Ein Theater jenseits der Angst

Nicolas Stemann im Gespräch mit Benjamin von Blomberg

Benjamin von Blomberg: Ihre wievielte Jelinek-Inszenierung ist das jetzt?
Nicolas Stemann: Oh je, schon die fünfte!

Jelinek und kein Ende?
Ich habe eigentlich bisher während jeder Probenzeit für ein Jelinek-Stück gedacht und gesagt, das ist jetzt das letzte Mal, dass ich ein Stück von ihr inszeniere. Analog dazu hat Jelinek jeweils erklärt, sie würde in Zukunft nicht mehr für das Theater schreiben. Das geht nun schon seit fünf Stücken und sechs Jahren so. Offensichtlich hatten wir beide Unrecht. Deshalb bin ich besser vorsichtig mit Erklärungen.

Nie Angst gehabt, keine Einfälle mehr zu haben? Dass das Bodenlose an ihren Texten bodenlos macht?
Es ist immer wieder eine ganz besondere Herausforderung. Jedes Mal aufs Neue stehe ich vor diesen Textbrocken und kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wie ich es die anderen Male geschafft habe. Es gibt also keine Routine oder so etwas. Die gibt es aber eh nicht – oder besser: ich versuche, sie zu vermeiden. Deshalb bemühe ich mich auch, nicht zu viel zu inszenieren. Ich möchte mich nicht wiederholen und nicht am Fließband liefern. Ich will, dass meine Arbeit mich selbst noch überrascht. Das ist mir bisher bei Jelinek-Texten interessanterweise immer gelungen. Ich habe zwar manchmal den Eindruck, damit alles schon gemacht zu haben – aber das stimmt nicht. Das Überbordende, Maßlose der Texte, diese Unverschämtheit von hundert nervigen, redundanten aber unglaublich brillanten und genau gearbeiteten Seiten Fließtext ist etwas, was noch nach ganz anderen Lösungen schreit. Es ist eigentlich unmöglich, diese Texte im Theater zu inszenieren. Und die Aggression oder Eleganz oder Geschicklichkeit, mit der man auf diese Unmöglichkeit reagiert, setzen eine große kreative Energie frei. Das bringt mich, was mein Theaterverständnis und meine Theatermittel angeht, noch immer weiter.

Mit der Finanzkrise hat Elfriede Jelinek ihr neues Thema gefunden – kein gerade unheikles.
Es gibt tatsächlich kaum Versuche, diese furchtbar abstrakte Finanzwirtschaft in Form eines Theaterstückes abzubilden. Selbst die wenigen Ausnahmen, wie z.B. Brechts »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« schaffen das nur über eine Vermenschlichung qua handelnder Figuren und Geschichten. Bei Jelinek allerdings geht es um Geld an sich – was ist Geld eigentlich: Im Grunde ja vor allem ein Glaubenssystem. Und sobald die Menschen den Glauben verlieren, bleibt es nur noch bedrucktes Papier, bzw. noch weniger: eine wandernde Ladung auf Chips. Die Frage ist nun, ob die Finanzkrise tragödienfähig ist. Einen emotionalen Zugang zu finden, ist – aller medialer Aufregung zum Trotz – erst einmal schwer. Es ist doch wie eine Tsunami-Warnung: man guckt aufs Meer, aber das ist noch ruhig. Deshalb hat das Stück die Form einer Komödie – endet aber mit dem Fall des österreichischen „Hackenmörders“, dem Fall eines Vaters, der sein Geld verspekulierte und danach seine Familie mit der Axt erschlug. Die Tragödie liegt schließlich darin, dass wir erst in dem Moment, in dem das Geld alle ist, bemerken, dass es inzwischen alles ist. Peter Sloterdijk hat darauf hingewiesen, dass die zehn Gebote durch das profitorientierte Denken in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Lautet das Mantra „Ich bin dein Geld, dein Gott“, gilt auch: Du sollst begehren deines nächsten Geld, du sollst stehlen, du sollst lügen und wenn nötig auch töten. Und ist der Geldwert an die Stelle aller anderen Werte getreten, hat man eben ein großes Problem, sobald das Geld alle ist.

Haltlos wie Jelinek die Heilsversprechen des freien Marktes zeichnet, so halt- und grundlos ist der Jargon ihrer Prediger und Jünger. Man könnte sagen, dass Jelinek das Sprechen und darüber das System selbst in die Krise treibt. Sie attackiert das Nicht-Verantwortlich-Gewesen-Sein-Wollen eines Chores der Greise ebenso wie die klagende Litanei der Geprellten, die sich nun das Sofa nicht mehr leisten können – letztlich ist das alles ein- und dasselbe.
Wir wurden die letzten zwanzig Jahre einer permanenten neoliberalen Gehirnwäsche ausgesetzt und können außerhalb dieses Jargons nichts mehr denken. Jelineks Sprache und vielleicht ja auch die Inszenierung könnten da wie eine Art Deprogrammierung wirken, wie ein künstlerisches Mantra gegen die Gehirnwäsche.

