Dem Stück den Hass zurückgeben
Benjamin von Blomberg: In einem unserer früheren Interviews haben Sie mir einmal beschrieben, dass Ihre Arbeitsweise darin besteht, Elemente einer Inszenierung wie Schauspieler, Text, Raum, Musik usf. kalkuliert in Unordnung zu versetzen, bevor Sie zu proben beginnen. Wie produktive Fragezeichen begleiten sie Sie dann während der Arbeit. Am Ende dann, so hoffen wir, erscheint die Inszenierung, als habe sie anders nicht aussehen können, als habe das eine durch das andere seine tiefere Bedeutung erst erhalten. Wie dicht liegen da Kreativität treibende und hemmende Überforderung beieinander? Bzw.: Grenzt Lessings „Nathan“, Jelineks „Abraumhalde“ und Ihrer Kunst gerecht werden zu wollen, nicht an Wahnsinn?
Nicolas Stemann: Ja, da haben wir diesmal wirklich ganz schön viele Bälle im Spiel. Obwohl ich meinen Anspruch an meine Inszenierungen seit „Iphigenie“ oder „Die Räuber“ ja tatsächlich eher übersichtlich formuliere: ich möchte erst mal nur den Text herstellen, nichts weiter. Ich möchte ihn zum Klingen bringen, d.h.: ich möchte ihn hörbar, erfahrbar machen, in seiner Fremdheit, seiner spezifischen Künstlichkeit. Und das hat zunächst erst einmal gar nichts mit Inhalt, Interpretation oder Aktualisierung zu tun, all dem also, was man gemeinhin dem Regietheater zuschreibt oder von einem Regisseur erwartet – Überlegungen wie: das und jenes, das könnte man vielleicht mit diesem Stück noch erzählen. Nein! Das Stück soll erst einmal sich selbst erzählen können. Nicht mehr, nicht weniger! Gebt den Texten die Verantwortung für sich selbst zurück! Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was mit „Regietheater“ bezeichnet wird (wenngleich auch anders, als neu-biedermeierliche „Regietheater“-Kritiker wie Kehlmann oder Matussek es sich mit ihrem beschränkten Kunstverständnis vorzustellen vermögen). Das zu ermöglichen hat wiederum mit einer Formsuche zu tun: welche Erzählweise finden wir, die den Text sichtbar und uns nicht unsichtbar werden lässt. Wir wollen nicht hinter dem Text verschwinden, wir wollen den Blick auf ihn aber auch nicht verstellen durch Pseudo-Aktualisierungen wie etwa: der Tempelherr ist ein Selbstmordattentäter und Nathan die UNO. Ziel ist es, den Text den Text sein zu lassen, eine Form für dessen Umsetzung zu finden, die mit uns und unserer Lesart des Textes zu tun hat. Das ist viel mehr als bloße Interpretation oder Aktualisierung. Zur kalkulierten Unordnung: Ich finde beim Erarbeiten einer Inszenierung vor allem dann ins Spiel, wenn es aussichtslos erscheint, überhaupt hinein zu kommen – also wenn nichts zueinander zu passen scheint. Dafür hätte in diesem Fall die Ansage: „mach doch mal „Nathan der Weise“, da fällt dir schon was zu ein“ allerdings schon ausgereicht. Die Ansage aber war: Mach mal Lessings „Nathan der Weise“ und Jelineks „Abraumhalde“, und bitte so, dass das eine das andere erhellt und jedes für sich besteht. Ja, das grenzt an Wahnsinn, danke der Nachfrage.
Ein großes Fragezeichen war auch die Besetzung. Das hing aber nicht einfach nur mit der theateralltagsgewöhnlichen Brisanz zusammen, wer spielt was, sondern fundamentaler mit der Frage: wo überhaupt liegt die Daseinsberechtigung der Schauspieler, besser vielleicht der Menschen, Körper in einer „Nathan“-Inszenierung.
