicklung der Dramatisierung und szenischen Umsetzung mitzuwirken. Das stachelte ihren Ehrgeiz an. Sie holten sich Unterstützung aus dem Ausbildungsbereich Dramaturgie an der Goethe-Universität unter der Lei- tung von Hans-Thies Lehmann. Nach einem Monat stellten wir unsere erste Recherche vor. Luk Perceval war begeistert vom Material, ließ sich tagelang unsere Geschichten erzählen. Eine zweite Rechercherunde fand im Juni 2008 statt, die Perceval so beflügelte, dass er mich einige Tage später anrief, um zu fragen, ob wir nicht eine gemeinsame Koproduktion verabreden könnten: Er wollte unbedingt mit der Kennedy-Geschichte das Thalia Theater eröffnen. Diese Idee ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Doch hatten wir wirklich genug recherchiert, um es wagen zu können, jetzt schon an die Dramatisierung und szenische Umsetzung zu gehen? Wir luden einen Amerika- und Kennedyspezialisten in unser Seminar – gespannt darauf, zu erfahren, welche Lücken wir noch zu bearbeiten hatten. Um so überraschen- der war für uns die Tatsache, dass wir nach seinem Vortrag beruhigt sein konnten: wir hatten nichts vergessen. Jetzt hieß es, das Material zu bearbeiten. Dazu gab Luk Perceval den drei Regiestudierenden die Aufgabe, die Geschichte zunächst in einer Timeline als Montage aus Bild, Video und Textmaterial zu systematisieren. Diese Timeline war eine Zeitmaschine, die uns zugleich die Mediengeschichte vom dokumentarischen Schwarz-Weiß-Bild, über die ersten Hollywood-Filme zum Farbfoto bis hin zum inszenierten Fernsehauftritt vor Augen führte. Die Bilder wurden mehr und mehr Mittel politischer Manipulation. Können wir an ihren dokumentarischen Gehalt überhaupt noch glauben?

Nach dieser Arbeitsphase sollte jeder Regiestudierende für einen Teil verantwortlich sein. Die Teile bestimmten sich aus der Chronologie der Geschich- te: im Namen des Vaters – also von der Einreise des Großvaters bis zur Ernennung von JFK zum Präsidenten der Vereinigten Staaten; im Namen des Sohnes – von der Zeit der Präsidentenschaft JFKs bis zum Attentat auf den Bruder Bobby; im Namen des Heiligen Geistes – die Zeit nach Bobbys Tod bis zur Präsidentschaftswahl von Obama. Durch die Aufbereitung des umfangreichen Materials wurde die Ge- schichte immer unschärfer: Wer steckte wirklich hinter diesen inszenierten Bildern? Gibt es überhaupt einen wahren Kern der Geschichte? Kann man noch an Politik glauben oder ist sie nur ein gigantischer Manipulationsapparat einer Oberschicht, die es sich leisten kann, zu bestimmen, wer das Sagen hat?

Die drei Regiestudierenden trugen jetzt ihr ganz persönliches Interesse in den Stoff hinein und entwickelten mit den Schauspiel- und Dramaturgiestudierenden eine kleine Aufführung im Februar 2009 am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm. Der erste Teil war der Versuch eines Storytellings: wie kann man eine Geschichte erzählen, wenn sich ihr Wahrheitsgehalt mehr und mehr entzieht? Was ist Wahrheit und was Fiktion? Im zweiten Teil stellte sich die 52 Frage, ob nicht JFK mit seinem Mondlandungsprojekt als Metapher für seine politische Karriere den Mythos von Ikarus wiederholt – also von dem Helden der griechischen Mythologie, der an sich selber scheitert, weil im anmaßenden Flug zur Sonne ihm die Flügel schmelzen. Der dritte Teil zeigte Ted Kennedy als jüngsten der Geschwister in einem inneren Kampf zwischen versuchter Verdrängung und zermürbendem Gewissen nach seinem verschuldeten Autounfall, der seiner Begleiterin das Leben kostete. Neben ihm kämpfte Jackie, die von Ted bewundert wurde, gegen das übermächtige Auge der Öffentlichkeit. Gearbeitet wurde mit im- provisierten Texten, wörtlichen Zitaten der Kennedy-Familie und viel Videomaterial.

Die szenischen Versuche haben Luk Perceval inspiriert, sich noch einmal neu auf die Suche nach der Wahrheit des Kennedymythos zu begeben – eine Wahrheit, die um so weniger auffindbar erscheint, je mehr man sich ihr zu nähern versucht. In ihrer Suche liegen auch die Wurzeln des menschlichen Schicksals begraben: die Gründe der Kennedymorde, des Selbstmords der Monroe und der vielen tragischen Unfällen im Kennedy-Clan. Luk Perceval wollte für das Thalia Theater eine eigene Textfassung, die der Chronologie der drei Teile in Namen des Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes entspricht. Malte Ubenauf und ich begannen, für die neun Figuren (nicht mehr die neun Geschwister!) Texte zu liefern, zu bearbeiten, neu zu übersetzen, während Luk Perceval sie dramatisch verschnitt und seinen Schauspielern zuordnete. Dabei blieb JFK bewusst ausgespart – die Medienfigur, die noch am meisten in unseren Köpfen steckt. Die Arbeit am Text dauerte zehn Wochen und war zu Probenbeginn ein nicht abgeschlossener Prozess.

Kennedy – das ist und bleibt eben eine endlose Geschichte über die Möglichkeit oder/und Unmöglichkeit von Politik, über das ewige Thema der Geschlechterrollen in der Gesellschaft, über die Inszenierung des eigenen Lebens als vermeintliche Erfolgsstory. Aber viel wichtiger: es ist eine zutiefst menschliche und anrührende Geschichte über die Suche nach dem eigenen Glück.



Marion Tiedtke