Was hieß das konkret für die Arbeit an »Die Kontrakte des Kaufmanns«?
Jelinek und ich haben kürzlich eine schnelle theatrale Eingreiftruppe gegründet. Erstes Versuchsfeld hierfür war die sogenannte „Ur-Lesung“ dieses Stückes, die wir im März 2009 am Wiener Akademietheater abgehalten haben. Eine fast fünfstündige Mischung aus Performance, Konzert, Lesung, Improvisation mit nicht mehr als zwei Stunden Proben- bzw. Vorbereitungszeit, in deren Rahmen wir das komplette Stück ohne Striche gelesen haben. Es war eine freifließende, ziemlich assoziationsgewittrige, vielleicht sogar „dionysische“ Veranstaltung, die dieser Art von Reinigung durch Überreizung, die ich meine und suche, schon sehr nahe kam.

Wie hat sich der Charakter des schnellen Eingreifens fortgesetzt, bzw. wie ließ er sich aufrechterhalten?
Jelinek hat ihr Stück ja vor der Finanzkrise geschrieben. Konkret bezog sie sich auf die österreichischen Skandale der Gewerkschaftsbank BAWAG, die Milliarden Arbeitergehälter verspekulierte und der Meinl-Bank – beides Fälle von Untreue und Bilanzfälschung. Dann kam die Finanzkrise und aus dem Text ist über Nacht ein global aktuelles Stück geworden, das konkrete Zitate der österreichischen Skandale benutzt. Julius Meinl, der kürzlich erst verhaftet worden ist, hat inzwischen 100 Millionen Euro gezahlt, um wieder auf freien Fuß zu kommen und die Sorge der Fluchtgefahr wegen einer laufenden Anklage gegen ihn zu zerstreuen. Er gehört damit zu den wenigen Bankern, die man bisher zur Rechenschaft zieht. Mittlerweile hat Jelinek an ihrem Text aber auch noch weiter geschrieben, so wie sich die Realität, zumal die Geschichte der Wirtschaftskrise ja immer zu weiter fortschreibt. Den endgültigen Text haben wir erst wenige Tage vor der Kölner Premiere erhalten – und auch jetzt vor der Hamburger Uraufführung ist wieder ein Text hinzugekommen: „Aber sicher!“ hat Jelinek ihn überschrieben. Wir müssen also abermals sofort reagieren. Jelinek reagiert mit Sprache, wir reagieren mit Theater. Die Zuschauer werden entsprechend dieser Idee keine in sich geschlossene, fertige Inszenierung sehen – das Ganze ist eher eine Text-Werk- statt, in der auch aus dem Augenblick heraus immer wieder neu, immer wieder anders gearbeitet wird. Die Zuschauer sind dazu eingeladen, dabei zuzuschauen, wie wir uns auf einer Bühne und im Rahmen einer bestimmten künstlerischen Setzung an diesem Text abarbeiten. Das passiert ohne allzu viele Sicherheitsnetze.

Was beinhaltete das für die Proben?
Anders als bei normalen Proben haben wir diesmal die Probenzeit nicht dazu genutzt, Verabredungen zu fixieren, sondern eher, Werkzeuge zu produzieren, mit denen wir am Abend dem Text begegnen. Es ist ein bisschen wie ein Fußballspiel: Es gab eine Trainingsphase, wir haben Standard-Situationen probiert und an Taktiken gefeilt – doch das eigentliche Spiel „Text“ gegen „Theater“ findet erst zum Zeitpunkt der Vorstellungen statt – und kann und wird auch in den Abläufen immer wieder variieren. Für mich ist so eine Arbeitsweise ein großes Glück. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass man demnächst noch weiter geht: Dass Jelinek morgens etwas schreibt, was ich dann am Abend probiere, und jede Woche machen wir eine neue Premiere. Wir hätten dann also gewissermaßen eine Sublimationsmaschine, die die Herausforderungen des Tagesgeschehens aufgreift und nahezu in Echtzeit in Kunst verwandeln und damit vielleicht neutralisieren oder zumindest mit den Mitteln der Kunst kenntlich machen kann! Das ist eine Anordnung, die sowohl Jelinek als auch mich sehr reizt. Die Kölner Uraufführung der »Kontrakte des Kaufmanns« ist nach der Wiener Ur-Lesung ein weiterer Schritt in diese Richtung, jetzt hier in Hamburg wird er sich nochmals fortsetzen. Damit unterscheidet sich diese Inszenierung tatsächlich von allen meinen anderen Jelinek-Arbeiten, an deren Ende bei allem Mut und aller Experimentierfreude stets eine wiederholbare und in sich geschlossene Inszenierung stand.