Das hatte ja eher was mit konzeptuellen Erwägungen zu tun. Ich muss sagen, dass mir der Lessingsche Katharsis-Begriff von vornherein fremd war. Wenn ich ihn richtig deute, dann sagt Lessing doch: Ich möchte in der Kunst, im Theater die Welt zeigen, wie sie meiner Meinung nach sein sollte, weil ich denke, dass sie dadurch besser wird. Das ist doch der komplette Wahnsinn! Damit steht er nun wirklich ganz alleine da. Egal ob (der vom großen Lessing als untragisch abgekanzelte) Shakespeare oder Schiller oder selbst Brecht: Bei allen geht es darum, die Welt zu zeigen, so wie sie ist, in all ihrer Schlechtigkeit und Brutalität – und schlimmer! In der Hoffnung, dass sie, die Welt außerhalb der Kunst, dadurch eine Chance hat, vielleicht ein bisschen besser zu werden! Das ist doch das Wesen der Tragödie. Lessing aber ordnet die Kunst der Moral unter. Bei ihm bleibt der Hass außerhalb des Stückes und damit in der Welt. Und all das als Preis für eine bürgerliche Mitleids- und Versöhnungsideologie. Das scheint mir nicht nur zutiefst unkünstlerisch, sondern auch zutiefst unmenschlich gedacht zu sein. So gesehen, ist es paradoxerweise vielleicht sogar unmoralisch, „Nathan“ zu spielen, ganz entgegen der Absicht seines Schöpfers. Entsprechend ist die Rezeptionsgeschichte dieses Stücks auch eine seiner Wirkungslosigkeit: schaut man sich an, was seit Entstehen des Stückes alles so in der Welt passiert ist, dann scheint der Appell des Moralisten ungehört verhallt zu sein. Zugegeben: Lessings Pointe – „seid euch nicht zu sicher, ob ihr wirklich Feinde seid, vielleicht seid ihr in Wirklichkeit alle verwandt!“ – ist nicht blöd, als Fabel und Thesentransporter taugt das Stück allemal, auch als Traum von einer besseren Welt, als Utopie. Aber was ist, wenn man genauer hinschaut, der Preis für diese Utopie? Da gibt es ein Liebespaar, er ist ein Christ, sie vermeintlich Jüdin. Anstatt nun – wie der vom großen Lessing wie gesagt abgekanzelte – Theatergott Shakespeare in „Romeo und Julia“ zu erzählen, dass die Kraft der (erotischen!) Liebe mit ihrer Gewalt alle vermeintlichen Grenzen überwinden kann (und sei es auf Kosten des Lebens), will Lessing lieber erzählen, dass es all diese Grenzen in Wirklichkeit gar nicht gibt. Und das schafft er nur, indem er aus der Gewalt der erotischen Liebe eine harmlose zwischen Geschwistern macht. Was sollen die Liebenden denn damit anfangen? Wo bleiben die Körper? Wo bleibt der Mensch? Tatsächlich kann Lessings Versöhnungsideologie, die sich ja auf den Menschen beruft, nur ohne Menschen funktionieren. Jeder wirkliche Mensch würde sofort stören in seinem von ihm selbst zum Zwecke des Rechthabens ausgedachten Stück. Entsprechend gab es beim Proben eine Phase, in der wir den Eindruck hatten, das Stück ließe sich nur herstellen ohne Schauspieler, bzw. ohne sichtbare und verkörpernde Schauspieler. Zum Teil wird das in der Inszenierung sicher noch zu sehen sein.
Aber ist die Utopie als Traum nicht doch ernstzunehmen?
Als Traum bestimmt. Der hat ja sogar eine gewisse Schönheit, auch sprachlich. Natürlich ist es viel besser, verwandt zu sein, als sich die Köpfe einzuschlagen. Letztlich sind wir doch alle Lessings gelehrige Schüler und versuchen, jeden Konflikt in uns selber auszutragen, ihn zu vermitteln, noch ehe er zum Feuer werden kann. Daher vielleicht auch mein ungeduldiges Hinterfragen dieses Status Quo. Wie schaffen wir es denn, nicht zum Vergewaltiger, zum Hooligan, zum Selbstmordattentäter zu werden? Was ist der Preis davon? Vielleicht gelingt uns das ja nur, weil wir in der Kunst ein Ventil haben, all das auszuleben? Lessing jedoch verstopft dieses Ventil! Also noch einmal: Natürlich ist sein Traum träumenswert – aber der Mensch scheint in ihm nicht vorgesehen.
Das klingt eher nach einer Art Alptraum.
Das mag jetzt paradox klingen, aber ich glaube, dass es wichtig ist, dem Stück seinen Hass zurückzugeben, um den Traum überhaupt möglich zu machen. In seinem mehr oder weniger strategischen Missverständnis von Aristoteles’ Dramentheorie verweigert Lessing die Reinigung von Affekten wie Hass, Wut, Aggression durch deren künstlerisches Durchleben. Stattdessen fordert er deren Überwindung vermittels der Einsicht und der Vernunft. Was aber heißt das anderes als Verdrängung? Spätestens seit Freud wissen wir, dass Verdrängung nicht zur Überwindung der Affekte führt, sondern zu deren neurotischer Wiederkehr. Entsprechend habe ich den Eindruck, dass die herrschende Atmosphäre in Lessings „Nathan“ nicht Erkenntnis oder Versöhnung ist, sondern Angst. Eine neurotische Angst vor Aggression, Angst vor dem Ausbruch irgendwelcher Konflikte. Die sollen mit Hilfe einer rhetorisch versierten Vernunft hübsch unter dem Deckel gehalten werden. Kein Wunder: liest man das Stück genauer, dann merkt man, dass sich hinter dem onkelhaften Gesprächston schwere Bedrohungen und Traumatisierungen verbergen – der später so einsichtige Tempelherr hat unmittelbar vor Stückbeginn als fanatischer Selbstmordattentäter mit seinen Todesbrigaden einen Waffenstillstand gebrochen und den Krieg neu begonnen, Sultan Saladin wird geschildert als einer, der die Menschen zu „hunderttausenden martert, würgt, ausmergelt“, Nathans gesamte Familie wurde bei einem früheren Pogrom ausgelöscht, wie wir später erfahren. All das wird im Stück nur angedeutet, kommt nur am Rande vor, stattdessen spielt man Schach und führt schmunzelnd-spitzfindige Debatten – eine enorme Verdrängungsleistung. Die dann etwa im scheinbar aufgeklärten, tatsächlich aber lieblosen bis autoritären Umgang Nathans mit seiner Ziehtochter Recha eine perverse Schattenseite findet.