Das klingt nach Mut zur Lücke.
Es gibt ein großes Problem im Theater, und kaum einer redet darüber: das ist die Angst. Theaterleute liefern sich live einem Publikum aus, ständig kann etwas schief gehen, man hat keine absolute Kontrolle, und die Zeiten, da man als Theatermacher per se vom Publikum und der Kritik geliebt wurde, sind auch längst vorbei. Das alles macht natürlich Angst. Man sollte nun denken, dass Menschen, die sich all dem ausliefern, Theaterleute eben, ausgesprochen mutige Leute sind. Das ist aber tatsächlich eher selten der Fall. Die meisten Theaterleute, die ich kenne, egal ob Regisseure, Autoren, Schauspieler oder Bühnenbildner, sind von Angst beherrscht. Das ist verständlich, aber nicht gut! Theater, eigentlich ein Medium, das viel Mut erfordert, wird so zum Medium der Angst. Das ist auf den meisten Ebenen zu spüren und führt dazu, dass alle sich eigentlich tendenziell nicht ausliefern, sondern eher verstecken: Der Regisseur versteckt sich hinter dem Autor und den Schauspielern (schließlich wird er weder körperlich noch sprachlich, sondern im besten Fall nur energetisch sichtbar), der Autor versteckt sich hinter dem Medium (sonst würde er doch Romane schreiben), die Schauspieler verstecken sich hinter dem Regisseur (im Zweifelsfall ist er derjenige, der schuld ist und sie selber nur arme missbrauchte Darsteller), der Bühnenbildner versteckt sich hinter dem Regisseur und allem anderen (sonst wäre er doch Bildender Künstler geworden) – ach ja, und nicht zuletzt haben die Zuschauer Angst, mal wieder nichts zu verstehen, gelangweilt oder mit Obst beworfen zu werden. Das alles ist verständlich, aber es bringt nichts, außer dieser Grundverkrampftheit, die allzu oft im Theater herrscht. Ich sehne mich nach einem Theater, in dem all dies nicht wichtig ist, in dem man sich nicht verstecken kann, in dem es gar keine andere Möglichkeit gibt, als sich auszuliefern: einem Theater jenseits der Angst.

Wie das erreichen?
Wir haben einige Gegenmaßnahmen ergriffen: Erstens haben wir die Dinge nicht bis zum Ende geprobt und so Raum für Unvorhergesehenes und Improvisation gelassen: Es soll gar nicht erst der Anschein davon entstehen, dass es so etwas wie endgültige Sicherheit überhaupt geben kann. Schauspieler werden bei der Premiere zum Teil Texte sagen, die sie nie zuvor in der Hand hatten und sie werden augenblicklich damit umgehen müssen! Das erfordert eine ganz andere Wachheit und Schnelligkeit als das Abarbeiten aller möglichen absichernden Verabredungen. Das ist riskant, aber so ist es eben: Es gibt keine Sicherheit, also muss man die Angst überwinden. Man kann sie sich nämlich in so einer Anordnung gar nicht erst leisten. Falsche Sicherheitsversprechen waren ja auch einer der Gründe, warum Leute diese vollkommen unsicheren „Zertifikate“ (sic!) überhaupt gekauft haben. Und es passt zu den Jelinekschen Texten, die erfahrungsgemäß immer dann am besten zu verstehen sind, wenn der Schauspieler keine große Möglichkeit hat, sie willentlich zu gestalten. Dann wollen wir auch den Zuschauern die Angst davor nehmen, gelang- weilt, gefoltert, oder zu irgendetwas missbraucht zu werden. Das Licht im Zuschauerraum bleibt die meiste Zeit hell und wahrscheinlich, wenn das denn geht, die Türen zum Foyer geöffnet. Die Zuschauer dürfen jederzeit den Saal verlassen, es ist ihre freie Entscheidung, wir sind ihnen nicht böse. Und das Bühnengeschehen wird via Lautsprecher ins Foyer übertragen. Man muss also nicht leiden, wenn man nicht will. Und wir, die Künstler vor und hinter der Bühne werden uns eben auch nicht verstecken können: Ich werde auf der Bühne an der Vorstellung teilnehmen, dort moderieren, agieren, intervenieren und, wer weiß?, auch inszenieren, ebenso die Musiker Thomas Kürstner und Sebastian Vogel sowie die Videokünstlerin Claudia Lehmann, die alle Projektionen ausschließlich live produziert, also ohne jede Einspielung arbeiten wird. Und, soweit ich weiß, neu in der Theatergeschichte: Auch du stehst ja diesmal auf der Bühne und wirst jeden Abend mit auftreten und als singender Engel versuchen, deine Arbeit zu tun, für einen Dramaturgen durchaus ungewöhnlich. Es ist aber sicher das Ehrlichste, was wir tun können. Beim Rest muss uns der Text helfen. Und auch der kann sich übrigens nicht mehr verstecken: Wir werden größtmögliche Transparenz walten lassen, immer zeigen, wo wir im Text gerade sind, wo wir gestrichen oder um- gestellt haben und ansonsten den Text im Original auf der Bühne herstellen.