Und hier kommt „Abraumhalde“ ins Spiel.
Jelinek hat ihre „Abraumhalde“ ein Sekundärdrama genannt. Wie Sekundärliteratur, die entsteht, da eine Schöpfung vorausgegangen ist, setzt sich auch Jelineks Sekundärdrama in Bezug: ohne Nathan nicht seine Abraumhalde. In „Abraumhalde“ kommt all das zur Sprache, was im „Nathan“ verschwiegen wird, verschwiegen werden muss, damit Lessings Versöhnungsideologie aufgeht. „Das Haus das brannte, wir bauen uns ein neues, vielleicht ist ja im Garten noch Platz für einen Keller“ heißt es am Anfang, und in diesen Keller des Hauses Nathan führt uns der Text, quasi auf die Schattenseite der Vernunft. In die Triebstruktur von Religionen, den Machtanspruch einer (väterlichen) Vernunft, die Gott abschafft, um sich selbst an seine Stelle zu setzen. Dem Verwandtschafts-Traum von Lessing hält Jelinek lakonisch die Familien Ödipus und Fritzl entgegen, um das dann wieder mit der Jungfrauenverehrung im Katholizismus und der islamistischen Djihad-Verheißung der 72 Jungfrauen kurzzuschließen. All das, was Lessing fein säuberlich und penibel in eine vermeintliche Ordnung gebracht hat, bringt Jelinek hinter seinem Rücken wieder durch- einander. Das ist natürlich ziemlich lustig. Zumal die Art der Sprache und des Schreibens gegensätzlicher kaum sein könnte. Hier der rationale Vernünftigkeitsapostel Lessing, dort die „Triebtäterin“ (wie sie sich selber nennt) Jelinek, die jede Vernunft und Moral so lange durch die Mühle ihrer Sprachspiele dreht, bis davon nur leere Hüllen übrig bleiben. Aber diese Art von Hinterfragen muss sich die Lessingsche Vernunft schon gefallen lassen. Wer weiß? Vielleicht hat sie in diesem Zusammenhang ja Antworten parat, von denen wir noch gar nichts wussten?
Ich finde die künstlerische Formen- und Erzählvielfalt, allein wenn ich Ihre zwei letzten Arbeiten hier am Thalia Theater und die jetzige betrachte, bemerkenswert.
Bei Schillers „Räubern“ ein chorisches Prinzip, für Jelineks „Kontrakte“ eine weitgehend improvisierte Performance, an der Sie sich selbst beteiligen, jetzt allein schon den Textelementen nach das Zusammenbringen zweier weit entfernter Dichterplaneten – was ist die umfassende Arbeit hinter der Arbeit?
Es geht immer darum, den Text auf einer Bühne zum Klingen zu bringen. Darum, hierfür eine Form zu finden, die dem jeweiligen Text entspricht und auf eine sinnliche Art mit uns und den Zuschauern kommuniziert. Hierfür spielt Musik eine wichtige Rolle – ich möchte dramatische Texte behandeln, als wären sie musikalische Partituren, möchte mit Sprache musizieren. Die Unterschiedlichkeit der literarischen Vorlagen führt zur Unterschiedlichkeit der jeweiligen Setzungen. Mir ist selbst schon schwindlig von diesen immer wieder überraschenden Schritten, die wir da machen. Aber das entsteht tatsächlich ohne vorherigen Vorsatz, nur durch die Arbeit am und mit dem Text. Ach ja, und noch etwas anderes treibt mich um: Ich suche nach einem Theater, in dem die Herstellung eines literarischen Textes auf einer Bühne und die Entfesselung einer theatralischen Energie einander gleichberechtigt gegenüber stehen (oder manchmal auch nebeneinander herlaufen), ohne dass das eine dem anderen untergeordnet wird, ohne dass das eine das andere verhindert, eindämmt oder unmöglich macht. Es geht um eine Theaterform, in der das Theater nicht den Text und der Text nicht das Theater beschädigt.